Wenn Arbeitgeber Gesundheitspolitik machen
Der Arbeitgeberverband BDA will die Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung kürzen, um die Sozialabgaben zu senken. Sind die Vorschläge ökonomische begründet?
Gesundheitsministerin Nina Warken hat eine Liste von Maßnahmen vorgelegt, mit denen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im nächsten Jahr etwa zwei Milliarden Euro eingespart werden sollen. Das ist angesichts eines für 2026 erwarteten Gesamtbudgets der GKV von 369 Milliarden Euro ein lächerlicher Betrag. Außerdem handelt es sich großenteils um Luftbuchungen bei den Verwaltungskosten der Krankenkassen und den als Referenzgröße für die Vergütungen von Krankenhäusern dienenden Basisfallwerten. Steigende Beitragssätze wird die Bundesregierung damit kaum vermeiden können.
Warken verschiebt Strukturreformen im Gesundheitswesen und hat eine „FinanzKommission Gesundheit“ einberufen. Sie soll im Dezember 2026 Vorschläge zur Strukturreform der GKV vorlegen, die für eine dauerhafte Stabilität der Beitragssätze sorgen soll. Die Zusammensetzung dieser Kommission ist – wohlwollend ausgedrückt – pluralistisch. Die gesundheitspolitischen Optionen ihrer Mitglieder sind in der Fachwelt als widersprüchlich bekannt und könnten von gesundheitspolitisch erfahrenen Beamten kurzfristig simuliert werden. Das wäre kostengünstiger und außerdem ein Beitrag zum Bürokratieabbau.
Der Arbeitgeberverband BDA will die Arbeitsergebnisse dieser Kommission nicht abwarten und hat eigene Vorschläge für eine Gesundheitsreform 2026 präsentiert. Mit ihnen betritt er keine „Tabuzonen der Gesundheitspolitik“, wie Heike Göbel, Leiterin der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ, 31.10. 2025) begeistert meldet, sondern ausgelatschte Sackgassen.
Beitragsfreie Mitversicherung soll abgeschafft werden
Die Arbeitgeber wollen die beitragsfreie Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Ehepartnern durch einen Mindestbeitrag von bis zu 220 Euro im Monat ablösen. Damit sollen 2,8 Milliarden Euro eingespart werden – wobei unklar bleibt, ob diese Regelung nach Haushaltseinkommen gestaffelt und auch für Rentner gelten soll. Darüber ließe sich nur dann reden, wenn ein solcher Schritt im Zusammenhang mit einer Reform des Ehegattensplittings in der Einkommensteuer stünde. Aber davon ist im BDA-Papier keine Rede.
Die FAZ begrüßt erwartungsgemäß diese „Axt an der Familienversicherung“ (FAZ, 30.10.2025) in der GKV. Die wollte schon 2009 der damalige FDP-Gesundheitsminister Rösler schwingen und die Behandlungskosten von Familienangehörigen aus dem Bundeshaushalt finanzieren lassen. Die Debatte darüber war in der damaligen schwarz-gelben Koalition schnell beendet, als das Bundesfinanzministerium vorrechnete, dass dieses Projekt nur mit einer Anhebung der Mehrwert- oder Einkommensteuer um zwischen 1,5 und 3 Prozent finanzierbar wäre.
Basisversicherung – ein Popanz
Die Arbeitgeber wollen die GKV-Leistungen auf eine Basisversicherung eingrenzen, „die einerseits die medizinisch notwendige Versorgung sichert, aber andererseits verzichtbare Leistungen ausschließt.“ Mit dieser auch von Politikern wie dem Parlamentarischen Staatssekretär Tino Sorge (CDU) aufgestellten Forderung wird ein Popanz aufgeblasen, weil eine solche Regelung bereits seit 95 Jahren im Gesetz steht:
- Am 26. Juli 1930 wurde per Notverordnung des Reichspräsidenten Hindenburg der § 182 der Reichsversicherungsordnung um den Absatz 2 ergänzt: „Die Krankenpflege muss ausreichend und zweckmäßig sein; sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten“
- Dieser Bestimmung wurde zum 1. Januar 1989 im § 12 des Sozialgesetzbuchs V der Satz hinzugefügt: „Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.“
Der von den Krankenkassen, den Verbänden der Kassenärzte und der deutschen Krankenhausgesellschaft gebildete Gemeinsame Bundesausschuss befindet nach dem Prinzip der evidenzbasierten Medizin darüber, welche Diagnosen und Therapien diese Kriterien erfüllen.
Kostentransparenz durch Patientenquittung
Die Arbeitgeber wollen durch automatische Patientenquittungen der Arztpraxen mehr Kostentransparenz herstellen. Doch diese Forderung ignoriert das sehr komplizierte vertragsärztliche Honorarsystem. Es beruht auf einer Mischung von Pauschal- und Einzelleistungsvergütungen.
Etwa zwei Drittel der Honorarsumme entfällt auf eine Gesamtvergütung, die sich an der Zahl und dem Alter der Versicherten orientiert und von den Landesverbänden der Krankenkassen an die regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) überwiesen wird. Dieses Budget wird nach einem von den Krankenversicherungen festgelegten Honorarverteilungsmaßstab auf die Arztpraxen verteilt. Das restliche Drittel des gesamten Kassenarztbudgets entfällt auf nicht budgetierte Sondervergütungen für definierte Behandlungen und vertraglich zwischen einzelnen Kassen und den KVen bzw. Arztpraxen vereinbarte Leistungen.
Es ist verrückt, von den Patientinnen und Patienten zu erwarten, dieses schon für Experten schwer durchschaubare Vergütungssystem zu kontrollieren. Das ist die Aufgabe der Krankenkassen, die damit ein Heer von entsprechend ausgebildeten Angestellten beschäftigen. Außerdem sollte das Arzt-Patienten-Verhältnis auch aus ethischen Gründen von Geldbeziehungen möglichst freigehalten werden.
Anhebung der Patientenzuzahlungen
Die Versicherten sollen nach dem Willen der BDA höhere Selbstbeteiligungen tragen. Sie sollen von zwischen 5 und 10 Euro pro Quartal auf 7,50 bis 15 Euro angehoben und jährlich an die Preisentwicklung angepasst werden. Die Belastungsgrenze soll von 2 auf 3 Prozent des jährlichen Bruttoeinkommens angehoben werden. Außerdem soll die 2012 abgeschaffte Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal wieder eingeführt und zudem bei jedem Arztbesuch fällig werden.
Die BDA begründet dies mit der im internationalen Vergleich in Deutschland hohen Zahl von Arztkontakten. Aber die hat ihre Ursache nicht in hypochondrischen Neigungen der Deutschen, sondern in der ausgeprägten Arztzentrierung des deutschen Gesundheitswesens.
Eine Primärversorgung mit nichtärztlichen Gesundheitsberufen, die in den meisten west- und nordeuropäischen Ländern üblich ist, gibt es nicht. Sie könnte die Arztpraxen deutlich entlasten. Auch hat das quartalsbezogene Abrechnungssystem der Kassenarztpraxen den Effekt, dass Patientinnen und Patienten mit chronischen Leiden wie Diabetes viermal im Jahr die Arztpraxis aufsuchen müssen, wo meist einmal reichen würde.
Jens Holst hat kürzlich in einem Makroskop-Beitrag ausführlich belegt, dass Zuzahlungen der Versicherten bei der Inanspruchnahme von Leistungen keinen sinnvollen Steuerungseffekt haben. Sie gehen zu Lasten von kranken Menschen und pumpen mehr Geld ins Gesundheitswesen, ohne irgendeinen positiven Effekt auf die medizinische Versorgung zu haben.
Marktversagen im Gesundheitswesen
Kein anderer als Kenneth Arrow, der Pate der neoklassischen Lehre vom Marktgleichgewicht, hat vor über 60 Jahren in seinem Essay Uncertainty and the Welfare Economics of Medical Care gezeigt, dass es im Gesundheitswesen wegen der Dominanz der Gesundheitsberufe, insbesondere der Ärztinnen und Ärzte, keine Konsumentensouveränität und daher grundsätzlich kein Marktgleichgewicht geben kann.
Daher muss sich die Gesundheitspolitik vor allem um die Versorgungsstrukturen und um ökonomische Anreize für die Krankenhäuser und Arztpraxen kümmern, auf die Patienten keinen nachhaltigen Einfluss nehmen können. Das haben seit Jahrzehnten zahlreiche empirische Studien belegt, wird aber nicht nur von Politikern ignoriert, sondern auch von Gesundheitsökonomen, die sich mit substanzlosen Vorschlägen zur Steuerung des Patientenverhaltens in die Öffentlichkeit drängen. Von Fakten haben sich diese Dogmatiker leider noch nie ihren Glauben nehmen lassen.