Liebet eure Feinde!
Das geradezu apokalyptische Ausmaß der globalen Konflikte bedarf einer Erklärung und eines neuen Paradigmas. Die Suche nach Ursachen führt zu den Wurzeln unseres Selbstverständnisses und zu einer Alternative von großer transformierender Kraft.
Anders als das von Francis Fukuyama verkündigte „Ende der Geschichte“ erwarten ließ, ist die Zahl der gewaltsamen Konflikte seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht gesunken, sondern deutlich angewachsen. Die Zahl der jährlichen Todesopfer liegt heute wieder so hoch wie zuzeiten des Vietnamkriegs. Die Atomkriegsuhr steht näher an Mitternacht als je zuvor, alle großen, mühsam erarbeitete Nuklearverträge haben ihre Gültigkeit oder Wirksamkeit verloren. Der Ukrainekrieg und der Nahostkonflikt haben, wie vielfach hervorgehoben, das Potential zu einem Dritten Weltkrieg. Rund um die chinesische Küste hat ein Rüstungswettlauf begonnen. Diese Konflikte vollziehen sich zudem während einer kritischen Phase globaler Umweltzerstörung.
Dennoch werden zur Konfliktlösung vor allem Drohung und militärische Gewalt präferiert. Vom Standpunkt eines außerirdischen Beobachters, der auf das Wunder dieses blauen Planeten stößt, muss dies als erschütternder Auswuchs an Irrationalität erscheinen. Liegt dies in der Natur des Menschen begründet? Oder an der Dominanz eines gefährlichen Denkens? Die folgende Spurensuche orientiert sich an einem aktuellen und wichtigen Beitrag zur Traumaforschung.
Selbstwert, Trauma und Gewalt
Gabor Maté ist ein kanadischer Arzt, der sich intensiv mit der Rolle von Traumata in unserer westlichen Gesellschaft auseinandersetzt hat. Er war an der Aufarbeitung politischer Konflikte unter anderem im ehemaligen Jugoslawien beteiligt. Seinem neuen, tiefgründigen Buch „Vom Mythos des Normalen“, ein New York Times Bestseller, ist größte Verbreitung zu wünschen.
Unter „Trauma“ fasst Maté nicht nur extreme Gewalterfahrungen wie Krieg, Vergewaltigung oder Folter, sondern auch subtilere Formen der Abwertung, Ignoranz, Trennung und Ausgrenzung, die beispielsweise im Elternhaus oder der Schule erfahren und in Form eines Traumas gespeichert werden. Maté selbst zeigt sich hier als gebranntes Kind: Er hat die Deportation der ungarischen Juden nur durch Glück und selbstlose Hilfe überlebt. Die Trennung von der Mutter führte in dem Baby zu einem Trauma, das ihn jahrzehntelang zum überarbeiteten Workaholic machte.
Traumata sind, wie Maté an vielen anderen Beispielen und Studien aufzeigt, überaus wirksam. Sie bestimmen oft einen großen Teil unseres Verhaltens und unserer Sicht auf die Welt. Sie machen verschiedene Formen von Sucht ‒ wie die Arbeitssucht ‒ wahrscheinlicher und prädestinieren Denk- und Verhaltensweisen, die dazu führen, dass das Trauma über Generationen „weitervererbt“ wird.
Darüber hinaus liegen nach Maté inzwischen hinreichend Studien und Belege vor, dass Traumata auch auf die körperliche Gesundheit wirken. In Kanda beispielsweise waren die indigenen Völker einem massiven Trauma ausgesetzt: Landraub, Unterdrückung der Sprache und Kultur, rassistische Abwertung, Trennung von den Kindern in Umerziehungsschulen, wo sie häufig sexuell missbraucht wurden. Indigene leiden in Kanada bis heute nicht nur überproportional an psychischen Störungen, sondern auch an Autoimmunerkrankungen und Diabetes.
Traumata stehen zudem in enger Verbindung mit der Verarbeitung von Konflikten. Sie begünstigen ein schambehaftetes Selbstbild, den Verlust von gesundem Instinkt und Reaktionsflexibilität in Konfliktsituationen und ein von Angst besetztes Bild der Welt, in der Feindseligkeit und Konkurrenz vorherrschen und in der Aggression, Egoismus und Großspurigkeit überlebensnotwendig sind.
Konfliktlösung: Die traumabehaftete Beziehung verstehen
Entscheidend für die Konfliktlösung ist für Maté vor allem, das erfahrene Leid im Licht der Beziehungen zu sehen, in denen man steht - einschließlich dessen, was man in dieser Relation zu dem eigenen Leid selbst beigetragen hat. Dies sei, wie vom indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti unterstrichen, „unendlich viel wichtiger als die Suche nach einem Handlungsplan. Ohne Verständnis der Beziehung wird jeder Aktionsplan nur zu Konflikten führen.“ Für Maté ist das so zentral, dass er das Zitat zweier seiner Bücher als Motto vorangestellt hat.
Dem steht unsere Neigung entgegen, sich selbst schnell als Opfer zu sehen und dem anderen, dem „Feind“ die alleinige Schuld zu geben. Maté unterstreicht, wie sehr unser Bild der Welt von der Welt selbst geprägt ist, bevor wir überhaupt einen Einfluss darauf haben. Er führt den amerikanischen Neurologen Robert Sapolsky an, für den diese Einflüsse so determinierend sind, dass er dem Menschen seine Willensfreiheit abspricht. Hass aber auch Beschuldigung und Bestrafung seien deshalb absurd, weil der andere sosehr von der Vergangenheit determiniert ist, dass er keine Handlungsfreiheit hat. Obwohl Maté Sapolski darin nicht folgt ‒ es gibt Verantwortung und Unrecht ‒, sieht er unsere freie Wahl doch wesentlich stärker beschränkt als uns dies meist erscheint: In einem erheblichen Maß sehen wir die Welt aus der Linse unseres Traumas.
Hier zeigen sich interessante Überschneidungen mit dem Realismus in der Theorie der Internationalen Beziehungen: John Mearsheimer weist eine von moralischer Empörung überformte Diskussion von Konflikten zurück, weil dies die Klarheit der Analyse trübt. Ein Verstehen der Gegenseite wird häufig mit dem Argument abgelehnt, man rechtfertige damit das Unrecht. Aber das ausbleibende Verstehen begünstigt eben den Tunnelblick und einen verfehlten Handlungsplan. Um eine kluge Außenpolitik zu machen, hängt nach Mearsheimer alles davon ab, die Beziehungen zu verstehen und sich in „die Schuhe des anderen“ zu begeben.
Hinter der Abwehr einer von Empörung überformten Betrachtung steht auch beim Realismus die Anerkennung von Determiniertheit, die das verbreitete Gut-und-Böse-Schema aufbricht: Für Hans Morgenthau, den Begründer des Realismus, sind alle Menschen und Gesellschaften vom Streben nach Macht bestimmt. Nach dem Neorealisten Mearsheimer ist es das Streben nach Sicherheit in einer unsicheren, anarchischen Staatenwelt, die das Handeln von Staaten überwiegend determiniert – ob es sich um Demokratien oder Autokratien handelt.
Anders als die Realisten ist Maté aber optimistischer im Blick auf die Möglichkeit von Frieden. Mearsheimer sieht die Konfrontation mit China als unausweichlich an. Ein Grund ist sicherlich darin zu sehen, dass Maté zu überwinden sucht, was für den Realismus ein wichtiger Einfluss war: Der moderne, radikale Individualismus und Mechanismus wie er von Thomas Hobbes vertreten wurde.
Warum es „Sinn“ macht, einen Atomkrieg zu riskieren
Für Maté leben wir heute im Westen in einer vom Konkurrenz- und Leistungsdenken traumatisierten Gesellschaft. Denn was wir für unser Wohlbefinden am meisten brauchen, ist deren Gegenteil: Verbundenheit und echtes Selbstwertgefühl, das gerade nicht von Leistungen abhängt. Unsere Institutionen sind jedoch so beschaffen, dass sie Traumata befördern. Maté vermutet, dass unsere Institutionen oft erfolgssüchtige Menschen in Entscheidungspositionen hieven, die selbst traumatisiert sind – ein selbstverstärkender Effekt.
Welche historischen Traumata heute in welcher Weise nachwirken, ist ohne Frage schwer nachweisbar. Folgt man Silvia Federici und anderen, gab es unter den vielen Gewalterfahrungen in der Geschichte des Westens auch solche, die den angeführten Traumata der Indigenen Kanadas ähneln. Sie waren zudem konstituierend für die moderne Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft und von einer tiefgreifenden Entwurzelung und Entwertung begleitet:
Die frühe Neuzeit war generell von einer ungeheuren Gewalteskalation gekennzeichnet. Menschen wurden (wie jüngst auch von Katharina Pistor beschrieben) von ihren traditionellen Landgütern vertrieben. Trotz des für den Westen typischen Anthropozentrismus war dieses Leben in vielerlei Hinsicht mit der Natur verbunden. Die große Hexenjagd trug zu einer vertieften Spaltung in der Familie bei und verstärkte die Abwertung der Frau. In Frankreich waren Massenvergewaltigungen armer Frauen vom Adel wie vom Klerus geduldet. Der menschliche Körper wie die gesamte Natur wurden in der Philosophie zur Maschine umdefiniert, seine Leistung (im Gegensatz zur „Frauenarbeit“) deshalb als wertvoll eingestuft, weil sich auf dem Markt damit Geld verdienen ließ.
Maté betont, dass wir unser kollektives Trauma kaum wahrnehmen, weil es so sehr zur Normalität geworden ist. Vielleicht können wir es an der Reaktion anderer aber erahnen: So beschreiben die Kogi des verborgenen kolumbianischen Hochlands, die sich noch als Teil integrierter Gemeinschaften und eines von Leben vibrierenden Universums erleben, den modernen westlichen Menschen als „so gut wie tot“.
Das Trauma trägt zu einer Weltsicht bei, in der das Trennende wahrscheinlich ist: Bedrohung, Konkurrenz, Verachtung, Feindschaft. Die verständliche Reaktion ist, wie von Erich Fromm und anderen hervorgehoben, eine Kultur des Habens, eine Form der Dominanz über die feindlich erfahrene Umwelt: Kontrolle, Macht, Berechnung, Leistung oder Reichtum sollen Sicherheit und Anerkennung gewähren. Obwohl diese Strategie schädlich für Beziehungen und die Erfahrung von Sinn ist, gewähren Leistung, Dominanz und Zerstörung immer noch eine Erfahrung von Intensität.
Dazu gehören auch die Bestätigungen, die die technologische, militärische und angeblich kulturelle Überlegenheit des Westens über die übrige „rückständige“ oder primitive“ Menschheit boten, die er in den letzten 500 Jahren unterwarf. „Wie are number one“ ist eine verbreitete Selbstbeglückwünschung in den USA. Mit solchem Lob bedacht zu werden, ist jedoch in Wahrheit eine Kränkung. Es kommt auf mich an, nicht einfach weil ich bin, sondern weil ich, weil wir leisten, besser als andere sind. Diese Abhängigkeit von Leistung hat für Hartmut Rosa in unserer Gesellschaft zu einer äußerst dünnen Haut geführt: Andere politische Meinungen und Kritik können kaum noch ertragen werden.
Darin sieht der Schweizer Politologe Pascal Lottaz eine Erklärung, warum es im Vorfeld und nach Ausbruch des Ukrainekriegs für die politischen Akteure des Westens unmöglich war, zu verhandeln und die Medien sich dieser Linie anschlossen: Die westliche Identität ist damit verbunden, in der Welt das Sagen zu haben und zu bestimmen. Wenn der noch erfahrene „Sinn“ von Macht, von Überlegenheit abhängt, sind Kompromisse eine existentielle Bedrohung und der Vorwurf einer Mitverantwortung für die Krise eine Demütigung. Der amerikanische Intellektuelle David Griffin bemerkte angesichts der nuklearen Risiken des Ukrainekriegs, die Neokonservativen in Washington schienen keinen Sinn mehr im Leben zu sehen, wenn sie ihren Anspruch auf globale Dominanz nicht mehr durchsetzen können. Diese apokalyptische Risikobereitschaft, verbunden mit einer tiefgreifenden Haltung von Feindschaft, ist dem Autor dieses Artikels in persönlichen Gesprächen mehrmals begegnet.
Damit geraten die Relationen, in denen die politischen Akteure stehen, in erheblichem Maß außer Blickfeld. Der auf die empfundene Bedrohung hin verabschiedete Aktionsplan, der auf gewaltsame Kontrolle des Problems abzielt, ist von der Realität entkoppelt. Es besteht das erhebliche Risiko einer irrationalen, potentiell selbstschädigenden und den Konflikt vertiefenden Politik.
Gründe für Optimismus: Traumata und Feindschaft können überwunden werden
Maté beschreibt zahlreiche Fälle der (weitgehenden) Heilung von Traumata (in einigen Fällen war die Heilung schwerer körperlicher Krankheiten mit der Heilung des Traumas korreliert). Im ehemaligen Jugoslawien und anderen Konfliktgebieten konnte er dazu beitragen, Kriegstraumata und Feindschaft zu überwinden. Wichtig in der Traumatherapie ist unter anderem, das schambehaftete und instrumentalisierte Selbst zu berühren und dem Menschen Wert zuzusprechen, der unabhängig von Leistung ist.
Die Überwindung von Feindschaft beruht nach Maté unter anderem darauf, die Beziehung zu verstehen, das Herz zu öffnen und zu versuchen, die Welt aus der Sicht des anderen zu sehen. Menschen wollen in Frieden miteinander leben.
Dass Menschen in der Lage sind, sich gegenseitig als Menschen zu erkennen und eine neue Form von Beziehung einzugehen, war der Optimismus, auf dem die Bewegungen von Mahatma Gandhi und Martin Luther King beruhten. Obwohl es immer noch viel Rassismus in den USA gibt, hat Kings Bewegung eine tiefgreifende Transformation bewirkt und das Denken von Millionen Menschen gewandelt, nicht nur in den USA, sondern auf der ganzen Welt. Viele der Söhne ehemaliger Sklaven und Sklavenhalter sitzen heute „am Tisch der Brüderlichkeit“.
Exkurs zu einer alten Idee: Das Trauma des römischen Soldaten
Trotz der außerordentlich gewaltsamen Geschichte des Westens ist dies gerade im Abendland keine neue Idee. King bezog sich immer wieder auf die Feindesliebe aus der Bergpredigt. Lohnt es sich, daran zu erinnern? Einige werden dies verneinen, weil sie im traditionellen Christentum berechtigterweise einen historisch einflussreichen Faktor für Intoleranz, Gewalt, Imperialismus und den Rückzug ins Private sehen. Religion ist „Opium für das Volk“. Sie mögen die folgenden Abschnitte überspringen.
Für Konservative, Traditionalisten und Kommunitaristen, die wie Habermas im christlichen Erbe einen Wert erkennen, mag es von Interesse sein, dass sich in dieser Tradition sinnvolle Anknüpfungspunkte und Bezüge finden lassen. Zu ihnen gehört die ignorierte Feindesliebe.
Eine solche Interpretation findet sich bei John B. Cobb (* 1925), einem einflussreichen US-amerikanischen Theologen, der zu den Begründern der Prozesstheologie gehört. (Die Prozesstheologie knüpft an den Mathematiker und Philosophen Alfred North Whitehead an ‒ ein Diskussionspartner von John Maynard Keynes ‒, dessen Holismus den radikalen metaphysischen Individualismus der Moderne zu überwinden sucht. Auch King hat über einen Prozessphilosophen promoviert.) Cobbs konstruktiv-liberale Theologie sieht spätere Dogmen wie Erlösung durch Hinrichtung oder Glaube als Rettung vor Verdammnis, die den traditionellen Absolutheitsanspruch des Christentums begründen, im Widerspruch gerade zur Feindesliebe.
Die Feindesliebe hat nichts mit erotischer Liebe zu tun, noch mit Gefühlen der Sympathie. „Liebe“ als Nächstenliebe bedeutete für Juden oder zumindest für einige Juden damals,
„für den anderen das Gute wollen wie wir es für uns selbst wollen. Der andere ist ein menschliches Wesen mit Gefühlen und Ängsten und Hoffnungen. Wir sollten das anerkennen und den anderen in Hinblick darauf unterstützen. Ob wir den anderen mögen oder nicht, wir sind dazu aufgerufen, Gutes für ihn zu wollen.“
Nach der Feindesliebe gilt dies nicht nur für den Nächsten, sondern auch für den Feind: “Tut wohl denen, die euch hassen!“ Was es damit auf sich hat, verdeutlicht Cobb an einem bekannten Wort, das der Aufforderung zur Feindesliebe unmittelbar vorausgeht: „Wenn dich jemand zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann gehe mit ihm zwei.“ (Mt. 5, 41) Damals hatten die römischen Soldaten oft schwere Lasten zu tragen und das Recht, einen Juden zu zwingen, ihn eine Meile lang zu begleiten und ihm beim Tragen zu helfen. Diesen Soldaten aber nicht zu hassen, sondern eine zweite Meile mit ihm zu gehen und ihn im genannten Sinn zu lieben, enthält für Cobb zentrale Elemente der transformativen Kraft, die er dann auf die Weltpolitik der Gegenwart bezieht:
„Jesus dachte, dass die römische Unterdrückung auf diese Weise verändert würde. Die meisten Soldaten wurden selbst von ihren Vorgesetzten und wahrscheinlich sogar von anderen Soldaten desselben Ranges misshandelt. Die meisten von ihnen erfuhren sehr wenig Liebe. Die Möglichkeit, einen verachteten Juden zum Dienst zu zwingen, entlastete sie zweifellos nicht nur von schmerzhafter Arbeit, sondern gab ihnen auch die Gewissheit, dass auch sie einen gewissen Status, eine gewisse Macht besaßen. Jemand, der oft mit Verachtung behandelt wird, mag es genießen, Verachtung für diejenigen zu empfinden, die noch weiter unten stehen.
Wenn der Soldat aber feststellte, dass dieser Jude, den er gerne ausgenutzt hat, ihn nicht hasste, sondern sich um ihn als Person kümmerte, war dies sicherlich verwirrend. Der Soldat mag sich nicht erlauben zu glauben, dass er während der ersten Meile geliebt wird, aber die zweite Meile wird es schwer machen, ungerührt zu bleiben. Der Soldat wird sich verstanden und angenommen fühlen. Hass und Verachtung sind verschwunden.“
Ein Fazit
Hier wird wie bei Maté deutlich: Ob Nachbar oder Feind, der andere ist ein Mensch mit Gefühlen, Ängsten und Hoffnungen. Es ist naheliegend, dass der andere in seinem Leben von Verachtung betroffen war, die ihn traumatisiert hat. Macht, Überlegenheitsgefühl und Verachtung bieten in dieser Situation eine Entlastung. Wird darauf wiederum mit Hass und Drohung reagiert, triggert das nur dessen Trauma und verstärkt den Impuls, sich durch Verachtung und Ausübung von Macht zu bestätigen. Tatsächlich ist der andere aber nicht statisch „böse“, sondern ein Wesen, das in Relation zu anderen steht und sich verändert. Selbstwertgefühl, von anderen wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden, ist eines unserer zentralsten Bedürfnisse. Wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden lässt deshalb niemanden unberührt. Es hat eine verändernde Kraft. Den anderen wahrzunehmen beinhaltet folglich auch, zu versuchen, ihn zu verstehen: seine erfahrene Verachtung, sein Trauma.
Daraus folgt, dass wir nicht dabei stehen bleiben sollten, den anderen auf das Unrecht zu reduzieren, das er begangen hat, noch auf das, was wir als Feindschaft erfahren. Je größer der eigene Hass, je stärker der Tunnelblick, in dem wir (allein strategisch) den anderen falsch verstehen und Chancen für einen Wandel übersehen.
Um nur einen von vielen Aspekten zu nennen: Harald Kujat, die ehemalige militärische Spitze der NATO, Michael von der Schulenberg, Untergeneralsekretär der Vereinten Nationen a.D. und der Politologie Prof. Hajo Funke kommen nach Prüfung der verfügbaren Dokumente zu dem Schluss, dass die Ukraine und Russland im April 2022 einem Waffenstillstand und einer umfassenden Friedenslösung des Konfliktes sehr nahekamen. Die Verhandlungen seien vor allem am Widerstand der USA und Großbritanniens gescheitert. Der ukrainische Chefunterhändler sagte vor Kurzem im ukrainischen Fernsehen: „Die Russen waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir – wie einst Finnland – der Neutralität zugestimmt und uns verpflichtet hätten, der NATO nicht beizutreten.“
Der Blick des außerirdischen Beobachters auf den strudelnden Planeten zeigt, dass wir in den gegenwärtigen Konflikten, die ohnehin verheerend sind, letztlich keine andere Wahl haben. Für John Cobb ist die so verstandene Feindesliebe zur Notwendigkeit für das Überleben der Menschheit geworden.