Die neue Zeitenwende
Liebe Leserinnen und Leser,
am Morgen der Triumph von Trump, am Abend das Aus der Ampel – der 6. November steht für weitreichende politische Umbrüche in der zweit- und sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt. Deutschland ist jetzt in vielen Bereichen noch mehr als in der Ampel-Ära gelähmt – Projekte wie das Deutschlandticket, der Ausgleich der Kalten Progression oder die Stabilisierung des Rentenniveaus (Rentenpaket II) stehen auf der Kippe. Donald Trumps Pläne für Zollerhöhungen und die Ungewissheit über die weitere Ukraine-Unterstützung seiner Regierung drohen sowohl das deutsche Exportmodell als auch Scholz Zeitenwende zu gefährden.
Folgt also eine zweite Zeitenwende auf die erste? Sozusagen die Rolle rückwärts? Wie „unser Mann in Brüssel“ Eric Bonse in dieser Ausgabe klarstellt, ist Scholz in der EU zunehmend isoliert – „die ‚Zeitenwende‘ frisst ihre Kinder“. Sein Kurs ist zwar mit US-Präsident Joe Bilden abgestimmt, geht aber den transatlantischen Falken in der EU und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nicht weit genug. Es schmieden sich Bündnisse um Polens rechtsliberalen Regierungschef Donald Tusk, bei deren Treffen der Bundeskanzler nicht eingeladen ist.
Allen Bemühungen um „Kriegstüchtigkeit“ (Boris Pistorius) zum Trotz ist Deutschland heute binnenpolitisch – insbesondere in der Fiskalpolitik – weitgehend handlungsunfähig und europapolitisch isoliert. Gleichzeitig spielen Politiker und Medien die Verteidigungs- und Sozialausgaben unter dem Dogma der Sparsamkeit gegeneinander aus.
Christian Linder, der mit seinem Fetisch der Schuldenbremse das Ampel-Aus befeuerte, ist ein wichtiger Protagonist dieser Strategie. Linders Papier zur Wirtschaftswende fordert ein Renteneintrittsalter, das über 67 Jahre hinausgeht. In der "Zeitenwende" wird auch Sozialpolitik „konfrontativer“, wie Joseph Kuhn anmerkt. Rente mit 70 also, um Sparpolitik mit Rüstung vereinbaren zu können? Das wird sich vor allem mit Trumps „Project 2025“ ab Ende Januar und Deutschlands Neuwahlen Ende Februar zeigen.
Die Grünen sind wie kaum eine andere Partei im Bundestag auf Kriegskurs – in einem vorläufigen Beschluss der jüngsten Bundesdelegiertenkonferenz fordern sie den NATO-Beitritt der Ukraine. Immerhin das Impuls-Papier von Robert Habecks Wirtschaftsministerium ist ein fiskalpolitischer Hoffnungsschimmer inmitten der Konjunkturflaute. Habecks Ideen für einen Deutschlandfonds haben eine nachfrageorientierte Schlagrichtung, insbesondere was die dringend benötigten öffentlichen und privaten Investitionen anbelangt, schreibt unser Redakteur Malte Kornfeld.
Doch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann wird nicht müde, eine angebotsorientierte Agenda 2030 zu fordern. Geht das mit den Grünen oder der SPD trotz der wachsenden Kritik an der Schuldenbremse aus ihren Reihen? Sie waren es zumindest, die trotz des Widerstands von Gewerkschaften und Sozialverbänden schon mit der Agenda 2010 das Land umgekrempelt hatten.
Diese und weitere Artikel lesen Sie in unserer neuen Ausgabe:
- Habecks Zwiespalt Kurz vor dem Aus der Ampel veröffentlichte das Wirtschaftsministerium von Robert Habeck ein Papier, das der Angebotspolitik seines liberalen Ex-Koalitionspartners entgegenkommt. Doch das Ministerium versucht auch, nachfragepolitische Impulse zu setzen. Gelingt der Spagat? Malte Kornfeld
- Flassbeck: „Schumpeter ist wichtiger als Keynes“ Der wirtschaftswissenschaftliche Mainstream kann Entwicklung nicht von Wachstum unterscheiden, kritisiert Heiner Flassbeck in seinem neuen Buch. Schumpeter hingegen ist für ihn „epochal“. Rainer Land
- Amerikas Konjunktur stabil – Ruhe vor dem Sturm? Amerikas Wirtschaft wuchs auch im dritten Quartal 2024. Was sorgte für das weiterhin freundliche Wachstumstempo im Sommer? Und wie steht es um die Lage mit Blick auf das nächste Jahr, das große wirtschaftspolitische Kursänderungen verspricht? Jörg Bibow
- Warum „leihen” sich Staaten selbstgeschöpftes Geld? Selbst der Chefökonom der US-Regierung kann nicht erklären, warum Regierungen Staatsanleihen ausgeben. Die MMT bietet mit ihrer makroökonomischen Buchhaltung schlüssige Antworten. Klaus Diekmann
- Rentenpolitik im Zeichen der Zeitenwende Am 6. November ist die Ampel-Regierung zerbrochen. Kurz zuvor hat die FDP noch eine alte Idee wiederbelebt: Wenn die Menschen älter werden, sollen sie auch länger arbeiten. Doch sind die Liberalen überhaupt auf dem aktuellen Stand der Dinge? Joseph Kuhn
- Die „Zeitenwende“ frisst ihren Erfinder In Brüssel hat die Scholz-Dämmerung begonnen. Der Kanzler hinterlässt ein bitteres europapolitisches Erbe – und das nicht nur in der Ukraine-Politik. Eric Bonse
- Was Europa tun kann, kann es sich leisten – oder? Amerika hat Trump – und Europa eine ebenso gefährliche Mischung aus unberechenbaren und kurzsichtigen Eliten. Dirk Bezemer
- E-Fuel und Energiespeicher – Status quo und Perspektive Für eine erfolgreiche Energiewende muss Deutschland effizienter werden und aus den fossilen Energien aussteigen. Allerdings ist der Anteil an „Erneuerbaren“ seit 2019 in Deutschland lediglich von 14,8 auf 19 Prozent angewachsen. Wie kann ein realistischer Pfad zu den Klimazielen aussehen? Frank Atzler
- Angebotspolitik soll den Wirtschaftsmotor anwerfen Auf dem Papier wächst die deutsche Wirtschaft minimal, doch vieles läuft weiterhin falsch. Nun legt der Sachverständigenrat im neuen Jahresgutachten ambitionierte Maßnahmen vor. Hans-Peter Roll