ASEAN – die stille Macht: Wie Südostasien zur Schlüsselregion der globalen Politik wird
Mit starkem Wachstum, geschickter Diplomatie und globaler Vernetzung wird ASEAN zum strategischen Kraftzentrum Asiens. Die EU wirkt daneben erstaunlich schwerfällig.
Unter dem Motto „Inklusivität und Nachhaltigkeit” stand der 47. Gipfel der Vereinigung südostasiatischer Staaten (ASEAN) im malaysischen Kuala Lumpur. Nicht nur die Spitzenpolitiker der bald elf ASEAN-Mitgliedsstaaten (Brunei, Kambodscha, Indonesien, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam und Timor-Leste) waren dort in der letzten Oktoberwoche zugegen, sondern auch hochrangige Staats- und Regierungschefs aus aller Welt: Darunter Donald Trump, als Vertreter eines der elf offiziellen Dialogpartner-Länder[1] von ASEAN, oder die Präsidenten Südafrikas und Brasiliens.
Die hochkarätige Besetzung des Gipfels und die wichtigen Dialogpartner unterstreichen die zunehmende geopolitische Bedeutung der Region, der für 2025 ein Wirtschaftswachstum von 4,7 Prozent prognostiziert wird.
Nur virtuell nahm der indische Premier Narendra Modi teil. Angesichts des schwelenden Handelsstreits mit den Vereinigten Staaten wollte er eine persönliche Begegnung mit dem US-Präsidenten vermeiden, hieß es. Dennoch ermöglichte die Anwesenheit von Trump, die schwierige globale Wirtschaftslage und insbesondere den anhaltenden Handelsstreit zwischen den USA und China sowie die Auswirkungen der US-Zölle auf die Agenda des Gipfels zu setzen. Trump unterzeichnete am Rande des ASEAN-Gipfels eine Reihe von Handelsabkommen mit vier südostasiatischen Partnern zur Diversifizierung der US-Lieferketten, zur Sicherung des Zugangs zu Seltenen Erden und zur Erweiterung der Märkte für US-Industrie- und Agrarexporte.
Diese Abkommen können allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht die USA, sondern China in der Region die entscheidende Rolle spielt. Gemeinsam mit ASEAN sowie Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland formt das Reich der Mitte die größte Freihandelszone der Welt: RCEP. Sie umfasst etwa 30 Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts und der Weltbevölkerung.
ASEAN – ein Erfolgsmodell?
ASEAN sei die einzige Organisation der Welt, die jedes Jahr alle großen Mächte zusammenbringt, betont der singhalesische Diplomat und Autor des Buches The ASEAN Miracle Kishore Mahbuani. Ihre weltpolitische Bedeutung übersteigt somit bei weitem die, die ihre einzelnen Mitglieder allein erreichen könnten.
Hier kommt das erstmals 2008 formulierte Prinzip der ASEAN centrality zur Geltung: Das Bündnis als Ganzes soll die erste Adresse sein für Fragen regionaler Herausforderungen und des diplomatischen Umgangs mit den Großmächten.
Besser als der Begriff centrality passt laut Mahbubani aber die Vorstellung von einer Brücke zwischen den konkurrierenden Mächten. Das Ziel der 1967 gegründeten ASEAN sei, den Frieden untereinander zu wahren und gemeinsam die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben, eine Politik der guten Nachbarschaft zu verfolgen und dabei die Unabhängigkeit von den großen Machtblöcken zu bewahren. Und das durchaus erfolgreich: „ASEAN ist ein lebendiges und atmendes modernes Wunder“, schreibt Mahbubani. Keine andere regionale Organisation habe so viel für die Verbesserung der Lebensbedingungen eines großen Teils der Menschheit getan wie die Vereinigung südostasiatischer Staaten.
ASEAN und Europa
Das steht in einem deutlichen Kontrast zur Lage in Europa, wo die Wirtschaft stagniert und die Mehrheit der Menschen eher pessimistisch in die Zukunft blickt. Als Teil des „westlichen Bündnisses“ folgt die EU weitgehend dem harten US-Kurs gegen China, obwohl das mit Trump ausgehandelte Handelsabkommen für Europa erhebliche Nachteile bringt. Zudem erhöhte der Konflikt mit Russland und der strategische Verzicht auf russisches Gas die Energiekosten enorm. Das Friedensprojekt EU verhinderte zwar militärische Konflikte zwischen den Mitgliedern, schuf aber keinen Frieden auf dem Kontinent.
Innerhalb von kurzer Zeit seien die wichtigsten Eckpfeiler, die Europas Außenpolitik und Weltsicht stützen, unterspült worden, teils sogar ganz weggebrochen, beklagt der FAZ-Journalist Nikolas Busse. Das sei unter anderem die Folge „einer weltfremden Mentalität“, die viel zu lange das Denken und Handeln bestimmt habe. Dass die EU eine „normative Macht“ sei, die ihre Wertvorstellungen in den Rest der Welt exportieren könne, habe immer etwas Neokoloniales an sich gehabt, schreibt Busse. Die Lösung liege nicht darin, die EU zu stärken, sondern es brauche in erster Linie starke Mitgliedstaaten, wirtschaftlich wie militärisch. Trump, Xi Jinping oder Putin stünden für das, „womit es Europa zunehmend zu tun bekommt: Länder, die ihre nationalen Interessen rücksichtslos verfolgen.“
Dabei galt Europa vor 20 Jahren noch als Vorbild für die sich damals entwickelnden regionalen Zusammenschlüsse der Welt wie Mercosur und eben auch ASEAN. Die deutsche Politologin Ulrike Guérot und der malaysische Ökonom John Pang berichten über ihre Erfahrung, die sie in den Nuller-Jahren gemacht haben. Beide waren damals als akademische Berater an der Entwicklung von ASEAN beteiligt.
Damals galt das EU-Modell – Rechtsstaat, Binnenmarkt, gemeinsame Währung, gemeinsame Entscheidungsverfahren – global als Blaupause, erinnert sich Guérot. Insbesondere nach dem Irak-Krieg ruhten – auch in Südostasien – große Hoffnung auf dem europäischen (Werte-)Modell, nicht zuletzt aufgrund der aggressiven Außenpolitik der USA. Das Selbstverständnis von ASEAN habe lange unter dem Druck eurozentrischer Erwartungen gestanden, bestätigt John Pang: „Wenn ihr euch gut benehmt, werdet ihr einmal genauso erfolgreich wie die EU“. Glücklicherweise, so schiebt er nach, habe ASEAN diesem Druck standgehalten, seine spezielle Identität bewahrt und sich für den eigenen, den „ASEAN-Weg“ entschieden. Durch Eigenständigkeit und Anpassungsfähigkeit habe die Region ihre Relevanz erhalten.
Der ASEAN-Weg
Vier wichtige Prinzipien charakterisieren den „ASEAN-Weg“:
- Das Konsensprinzip: Alle Entscheidungen werden nicht durch Mehrheitsbeschluss, sondern nur im Konsens gefällt. Alle müssen zustimmen – auch wenn es länger dauert. So finden in der diversesten Region der Welt mit einer Bevölkerungszahl von 700 Millionen – darunter Muslime, Christen oder Buddhisten - jährlich über 1000 Tagungen statt.
- Das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der jeweiligen Mitgliedsstaaten.
- Informalität und flexible Kooperation: Statt auf starre Institutionen oder rechtlich bindende Verträge setzt ASEAN auf informelle Treffen, Dialoge und schrittweise Annäherung. Ein Sekretariat koordiniert und verwaltet die Organisation und die Arbeit zu den wichtigen Aufgabenbereichen des Bündnisses: Politik / Sicherheitspolitik, Wirtschaft und sozio-kulturelle Zusammenarbeit.
- Geduld, Harmonie und Konfliktvermeidung: Vermeidung offener Konfrontationen, zurückhaltende diplomatische Sprache.
Dass sich Europa und die Staaten Südostasiens für unterschiedlichen Wege regionaler Zusammenarbeit entschieden, hat für Pank und Guérot historische Gründe. Das Konzept starker Nationalstaaten, das im 19. Jahrhundert in Europa entstand, wurde spätestens nach zwei Weltkriegen als die Hauptursache für Kriege angesehen. Deswegen wollte man sie über supranationale Strukturen entmachten und somit befrieden.
In Südostasien hingegen, wo die nationalstaatliche Organisation ein Produkt des Kolonialismus ist, habe man sich jedoch dieser Konstruktion pragmatisch gefügt – und in diesem Rahmen die Befreiung vom Kolonialismus erreicht. Deswegen sei die nationale Souveränität eine überaus wertvolle Errungenschaft, auf die kein südostasiatischer Staat verzichten könne, trotz vieler damit verbundener Probleme.
Eines davon ist die willkürliche Grenzsetzung durch die Kolonialmächte, die im gesamten globalen Süden noch heute immer wieder zu zwischenstaatlichen Konflikten führt. Anlässlich des jüngsten ASEAN Gipfels wurde im schon lange schwelenden Grenzkonflikt zwischen Kambodscha und Thailand unter Anwesenheit von Donald Trump eine Waffenruhe unterzeichnet, an deren Durchsetzung dieser wohl nicht unwesentlich beteiligt war.
Probleme des ASEAN-Wegs
ASEAN wird immer wieder von unterschiedlichen Seiten aus kritisiert. Ein Beispiel ist die Machtübernahme durch eine Militärjunta in Myanmar. Der daraus resultierende Bürgerkrieg löste eine Flüchtlingswelle aus, Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Trotzdem hält sich ASEAN an das Prinzip der Nichteinmischung und verhängte – im Gegensatz zu internationalen Akteuren – keine Sanktionen gegen das Militärregime. Stattdessen einigten sich die Mitglieder auf einen Kompromiss, um zwischen den Bürgerkriegsparteien zu vermitteln, den das Militärregime allerdings weitgehend ignorierte. Die Einheit der Organisation wurde bewahrt, aber deren relative Machtlosigkeit einem Mitglied gegenüber schwächte ihre Glaubwürdigkeit international.
Ähnliches gilt im Verhältnis der Organisation gegenüber China. Einige Mitgliedsstaaten und Partner von ASEAN kritisieren, dass das Bündnis nicht härter gegen Chinas umstrittene Territorialansprüche um wichtige Inseln und Seewege sowie die militärische Präsenz des Landes im Südchinesischen Meer vorgeht. Nicht alle Mitgliedsstaaten sind jedoch von diesem Konflikt betroffen und so gut wie alle befürchten eine Verschlechterung der Wirtschaftsbeziehungen zu China. Seit Jahren arbeitet man an einem Code of Conduct für diese Region, ein Unterfangen, das nur schleppend vorangeht.
Die Grundsatzfrage, die sich immer wieder für ASEAN stellt: Können die Mitgliedsstaaten ihre nationalen Einzelinteressen mit den Interessen der Organisation in Einklang bringen und es so vermeiden, in die Konflikte zwischen den großen Machtblöcken hineingezogen zu werden?
Die Entscheidung der Philippinen etwa, angesichts des Konflikts mit China stärker mit den USA militärisch zusammenzuarbeiten, bringt die übrigen ASEAN-Staaten in Zugzwang. Sie bevorzugen mehrheitlich eher Balanceakte wie die von Vietnam, das eine strategische Partnerschaft mit den USA, Australien und anderen Staaten einging und gleichzeitig die wirtschaftlichen Verbindungen zu China stärkte.
Kritiker befürchten auch, dass ASEAN am Ende nichts weiter als eine Quasselbude (talk-shop) sein wird und seine in der Vision 2045: „Our Shared Future“ formulierten ehrgeizigen Ziele aufgrund mangelnder Handlungsfähigkeit nicht erreichen könnte.
Das strategische 20-Jahres-Rahmenwerk soll ASEAN auf den Weg zu einer „widerstandsfähigen, innovativen, dynamischen und menschenorientierten (people-oriented) Gemeinschaft“ bringen. Den hohen Erfolgschancen durch junges Arbeitskräftepotential und wirtschaftliche Dynamik stehen bedeutende Hindernisse entgegen, insbesondere die großen Unterschiede in Einkommen, Infrastruktur, Bildung, Institutionen und Technologiefähigkeit, was die Vereinheitlichung von Regeln, Standards und politischen Maßnahmen sehr erschwert.
Kishore Mahbubani ist dennoch optimistisch: Die Stärke von ASEAN beruhe unter anderem gerade auf den vermeintlichen – aus dem ASEAN-Weg resultierenden – Schwächen. Im Übrigen ginge es nicht darum, „in den Himmel zu kommen“, sondern darum, „zu verhindern, dass man in der Hölle landet“.
Von ASEAN lernen?
In der heutigen multipolaren Welt, die von Großmachtkonkurrenz gekennzeichnet sei, könne ein Vielvölkerkontinent wie Europa nicht die erste Geige spielen., schreibt FAZ-Kolumnist Busse. Die „Vereinigten Staaten von Europa“, die einst als Ziel ausgegeben wurden, seien nicht nur politisch unrealistisch, sondern auch der falsche Maßstab. „Wenn es gut läuft, halten wir Rang drei, hinter Amerika und China. Wenn es schlecht läuft, zerfällt die EU, und Europa wird wieder in Einflusszonen auswärtiger Mächte aufgeteilt.“
Doch Busses Best-Case-Szenario erscheint heute schon als unwahrscheinlich: „Die Musik spielt in Asien und selbst die USA und Südamerika orientieren sich mehr und mehr westwärts über den Pazifik, und immer weniger ostwärts über den Atlantik,“ stellt der Think-Tank Swiss Institute for Global Affairs (SIGA) fest.
Könnte die EU von heute also etwas von ASEAN lernen? Ja, sagt Mahbubani, denn es gehe nicht um Ideale, sondern den Umgang mit Realitäten. Zwar könne keine Organisation einfach Frieden zaubern. Das ASEAN-Modell aber stehe für die bestmögliche, vielleicht sogar einzige Möglichkeit für Einzelstaaten, in einer bröckelnden Weltordnung ihre Autonomie zu bewahren.
Im Falle der EU bleibt Mahbubani allerdings skeptisch: Die Europäer hätten bisher nicht verstanden, wie sehr sich die Welt verändert hat. Aber: „Nur wer die Welt versteht, kann sich in ihr zurechtfinden.“
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