Makroskop
Editorial

Was uns steigende Produktivität ermöglicht

| 27. November 2025

Liebe Leserinnen und Leser,

eine der bekanntesten Anekdoten über den britischen Ökonomen John Maynard Keynes ist eine Vorhersage: 1930 prognostizierte er den Engländern, die damals noch circa 48 Stunden arbeiteten, eine 15-Stunden-Woche im Jahr 2030. Technologischer Fortschritt würde immense Produktivitätssteigerungen ermöglichen, sodass dieselbe Menge an Gütern mit viel weniger menschlicher Arbeit produziert werde.

Keynes hat nur teilweise Recht behalten. Tatsächlich ist die Arbeitsproduktivität – hier ausgedrückt als BIP pro Arbeitsstunde – immens angestiegen, in England und anderswo um das 10-fache. Dennoch arbeiten die Briten heute circa 32 Wochenstunden, obwohl – so Werner Vontobel in dieser Ausgabe – wir uns immer noch das Dreifache des Lebensstandards (vereinfacht Produktivität) von 1930 leisten könnten, wenn wir unsere Arbeitszeit Keynes-treu auf 15 Wochenstunden reduzieren würden. Wäre es besser gewesen, weniger produktiv zu sein und dafür heute mehr Zeitsouveränität zu haben? Mitunter eine sehr individuelle Frage.

Tatsache aber ist: Produktivität bringt wachsenden Wohlstand mit sich – die Frage ist nur, wie dieser verteilt wird. Obschon die deutsche Gesellschaft schon seit vielen Jahrzehnten altert, ist der Wohlstand von Arbeitnehmern und Rentnern über die lange Frist angewachsen, konstatiert MAKROSKOP-Herausgeber Heinrich Röder. Der Sozialstaat und die Gewerkschaften haben es möglich gemacht.

Auch der demographische Wandel bedroht entgegen der landläufigen Meinung den Wohlstand nicht – dank der Produktivitätsfortschritte. Der Statistiker Gerd Bosbach zeigt zusammen mit dem Journalisten Klaus Bingler: Werden auch in Zukunft mehr Waren und Dienstleistungen produziert, kann bei einer schrumpfenden Bevölkerung jeder ein größeres Stück vom Kuchen abhaben – zumindest theoretisch.

Und das ist keine Zukunftsmusik: Obwohl sich die Lebenserwartung zwischen 1991 und 2018 um mehr als 5 Jahre erhöht hat, ist das reale BIP um fast die Hälfte angestiegen. Und das, obwohl man heute durchschnittlich kaum mehr als 3 Prozent arbeitet als damals, wie Bosbach und Bingler zeigen. 

So betrachtet, präsentiert sich die hitzig geführte Rentendebatte in einem anderen Licht. Denn kaum jemand spricht darüber, dass die Rentenfragen auch immer Verteilungsfragen sind. Es muss aber nicht weniger, sondern es darf mehr verteilt werden – dank der steigenden Produktivität. Die Diskussion darüber, ob Rentenreformen die Beitragszahler oder Rentner stärker belasten sollen, drängt daher die eigentlich wesentliche Frage in den Hintergrund: wie vergrößert man auch in Zukunft den Kuchen, damit beide Gruppen größere Stücke abbekommen.