Über Freiheit
„Wenn wir wirklich frei sein wollen, werden wir bejahen, nicht nur verneinen müssen“ – sagt der US-Historiker Timothy Snyder. Aber was folgt daraus?
„Über Freiheit“ heißt das neue Buch des US-Historikers Timothy Snyder, das im November auf Deutsch im Beck-Verlag erschienen ist. Snyder, Professor an der Yale University, dessen Forschungsschwerpunkte Osteuropäische Geschichte und Holocaustforschung sind, plädiert dafür, Freiheit nicht nur negativ zu definieren. Im Buch heißt es:
„Ein Individuum ist frei, glauben wir, wenn die Regierung aus dem Weg ist. Negative Freiheit ist unser gängiges Verständnis. (…) Aber reicht die Beseitigung von etwas in der Welt aus, um uns frei zu machen? Ist es nicht mindestens genauso wichtig, Dinge hinzuzufügen? Wenn wir wirklich frei sein wollen, werden wir bejahen, nicht nur verneinen müssen.“
Von dieser Sicht aus, so Snyder, geraten auch Freiheit und Sicherheit in einen Gegensatz. Wenn man die Freiheit nur durch äußere Gefahren bedroht sieht, muss man insbesondere auf Sicherheit achten, und paradoxerweise dafür auch Freiheit einschränken.
Des Weiteren macht Snyder diesen halbierten Freiheitsbegriff für die falschen Hoffnungen nach dem Zerfall der Sowjetunion fest, es würde nun durch die freie, kapitalistische Wirtschaft von ganz alleine alles gut. Francis Fukuyama sah gar in einem hegelschen Geschichtsdeterminismus das „Ende der Geschichte“ gekommen, in einer Art Freihandelsdemokratie. Dem war bekanntlich nicht so, weder in den postsowjetischen Ländern noch sonst wo auf der Welt. Im Gegenteil erleben wir eine irritierende Renaissance des Autoritarismus weltweit. Der 2017 verstorbene schwedische Arzt Hans Rosling würde seinen in „Factfulness“ ausgebreiteten Zukunftsoptimismus zumindest in dieser Hinsicht wohl gründlich überdenken müssen.
Snyder trifft mit seinen Beobachtungen einen richtigen Punkt. Ich weiß nicht, wie gut er mit der Freiheitsdiskussion in Deutschland vertraut ist. Letztlich kann man seine These als Paraphrasierung von „Böckenfördes Diktum“ sehen, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Böckenförde verweist – Säkularisierung hin oder her – auf die Bedeutung religiöser Traditionen, ähnlich wie neuerdings der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch „Demokratie braucht Religion“.
Dass „Freiheit von“ nicht reicht und es auch auf „Freiheit zu“ ankommt, und dazu wiederum nicht nur die Abwesenheit äußerer Zwänge, sondern auch die Verfügbarkeit von „sozialem Kapital“, von Werten, von Orientierungen an Menschenfreundlichkeit und Verantwortung, nötig ist, ist ein alter Topos der Freiheitsdebatte.
Das muss nicht unbedingt in religiöse Gefilde führen, aber es führt zur Frage, wer wir sind, was unsere Menschenwürde ausmacht und wie wir leben wollen. Wer arm ist, ist nicht frei. Wer jederzeit seine Wohnung oder seinen Arbeitsplatz verlieren kann, ist nicht frei. Wer nicht weiß, ob er für seine Kinder einen Kita-Platz bekommt oder für pflegebedürftige Angehörige einen Heimplatz, ist nicht frei. Die Freiheitsfrage ist eng mit der sozialen Frage verknüpft.
Lisa Herzog hat vor Jahren einmal ein instruktives Buch „Freiheit gehört nicht nur den Reichen“ geschrieben. Sie erläutert darin, wie das, was die Reichen als ihr individuelles Verdienst ansehen, von gesellschaftlichen Voraussetzungen abhängt, die von allen geschaffen werden. Es gibt eine Flut von guten Büchern, die in eine ähnliche Richtung gehen, von Michael Sandel bis Robert Skidelsky. Leider werden gerade jene, die Anlass hätten, ihren Freiheitsbegriff zu überdenken, solche Bücher nicht lesen.
Einem Begriff von Freiheit als rücksichtslosem Egoismus huldigen nicht zufällig viele Superreiche. Sie sehen sich durch Ansprüche der Gesellschaft an ihre soziale Verantwortung in ihrer „Freiheit“ eingeschränkt und versuchen, dem zu entgehen, und sei es durch die Zerstörung jedweder staatlichen Ordnung. „Kapitalismus ohne Demokratie“ heißt ein Buch von Quinn Slobodian, das solche Strategien der Staatszerstörung beschreibt (das Buch gibt es übrigens neuerdings auch verbilligt im Programm der Bundeszentrale für politische Bildung).
Die aktuelle „Blätter“-Ausgabe schließt dazu passend mit einer Rezension des neuen Buchs „Grazy Rich“ von Julia Friedrichs, die seit langem die geheime Welt der Superreichen mit ihren Recherchen etwas aufzuhellen versucht.
Es sind aber nicht nur die Superreichen, die die negative Freiheit für die ganze Freiheit halten. Diese Denkweise ist weit verbreitet und sie verbreitet sich umso einfacher, je weniger die sprichwörtlichen „kleinen Leute“ im Alltag positive Erfahrungen mit Gestaltungsspielräumen und nur gemeinsam erreichbaren Dingen eines guten Lebens machen. Die negative Freiheit, schreibt Snyder, „verleitet uns zu der Annahme, dass wir unsere Probleme gelöst haben, wenn wir sie privatisiert haben, während wir damit in Wirklichkeit nicht anderes erreichen, als uns voneinander zu trennen.“
Dass, wenn jeder an sich selbst denkt, an jeden gedacht ist, stimmt eben nicht. Das ist keine revolutionär neue Einsicht, aber man kann es in unseren Zeiten nicht oft genug wiederholen. Wie weit der negative Freiheitsbegriff auch hilft, die postsowjetischen Veränderungen in Russland besser zu verstehen und ob man Putin und Trump damit parallelisieren kann, wie Snyder meint, sei dahingestellt. Aber wir werden gewiss nicht freier leben, wenn die Trumps, Putins, Musks und Thiels dieser Welt ungehindert von Menschenrechten, Steuern, Umweltvorschriften und anderen lästigen Einschränkungen ihrer egomanen Freiheit tun und lassen können, was sie wollen.