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Staatsfinanzierung
Warum „leihen” sich Staaten selbstgeschöpftes Geld?
Von Klaus Diekmann
| 19. November 2024IMAGO / NurPhoto
Selbst der Chefökonom der US-Regierung kann nicht erklären, warum Regierungen Staatsanleihen ausgeben. Die MMT bietet mit ihrer makroökonomischen Buchhaltung schlüssige Antworten.
„Warum ‚leihen‘ sich Staaten mit Staatsanleihen Geld, welches sie selbst schöpfen?“ Diese Frage stellte Maren Poitras, Regisseurin der Dokumentation Finding the Money dem Chefökonom der US-Regierung Jared Bernstein.
Die Zuschauer der inzwischen auch in Deutschland erhältlichen Dokumentation über die Modern Monetary Theory (MMT) durften dem ökonomischen Gehirn des Weißen Hauses beim Denken zuhören. Bernstein verlor gleich mehrfach den Faden, widersprach sich selbst und schloss seinen Monolog zur Krönung mit den Worten „I don’t see anything confusing here” („Ich kann hier nichts Verwirrendes erkennen“).
Dieser Clip ging nach Erscheinen des Films viral und sorgte beispielsweise unter Bitcoinern und sogar bei Fox-News für Aufsehen. So unterhaltsam diese Selbstzerlegung auch gewesen sein mochte, die Frage dahinter scheint viele zu beschäftigen – nicht zuletzt Fox-News Moderator Greg Gutfeld sowie Jared Bernstein selbst.
Warum Staatsanleihen überhaupt emittiert werden, beantwortet die MMT-Dokumentation allerdings nur ansatzweise. Die Suche nach dem wirtschaftspolitischen Zweck von Staatsanleihen ist jedoch ein entscheidender Impulsgeber für die MMT. Der Schüssel zur Erklärung liegt darin, zu verstehen, wie Staatsausgaben die Kontostände der Banken der Empfänger (beispielsweise Rentner oder Beamte) verändern.
Da die MMT-Darstellung dieser Bilanzeffekte stark von der Perspektive anderer Denkschulen abweicht, liegen die Zusammenhänge nicht gleich auf der Hand. Es braucht eine nähere Betrachtung.[1]
Schritt 1: Bilanzeffekte der Staatsausgaben
Wenn zum Beispiel die Bundesregierung Geld „ausgibt“, weist sie die Bundesbank an, die Zentralbankkonten der Geschäftsbanken der Empfänger zu erhöhen. Die Geschäftsbanken erhöhen wiederum die Konten der Empfänger bei sich in gleicher Höhe. Gleichzeitig belastet die Bundesbank das Konto der Bundesregierung bei ihr, weil dies die Regeln der Eurozone so vorsehen. Folgende vier Buchungseffekte sind zu beachten:
- Bilanziell gesehen hat die Bundesregierung (bei einem ursprünglichen Kontostand von Null) nun ein um den Betrag ihrer Ausgaben „überzogenes“ Konto bei der Zentralbank, was ihr Eigenkapital verringert.[2]
- Die Bundesbank hat eine Forderung gegenüber der Bundesregierung („überzogenes“ Konto), sowie eine Verbindlichkeit gegenüber der Geschäftsbank (höherer Kontostand). Diese Forderung ist allerdings keine echte Forderung, denn die Bundesregierung kann von der Bundesbank nicht verlangen, irgendetwas zu liefern, was diese Forderung dann auflösen würde. Bundesregierung und Bundesbank sind beide staatlich. Ihre Schuldbeziehungen sind also rein statistischer Natur und stellen keine juristisch belastbaren „Schulden“ dar.
- Die Bilanz der Geschäftsbanken hat sich verlängert. Sie haben zum einen ein höheres Guthaben bei der Zentralbank, zum anderen jedoch mehr Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Empfängern, die Bargeld abheben oder eine Überweisung tätigen könnten. Somit bleibt das Eigenkapital unverändert.
- Die Empfänger bekommen eine Bankeinlage und haben somit ein erhöhtes Eigenkapital in Form von zusätzlichem Geldvermögen.
Bilanziell betrachtet, stellt sich Schritt 1 wie folgt dar:
So ergibt sich das MMT-Diktum, dass die roten Zahlen des Staates die schwarzen Zahlen (Netto-Ersparnis) der Privatwirtschaft und des Auslands (also der Empfänger) ermöglichen. Wenn der Staat ein Defizit erzielt,[3] muss die Bundesregierung Anleihen verkaufen[4] oder Kassenverstärkungskredite in Höhe des Defizits aufnehmen[5]. Dies ergibt sich aus dem Verbot der „direkten Staatsfinanzierung“. Aus funktionaler Sicht wäre es nicht nötig.
Schritt 2: Bilanzeffekte des Anleiheverkaufs
Nach dem Verkauf der Staatsanleihe wird der Erlös mit der Kontoüberziehung der Bundesregierung verrechnet. Die Bundesregierung hat einen Kontostand, der sich wieder auf den alten Kontostand (in der Praxis häufig 0) erhöht hat, dafür jedoch ausstehende Anleihen, die sie in Zukunft bedienen muss. Somit bleibt ihr Eigenkapital (Dies gilt auch für den Staat als Ganzes, wenn man die Zentralbank hinzunimmt) beim Alten, nämlich negativ.[6]
- Der Staat entzieht dem Bankensystem die Menge an Zentralbankguthaben, die er mit der Staatsausgabe neu hinzugefügt hat. Die Geschäftsbanken, die Reserven untereinander auf dem Interbankenmarkt handeln, haben das neue Zentralbankguthaben, welches ihnen dank der Staatsausgabe gutgeschrieben wurde, nun in Staatsanleihen (die als Beispiel genannten Bubills sind einjährige deutsche Anleihen) umgetauscht. Das ist ein sogenannter Aktivtausch, bei dem eine Forderung gegenüber dem Staat (Reserven) in eine andere (Bubills) getauscht wird. Dem stehen die Bankeinlagen der Empfänger als Verbindlichkeit gegenüber.
- Bei der Zentralbank verkürzt sich die Bilanz auf die Ausgangswerte, sodass die Kontostände von Bundesregierung und Geschäftsbank wieder auf null gehen.
- Die Empfänger sind von diesem Prozess nicht betroffen, wobei sie den Geschäftsbanken auf dem Sekundärmarkt Anleihen abkaufen könnten. Ihre Ersparnisse haben den Anleihenkauf auf dem Primärmarkt nicht „finanziert“, sondern wurden durch die Staatsausgabe geschaffen.
In T-Konten stellt sich Schritt 2 wie folgt dar:
MMT-Ökonomen sprechen beim Anleiheverkauf von einem „Reserve Drain”,[7] also einem Abfluss, bei dem die durch die Staatsausgaben geschaffenen Zentralbankguthaben der Geschäftsbanken wieder abgeschöpft werden. Sie werden in weniger liquide, aber dafür in der Regel höher verzinste Staatsanleihen[8] umgewandelt.
Warum „überzieht“ die Regierung ihr Konto bei der Zentralbank nicht permanent, sondern verkauft Anleihen?
Nun stellt sich die eigentliche Frage: Warum geschieht Schritt zwei? Warum schreibt das Europäische Regelwerk den Verkauf von Staatsanleihen vor, anstatt einfach das permanente Überziehen des Regierungskontos zuzulassen?
Die Antwort ist, dass der Verkauf der Staatsanleihen die Zinspolitik der Zentralbank überhaupt erst ermöglicht. Werden die Zentralbankguthaben der Geschäftsbanken nicht abgeschöpft, würden sich diese Guthaben bei den Geschäftsbanken geradezu stapeln. Dadurch sollte die Nachfrage nach Zentralbankgeld auf dem Interbankenmarkt abstürzen,[9] so dass der dortige Zinssatz auf den Einlagezinssatz fallen dürfte.
Der MMT-Begründer Warren Mosler und Matthew Forstater argumentierten in The Natural Rate of Interest is Zero (2005), dass der Interbankmarktzins immer auf null fällt. Es sei denn, dass „künstliche” geldpolitische Maßnahmen, wie ein positiver Einlagezinssatz oder der Verkauf von Staatsanleihen, dies verhindern. Würden sie nicht das Angebot an Reserven auf dem Interbankenmarkt verknappen, betrage der Marktzins eigentlich immer Null.
Richtig gelesen: Das Verkaufen von Staatsanleihen ist in erster Linie keine fiskalpolitische, sondern eine geldpolitische Maßnahme. Nach Schritt 1 ist die Staatsausgabe bereits getätigt. Sie wurde durch die Schöpfung von Zentralbankguthaben auf Anweisung der Bundesregierung „finanziert“. Die Empfänger haben die Zahlung erhalten. Stephanie Kelton zeigte dies beispielsweise in ihrem Klassiker Do Taxes and Bonds Finance Government Spending? (2000).
Bei Schritt 2 geht es nur darum, das Zentralbankguthaben der Geschäftsbanken am Interbankenmarkt zu reduzieren. Fiskalpolitisch und funktional gibt es keinen Grund, weshalb die Regierung ihr Konto nicht permanent „überziehen“ können sollte. Da die Zentralbank das Mandat hat, mit ihrer Zinspolitik die Wirtschaft zu steuern, muss sie zuvor in die Lage versetzt werden, die Zinsen zu kontrollieren. Dafür wird der Abwärtsdruck der Staatsausgaben auf den Zins reduziert, was die Erhöhung des Angebots an Zentralbankgeld in den Bankbilanzen nach sich zieht.
Durch den Verkauf der Anleihen wird täglich sichergestellt, dass die Guthaben in den Zentralbank-Konten der Geschäftsbanken nach Schritt 1 und 2 genauso groß sind wie vorher. Daher bleiben das Angebot und der Preis (Zins) auf dem Interbankenmarkt Tag für Tag stabil und werden nicht von den Staatsausgaben beeinflusst.
In den ersten 16 Jahren der Eurozone waren die Verkäufe von Anleihen maßgeblich, um das Zinsziel der Zentralbank zu treffen. Die EZB hatte einen 2 Prozent breiten Korridor zwischen dem Einlagezins und dem Spitzenrefinanzierungszins. In diesem konnte sich der Interbankenmarktzins bewegen.
Gerade der Übernachtzins (EONIA), den sich Banken gegenseitig berechneten, konnte jedoch stark (mit dem sich ändernden Angebot an Reserven) schwanken, sodass die Zentralbanken ihr Zinsziel nur mit der Hilfe der Anleihenverkäufe erreichten. Der EONIA folgte der Durchschnittsrendite auf BuBills.
2015 stellte man endgültig von einem „Korridorsystem”, in dem der Interbankenmarktzins durch Angebot und Nachfrage bestimmt wurde, auf ein „Floorsystem” um.[10] Mit ihren Anleihekäufen auf den Sekundärmarkt (Quantative Easing, kurz QE) erhöhte die Zentralbank das Angebot an Reserven auf dem Interbankenmarkt so weit, dass der Übernachtzins EONIA (nach der Umstellung der Euro Short-Term Rate, kurz: €STR[11]) auf den Einlagezins fiel. Die Durchschnittsrendite auf Bubills wurde dadurch unter den Zinskorridor gedrückt. Die Entwicklung der verschiedenen EZB-Zinssätze zeigt die folgende Grafik:
Quellen: Deutsche Finanzagentur (2024) und EZB (2024)
So gesehen ist der wirtschaftspolitische Grund für diese Anleiheverkäufe in der Eurozone seit 2015 weggefallen. Es gab und gibt jedoch immer noch das Bestreben, QE rückabzuwickeln. Dies würde eine Rückkehr zum Korridorsystem bedeuten. Der Verkauf von Staatsanleihen durch die Zentralbank würde die Menge an Reserven auf den Zentralbankkonten verknappen bzw. die Angebotskurve nach rechts verschieben, siehe folgendes Schaubild. Wenn man dies vollständig täte, würde schließlich der Einlagezins i* steigen und man wäre beim alten Korridorsystem angelangt.
Alternative wirtschaftspolitische Zwecke von Staatsanleihen
Unter anderen Umständen kann der Staat Staatsanleihen auch für andere wirtschaftspolitische Zwecke verwenden. So schreibt der MMTler Sam Levey eindrücklich, wie die USA im Zweiten Weltkrieg versuchten, durch den Verkauf von Kriegsanleihen an die Bevölkerung deren Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen zu reduzieren, um so die Preisstabilität in der Kriegswirtschaft zu wahren.
Die Regierung begann, Anleihen in Größen herauszugeben, die sich Otto-Normalverbraucher leisten konnte. Sie erklärte in großen Werbekampagnen, dass man den Konsum zurückstellen sollte, um in einer ausgelasteten Wirtschaft die Preise nicht hochzutreiben. Henry Morgenthaus Finanzministerium wusste sehr wohl, dass diese Anleihen den Krieg nicht finanzierten. Es sah sie als effektives Mittel, die Patrioten vom Verzicht zu überzeugen.
Wenn man einen festen Wechselkurs oder eine Art Goldstandard verwaltet, können Anleihen ebenfalls dazu verwendet werden, überschüssige Liquidität vom Markt aufzunehmen, in der Hoffnung, so die Wechselkurse zu stabilisieren.
Ein Land mit festem Wechselkurs muss sich dagegen wappnen, dass viele seiner Währungsnutzer gleichzeitig ihre Guthaben auf dem Devisenmarkt gegen eine andere Währung (oder Gold) tauschen, da dies den Wechselkurs drücken würde. Wenn man die Währungsnutzer stattdessen davon überzeugen kann, ihre Währungsüberschüsse in Staatsanleihen zu tauschen, sind solche plötzlichen Verschiebungen weniger wahrscheinlich, da Anleihen weniger liquide sind. Eine Strategie, die allerdings im Bretton-Woods-System nicht aufging, so Thomas Fazi und Bill Mitchel in Reclaiming the State (bald auf Deutsch erhältlich in der Edition MAKROSKOP).
Alternative zur orthodoxen Brille
Staatsanleihen wie Sparkonten sind Instrumente, die ungeplante Liquiditätsabflüsse und die Teilnahme an Märkten wie dem Interbankenmarkt oder dem Devisenmarkt verhindern. Dies soll Stabilität in diesen Märkten herstellen. Die Besitzer von Staatsanleihen werden für ihre Geduld und Zurückhaltung (meist) mit einem etwas höheren Zins als bei herkömmlichen Guthaben belohnt.[12]
Orthodoxe Politikberater wie Jared Bernstein oder Jason Furman machen es sich leicht, wenn sie nonchalant davon sprechen, dass Staaten „Geld” entweder „leihen” oder „drucken”. Die eigentlichen Handlungen, auf die sie sich dabei beziehen, sehen unter der bilanziellen Lupe ganz anders aus, so auch der Ökonom Scott Fullwiler.
Wenn Staaten sich ihre eigene Währung „leihen”, überweisen sie zunächst der Bank „Reserven” – nicht andersherum. Die Effekte auf das Zinsniveau und makroökonomische Größen sind daher meist gegensätzlich zu dem, wie sie Bernstein und Co. beschreiben. Staatsanleihen bilden einen elementaren Bestandteil unserer wirtschaftspolitischen Verfassung, spielen aber seit 2015 in der Eurozone als Instrument eine immer geringere Rolle.
Das Quantitive Easing der EZB hat den Interbankenmarktzins auf Höhe des Einlagezinses gedrückt, sodass das Zinsziel der Geldpolitik mit dem Einlagezins erreicht wird. Allerdings ist diese Entwicklung nur temporär – und noch streben die Zentralbanken eine „Normalisierung“ der Geldpolitik an. In diesem Fall würden Staatsanleihen wieder als geldpolitisches Instrument geraucht werden.
Die MMT macht sich zur Aufgabe, Prozesse wie die haushälterische Praxis von Staaten korrekt zu beschreiben und ihre (makro)ökonomische Bedeutung zu erkennen. Gleichzeitig will sie zeigen, welche Alternativen der Staatsfinanzierung angesichts wirtschaftlicher, verteilungs- und umweltpolitischer Herausforderungen möglich wären.
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