Editorial

Schwindel in der Wissenschaft

| 13. Oktober 2020
istock.com/Sergey_T

Liebe Leserinnen und Leser,

lassen Sie sich in unserer neuen Ausgabe mit den Schattenseiten des Exportismus konfrontieren, erfahren Sie etwas über den fragwürdigen Umgang mit Zahlen und Daten in der Corona-Krise, den fragwürdigen Umgang der Neoklassik mit dem Klimawandel und das fragwürdige neue Grundsatzprogramm der Grünen.

Der dumme Exportweltmeister

Der negativ konnotierte Begriff »Exportismus« meint, dass eine Volkswirtschaft überproportional stark von Entwicklungen der Auslandsmärkte abhängig ist. Indikatoren dafür sind vergleichsweise hohe Exportüberschüsse und Exportquoten. Vergleicht man etwa Deutschland mit einem Land vergleichbarer Größe, dann zeigt sich diese extreme Abhängigkeit der deutschen Wirtschaftsentwicklung deutlich. Deutschland hat in der Summe an alle anderen Länder der Welt mehr Güter verkauft als gekauft. Dieses »Mehr« belief sich im Jahr 2019 auf den stolzen Betrag von 223 Milliarden Euro.

Was aber ist genau problematisch daran, dass die Exportquote Deutschlands so viel größer ist als etwa die Großbritanniens und Deutschland einen Handelsbilanzüberschuss aufweist? Und wer sind die Profiteure und wer die Verlierer von Exportüberschüssen?

Eine weitere Frage: Hat das deutsche Exportüberschussmodell nach Corona ausgedient?

Dafür müsste der größte Niedriglohnsektor vergleichbarer EU-Länder zurückgedrängt, die Einsparungen an den Gemeingütern der Daseinsvorsorge zurückgenommen und durch eine verstärkte »Binnenorientierung« ersetzt werden. Weder das Bildungssystem noch das Gesundheitssystem würden weiter so kurzgehalten werden, dass jederzeit der Notstand ausbrechen kann. Die öffentliche Verwaltung könnte bereit gestellte Finanzmittel tatsächlich abrufen und in öffentliche Investitionen umsetzen. Kurzum: Deutschland dürfte nicht mehr »unter seinen Verhältnissen« leben.

Stichwort Niedriglohnsektor: Im Falle von Deutschland müsste der Mindestlohn von aktuell 9,35 auf 12 Euro angehoben werden. Das wäre ein bedeutender sozialpolitischer Fortschritt, doch auch damit könnte man mit einem durchschnittlichen Jahresarbeitspensum von 1350 Stunden lediglich 1350 Euro brutto im Monat verdienen. Bei weitem nicht genug, um eine Familie zu ernähren und für die Wechselfälle des Lebens Vorsorge treffen zu können. In der Schweiz, genauer in Genf, findet man dagegen den welthöchsten Mindestlohn: 23 Franken pro Stunde. Doch auch der ist bei weitem ungenügend, rechnet Werner Vontobel vor.

Zurück zu Deutschland. Wie stehen nun die Chancen für die Überwindung des Exportmodells? Zwar scheint der Shutdown großer Bereiche der internationalen Wirtschaft der deutschen Exportüberschussstrategie einen Strich durch die Rechnung zu machen, wie auch unser Konjunkturbericht mit Blick auf die Industrieproduktion und die Autoindustrie zeigt. Schaut man aber auf die Lageeinschätzung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, sieht das Bild eher nach einer Fortsetzung der bisherigen Politik aus.

Schwindel mit Zahlen

Nie war Statistik so wertvoll wie heute. Aber Zahlen ohne Erklärungen sind eine Gefahr. Das gilt in Zeiten von Corona sowohl für die menschliche Gesundheit als auch die wirtschaftlichen Folgen, die vom Corona-Schock ausgehen. Heiner Flassbeck schließt daraus: Mit großer Leichtfertigkeit werde wieder über die Notwendigkeit eines neuen Lockdowns gesprochen, ohne dass überhaupt klar sei, was der erste Lockdown gesundheitspolitisch gebracht hat. Auch lasse sich die Situation im Herbst nicht mit der im Frühjahr vergleichen: Zwar habe etwa Frankreich die vierfache Zahl an Fallzahlen, nämlich um die 20 000 pro Tag, aber noch immer eine nur wenig höhere Zahl von Toten als im Frühjahr. Und auch die Krankenhauseinweisungen sind noch leicht beherrschbar. Für Italien gelte derzeit ähnliches wie für Frankreich im September: Gleich hohe Fallzahlen wie im Frühjahr, aber sehr wenige Tote.

Die Sterblichkeit, die im Frühjahr in Frankreich eindeutig gestiegen und den Wert der Vorjahre deutlich überschritten hatte, ist nun exakt auf dem Niveau der Vorjahre – nämlich bei etwa 1500. Es könne also, so Flassbeck, derzeit nicht die Rede davon sein, dass in Frankreich eine gefährliche Krankheit »wütet«. Umgekehrt, wer im Frühjahr zu Recht vor der Gefahr einer unbeherrschbaren Situation gewarnt hatte, müsse sich jetzt korrigieren. Offensichtlich seien extrem hohe Fallzahlen im Herbst keine Katastrophe.

Update: Emmanuel Macron scheint das anders zu sehen und hat wieder einen Teil-Lockdown beschlossen.

Desaster der neoklassischen Ökonomik

Keine Katastrophe ist auch der Klimawandel für das Bruttoinlandsprodukt der USA. Das glaubt zumindest der Nobelpreisträger William Nordhaus. 87 Prozent der wirtschaftlichen Aktivitäten in den Staaten seien vom Klimawandel nicht betroffen. Ausgesetzt wären den Unwirtlichkeiten des Wetters nur Landwirtschaft, Waldwirtschaft, Fischerei und Bergbau, maximal 13 Prozent des BIP - schlimmer könne es nicht kommen, glaubt Nordhaus. Schließlich kann man in geschlossenen Räumen entweder die Klimaanlage oder die Heizung hochdrehen.

Der Einfluss von Ökonomen wie Nordhaus, die solche Szenarien in der Welt setzen, geht über die bloße Beratung von Regierungen hinaus und fließt sogar in die formellen Berichte des Weltklimarates (IPCC) ein, wie Steve Keen zeigt. So vergleicht der IPCC Report Climate Change 2014: Impacts, Adaptation and Vulnerability verschiedene ökonomische Modelle zum Klimawandel. Die gesamten (also einmaligen) Verluste des BIP liegen in den dort vorgestellten Szenarien ohne Extremwerte zwischen 0 und minus 6 Prozent. Diese zur Schau gestellten geringen Auswirkungen des Klimawandels auf das BIP könnte, so Keen in aller Deutlichkeit, bald »als der bedeutendste und gefährlichste Schwindel in der Geschichte der Wissenschaft entlarvt werden«.

Geschwindelt wird auch beim vermeintlich schwindelerregenden Problem staatlicher Schulden. Ein für neoklassische Ökonomen weitaus größeres Problem als der Klimawandel. Dass da etwas nicht stimmen kann, scheint auch der Journalist Nikolaus Piper zu ahnen, zu einer Kritik der Mainstream-Position kann er sich aber nicht durchringen. Zu erschreckend ist für ihn die Verschuldungssituation der USA: Dort hat die öffentliche Gesamtverschuldung mittlerweile die Schwelle von 100 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung (BIP) erreicht. Klingt furchterregend, aber ein vergleichender Blick auf Japan relativiert die scheinbare Dramatik beträchtlich: Dort hat die Staatsverschuldung in Relation zum BIP die 100-Prozent-Schwelle nämlich bereits im Jahr 1992 und im Jahr 2004 sogar die 200-Prozent-Marke überschritten. 2019 liegt die Staatsschuldenquote Japans bei 237,7 Prozent. Passiert ist währenddessen wenig – ein Desaster für die zentralen Thesen des Mainstreams zur Staatsverschuldung.

Desaster Klimapolitik

Zurück zum Klimawandel bzw. zur Herausforderung einer Transformation der Wirtschaft, die tatsächlich nicht von der Staatsverschuldung zu trennen ist. Nimmt man das Kernziel einer ökologischen Transformation ernst, stößt man ständig auf den Staat. Er müsste nachhaltige Mengen definieren, entsprechende Preise herstellen, Zölle auf ressourcenintensive Einfuhren erheben, Infrastrukturen für eine ökologischen Wende schaffen, den sozialen Ausgleich bei all diesen Veränderungen sichern oder internationale Abkommen aushandeln.

Dabei darf man auch direkte Staatseingriffe nicht ausschließen. Dazu gehören eben nicht nur Preise, sondern auch Gebote und Verbote bei der Produktion. Folglich sind entsprechende Gesetze und Verordnungen, aber auch öffentliche Förderungen unumgänglich. Der Markt tut das nicht, er schafft ganz im Gegenteil immer mehr Wegwerfproduktion.  

Doch wie stehen die Grünen zum Thema Staat und Markt? Irgendwie halt. Das neue Grundsatzprogramm der Grünen bietet das Bild eines nicht greifbaren Sammelsuriums. Vieles wird aufgeführt, aber nur wenig konkret und greifbar. Einerseits ist vom »Primat der Politik« die Rede, was die Politik aber durchsetzen soll, bleibt vage.