Der trügerische Traum vom Cyber-Sozialismus
Big Data als Ersatz für die „unsichtbare Hand“ des Marktes? Warum der Traum vom digitalen Sozialismus der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht gewachsen ist.
Seit Jahren geistert eine Idee durch die Köpfe von Tech-Utopisten und linken Zukunftsoptimisten: der digitale Sozialismus. Eine Gesellschaft, in der Künstliche Intelligenz, Big Data und maschinelles Lernen den Markt ersetzen, in der Algorithmen die Produktion steuern und Rechenzentren wissen, in welcher Quantität welche Angebote die Nachfrage befriedigen.
Jack Ma, Gründer des chinesischen Internetkonzerns Alibaba, brachte diese Vision einst auf den Punkt: „Mit dem Zugriff auf alle Arten von Daten können wir vielleicht die unsichtbare Hand des Marktes finden.“ Big Data, so Ma, werde die Wirtschaft berechenbar machen und den Traum einer modernen Planwirtschaft erfüllen.
Die Vorstellung klingt verführerisch – besonders für jene, die das Chaos und die Krisen der kapitalistischen Wirtschaft satt haben. Warum den anonymen Kräften des Marktes vertrauen, wenn Algorithmen objektiver, effizienter und gerechter entscheiden könnten?
Doch der Gedanke hat einen Haken. Mehrere, um genau zu sein.
Wenn Silicon Valley Marx spielt
In den Computerhallen von Facebook, Amazon und Google wird längst vorgemacht, was viele für eine Blaupause der digitalen Planwirtschaft halten. Plattformen verbinden Angebot und Nachfrage, passen Preise in Echtzeit an, lernen aus Milliarden Datenpunkten. Sie tun das, was einst Märkte leisten sollten – nur schneller, gezielter, algorithmisch.
Maschinen erkennen Muster, prognostizieren Nachfrage, optimieren Lieferketten. Für viele gilt das als Beweis: Wenn Amazon Millionen Transaktionen pro Sekunde koordinieren kann, warum nicht gleich eine ganze Volkswirtschaft?
Doch dieser Schluss trügt. Denn die Steuerung eines Unternehmens – so gigantisch es auch sein mag – ist keine Miniaturausgabe einer Volkswirtschaft. Ein Konzern plant seinen Kurs auf dem Meer des Marktes. Eine gesamtgesellschaftliche Planung müsste dagegen die Bewegungen des gesamten Ozeans vorhersehen.
Kein Problem, sagt ein Pionier des digitalen Sozialismus. Paul Cockshott meinte bereits 2008, „die Gleichung einer Ökonomie etwa in Größe der schwedischen Wirtschaft innerhalb von ungefähr zwei Minuten lösen“ zu können. Sein Buch heißt dann auch „Alternativen aus dem Rechner“.
Doch was bei Amazon funktioniert, würde bei einer Planwirtschaft im Maßstab einer modernen Volkswirtschaft an der schieren Komplexität scheitern. Der Übergang von Quantität zu Qualität ist hier kein philosophischer Satz, sondern eine praktische Grenze.
Das Wissen, das der Markt nicht hat
Eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus müsste ihr Wirtschaften an etwas anderem messen als am Profit: am guten Leben. Doch was bedeutet das konkret?
Da ginge es nicht nur um die effiziente Nutzung von Ressourcen, sondern auch um ökologische Nachhaltigkeit, faire Arbeitsbedingungen, sinnvolle Produkte, gute soziale Beziehungen. Und um all das gleichzeitig.
Die Daten, die Märkte oder Maschinen verarbeiten, erfassen diese Dimensionen nicht. Sie kennen nur Preise, Nachfrage, Angebot – nicht aber die Lebensqualität, die ein Produkt verbessert oder zerstört. Eine KI, die Konsumverhalten analysiert, kann vielleicht das nächste Kaufmuster berechnen, aber nicht entscheiden, welche Produkte und Produktionsverfahren gesellschaftlich begünstigt und wie wirtschafts- oder technologiepolitisch bestimmte Entwicklungspfade favorisiert werden.
Die Cybersozialisten und viele Anhänger einer Planwirtschaft beanstanden, Märkte würden Angebot und Nachfrage nicht wirklich koordinieren können. Das zeige sich in Wirtschaftskrisen, Überkapazitäten und Arbeitslosigkeit. Selbst aber wenn diese Koordination gelingt, so würde das lediglich – oder immerhin – dafür sorgen, dass die eine Seite die andere nicht quantitativ über- oder unterschreitet.
Dieser Erfolg sagt nichts aus über die Qualität der Prozesse, in denen Produkte Bedürfnisse formen und Nachfrage sich auf die Qualität des Arbeitens und der Arbeitsprodukte auswirkt. Von diesen qualitativen Zusammenhängen sehen die Wertabstraktion des Marktes und die cybersozialistische Fixierung auf Daten ab.
Eine nachkapitalistische Ökonomie würde ein Wissen benötigen, das sich nicht in Zahlen pressen lässt – ein Wissen über das, was die Lebensqualität sichert und entwickelt.
Der Rechenfehler der Maschinenplaner
Anhänger des digitalen Sozialismus verwechseln die Fähigkeit, riesige Datenmengen zu verarbeiten, mit der Möglichkeit, komplexe gesellschaftliche Zustände berechnen zu können.
Doch selbst in der Meteorologie, wo Milliarden Datenpunkte in Supercomputern rotieren, bleiben gegenwärtig die Prognosen über mehr als drei Tage hinaus unsicher. Die Wirtschaft ist kein geschlossenes System – sie reagiert auf kollektive Stimmungen, Krisen, Konflikte und irrationale Erwartungen. Sie ist, wie die Natur, ein offenes System. Es zeigt, wie der Berliner Professor Geert Keil formuliert, „eine sensible Abhängigkeit von minimalen Schwankungen der Anfangsbedingungen, sodass eine Vorausberechnung des Systemverhaltens selbst unter deterministischen Annahmen schon über kurze Zeiträume hinweg unmöglich ist.”
Nichtlineare Zusammenhänge, unvorhersehbare Ereignisse, menschliche Willkür – all das entzieht sich der Berechnung. Und selbst wenn man alles messen könnte, bliebe die Frage: Wer entscheidet, welche Daten wichtig sind?
Schon die Planwirtschaften des 20. Jahrhunderts sind an der Informationsasymmetrie zwischen Auftraggeber und Beauftragten gescheitert. In der Sowjetunion und in der DDR gaben Betriebe ihre Lagerbestände und ihre Produktionskapazitäten zu niedrig an, um sich Vorteile zu verschaffen. Und die Planzentrale waren zwar weisungsbefugt, blieb aber von diesen Informationen abhängig. Der Computer löst dieses Problem nicht – er digitalisiert es nur.
Die Maschine ohne Subjektivität
Cybersozialisten stehen gedanklich näher an der neoklassischen Volkswirtschaftslehre, als sie zugeben möchten. Beide gehen davon aus, dass Wirtschaft im Kern ein gigantischer Informationsabgleich ist: Daten werden gesammelt, Signale gesendet, Entscheidungen optimiert.
Sich per „Herdentrieb” selbst verstärkende Überschätzungen oder Unterschätzungen zukünftiger Entwicklungen spielen auf Märkten eine große Rolle. Einen Markt mit einem Netzwerk von Computern gleichzusetzen, dagegen sprechen schon die Eigendynamiken dieser Erwartungserwartungen. Computersozialisten wollen digital die Marktwirtschaft ersetzen. Faktisch nehmen sie eine amputierte Marktwirtschaft zum Vorbild. Von ihr haben sie die Börse, die Rating-Agenturen und andere Institutionen marktwirtschaftlicher Selbstreflexion abgetrennt.
Oskar Lange, der polnische Ökonom, schrieb schon 1967: „Lassen Sie uns die Gleichungen auf einen Computer übertragen, und wir haben die Lösung in weniger als einer Sekunde.“
Doch Wirtschaft ist keine Gleichung. Sie ist ein Feld aus Interessen, Deutungen, Macht. Zahlen sind nie neutral. Sie müssen interpretiert werden. Und Interpretation bedeutet Politik. Ein Computer kann berechnen, aber nicht bewerten. Er kann Daten verarbeiten, aber nicht entscheiden, welche Ziele eine Gesellschaft verfolgen sollte. Das bleibt menschliche Aufgabe.
Wenn der Algorithmus die Welt erklärt
Befürworter einer KI-gesteuerten Wirtschaft argumentieren, dass Maschinen die Präferenzen der Markteilnehmer mittels digitaler Informations- und Kommunikationstechnologie besser erheben können, als dies Märkte vermögen. Doch selbst wenn das stimmt – wer übersetzt diese Wünsche in Produktion, Infrastruktur, Technologiepolitik?
Wer entscheidet, welche Fabriken wo gebaut werden? Welche Technologien Vorrang haben? Welche Infrastrukturen und allgemeinen Voraussetzungen des Wirtschaftens erforderlich sind? Welche Bedürfnisse gesellschaftlich favorisiert werden und welche nicht? Das sind keine Rechenfragen, es sind politische Fragen. Die Vorstellung, der Computer könne den Menschen diese Entscheidungen abnehmen, führt in eine technokratische Sackgasse. Sie ersetzt Herrschaft nicht – sie verschleiert sie.
Der Soziologe Dominik Piétron warnte bereits 2021 vor der Idee einer selbstregulierenden, kybernetischen Planwirtschaft: „Ein auf Feedbackdaten basierter Verteilungsalgorithmus ist keineswegs frei von Herrschaft. Er birgt vielmehr die Gefahr einer anonymen, intransparenten Form von Gesellschaftskontrolle, die nur schwer demokratisch zur Verantwortung gezogen werden kann.“
Daten sind nicht selbstevident
Daten sind nie einfach „da“. Sie werden erhoben, gefiltert, bewertet. Sie spiegeln Interessen, Perspektiven und Machtverhältnisse wider: „Daten sind schon heute in Unternehmen das größte Problem“, sagt Sarah Spiekermann, Professorin für Wirtschaftsinformatik an der Universität Wien. „Sie sind unverständlich, komplex, wertgeladen und fehleranfällig.“
Das zeigt sich nicht nur bei der alltäglichen Unternehmenssteuerung, sondern auch bei der Frage, was „Effizienz“ oder „Erfolg“ überhaupt bedeuten soll. Eine neue Maschine, eine Entlassung oder eine Marketingkampagne – all das kann kurzfristig Profit bringen oder es kann sich herausstellen, dass man aufs falsche Pferd gesetzt hat.
Wirtschaftliche Oberziele sind selten eindeutig. Ihre Konkretisierung im Einzelfall folgt keiner Deduktion, sondern erfordert Urteilskraft unter Bedingungen einer wenig vorhersagbaren Zukunft. Wer alles einem Algorithmus überlässt, verliert die Fähigkeit zum Urteil.
Innovation braucht Regelbruch
Maschinen können Routineprozesse stabilisieren – aber keine Innovationen hervorbringen. Das „Internet der Dinge“ mag Nachschubketten perfekt regeln. Doch kreative Durchbrüche entstehen nicht aus Feedbackschleifen, sondern aus Regelbrüchen: „Wenn Sie ein innovatives System wollen und keinen Friedhof, auf dem es jeden Tag gleich aussieht“, sagt der Physiker Dirk Helbing, „dann können Sie das nicht regelbasiert machen.“
Mit anderen Worten: Kreativität heißt, ausbrechen zu können – nicht, Muster zu bestätigen.
Die Falle der Selbstregulation
Die Vision vom Computersozialismus reproduziert letztlich das alte Marktdenken. Nur dass diesmal nicht die „unsichtbare Hand“ des Marktes, sondern Computerprogramme regieren sollen.
Doch auch der schnellste Algorithmus ersetzt keine Debatte darüber, was produziert oder konsumiert werden soll. Er bleibt innerhalb der Logik des Bestehenden: Effizienz, Geschwindigkeit, geringe Transaktionskosten. Die qualitative Seite des Wirtschaftens – die Frage nach nichtbeabsichtigten indirekten Effekten, nach den Wirkungen der Produkte und des Arbeitens auf die Lebensqualität – all das bleibt außen vor.
Wer alles messen will, muss es vorher vereinheitlichen. Das passt zum Traum der formalen Rationalität. Er beherrscht Fanatiker der Marktwirtschaft und ihre digitalen Widergänger gleichermaßen. Beiden kommt es auf die möglichst reibungslose und schnelle Zirkulation standardisierter und möglichst einfacher Informationen an.
Dass Preise etwa, die die Cybersozialisten nur durch quantifizierbare Informationen ersetzen wollen, ein unterkomplexes Informationskonzentrat sind, stört beide Gruppen nicht. Beide setzen darauf, unterschiedliche Qualitäten auf Quantitäten herunterbrechen zu können, koste es was es wolle. Beide ignorieren, dass „nicht alles, was zählt, gezählt werden kann, und nicht alles, was gezählt werden kann, zählt!“ (Albert Einstein).
Deliberative Demokratie statt automatische Regulation
Eine gerechte Wirtschaftsordnung braucht keine zentralen Superrechner, sondern demokratische Deliberation – die gemeinsame Beratung und Entscheidung über gesellschaftliche Ziele.
Anhänger deliberativer Demokratie betonen: Erst im Prozess des Nachdenkens, Diskutierens, Widersprechens entstehen reflektierte Präferenzen. Freiheit, schreibt Benjamin Barber, ist das, „was aus diesem Prozess entspringt, nicht was in ihn eingeht“.
Die Idee, Bedürfnisse direkt in Daten zu übersetzen, ohne öffentliche Beratung und Erwägung, ist das Gegenteil davon. Sie verwandelt Bürger in Inputgeber. So droht eine Verengung des Politischen auf technische Fragen – und eine neue Form der Herrschaft: anonym, algorithmisch, undurchschaubar.
Das Mehrdimensionale wieder lernen
Jede Gesellschaft braucht Informations-, Koordinations- und Rückkopplungsmechanismen. Doch sie darf sich nicht in Zahlen verlieren. Ein Wirtschaftssystem, das auf Lebensqualität, Solidarität und ökologische Nachhaltigkeit zielt, braucht eine andere Logik: qualitative, stoffliche, vielschichtige Maßstäbe.
Es muss Abwägung zulassen, Widerspruch aushalten, Konflikt integrieren. Nicht alles lässt sich in Geldwerten ausdrücken – und nicht alles, was sich nicht berechnen lässt, ist irrational.
Ein „mehrdimensionaler Wertbegriff“, schrieb der Ökonom Freimann schon 1984, sei notwendig, um gesellschaftliche Wohlfahrt real zu erfassen. Das sei unbequem, aber realistisch.
Fazit: Die Zukunft gehört nicht dem Algorithmus
Der Traum vom digitalen Sozialismus entspringt einem nachvollziehbaren Impuls: dem Wunsch, wirtschaftliche Ungleichgewichte und Krisen durch Rationalität und Vernunft zu ersetzen. Doch Vernunft ist mehr als bloße Rechenleistung. Eine Gesellschaft des guten Lebens wird digitale Technologien nutzen – keine Frage. Aber sie wird sie politisch, ethisch, sozial einbetten müssen.
Die Zukunft gehört nicht dem Algorithmus, der uns sagt, was wir tun sollen, sondern den Menschen, die lernen, gemeinsam zu erwägen, zu beraten und zu entscheiden, was sie wollen.