Wie das IW Deutschland zum Europameister der Sozialausgaben rechnet
Mitten in der Rentendebatte präsentiert das IW Deutschland als Spitzenreiter der Sozialausgaben. Das ist zwar schlagzeilentauglich formuliert, aber inhaltlich irreführend.
Pünktlich zu den Verhandlungen der Bundesregierung zum Rentenpaket veröffentlicht das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine Studie zu den deutschen Staatsausgaben im europäischen Vergleich. Das Ergebnis, das politische Wirkung entfalten soll: Deutschland ist Spitzenreiter. Die Schlussfolgerung des Forschungsinstituts der Arbeitgeberverbände fällt wenig überraschend aus: Der Bundespolitik wird geraten „einem weiteren Aufwuchs der staatlichen Aktivität und vor allem der Sozialausgaben entgegenzutreten“.
Im Mittelpunkt der IW-Argumentation steht der Anteil der Sozialausgaben an den gesamten öffentlichen Ausgaben. Aussagekräftiger für internationale Vergleiche ist jedoch der Anteil am Bruttoinlandsprodukt. Hier liegt Deutschland nicht auf Platz eins. Doch schon die vom IW herangezogene Statistik selbst widerspricht der eigenen Botschaft.
Deutschland nur auf Platz sechs
Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Selbst die vom IW gewählte Kennziffer macht Deutschland keineswegs zum europäischen Spitzenreiter. Für das Jahr 2023 lag der Anteil der Sozialausgaben an den staatlichen Gesamtausgaben hierzulande auf Platz sechs. Finnland führt mit 46 Prozent, gefolgt von Luxemburg, Dänemark, Frankreich und Spanien. Island bildet mit 24 Prozent den klaren Ausreißer nach unten.
Um Deutschland dennoch an der Spitze zu platzieren, verzichtet das IW in seiner gesamten Studie auf einen klassischen Ländervergleich. Stattdessen arbeitet das Institut mit Regionen: Benelux, die nordischen Länder sowie Österreich und die Schweiz. Diese regionalen Durchschnittswerte werden anschließend mit Deutschland und dem EU-Durchschnitt verglichen.
Durch diese Konstruktion fallen zwei Länder aus dem Blick, die höhere Quoten aufweisen als Deutschland: Frankreich und Spanien. Das IW begründet seine Auswahl damit, die genannten Regionen seien „hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Entwicklung und kulturellen Prägung besonders geeignet, um Deutschlands Ausgabenpolitik einzuschätzen“. Warum das zweitgrößte EU-Land Frankreich und der direkte Nachbar Deutschlands nicht dazugehören, bleibt unerklärt. Der statistische Effekt ist hingegen eindeutig: Deutschlands Quote wirkt höher, als sie wäre, würde man alle Vergleichsländer einbeziehen.
Hinzu kommt: Die regionalen Durchschnittswerte fallen zwangsläufig niedriger aus, da alle Gruppen zu Ländern gehören, deren Quoten unter dem deutschen Wert liegen. Island etwa zieht trotz kleiner Bevölkerung den Schnitt der nordischen Länder deutlich nach unten. Ohne Island läge die skandinavische Region bei 41,4 Prozent und damit vor Deutschland.
Schlagzeile statt Einordnung
Mit dieser Konstruktion gelangt das IW zu einem Ergebnis, das zwar schlagzeilentauglich formuliert, aber inhaltlich irreführend ist. In seiner Zusammenfassung schreibt das Institut: „Mit 41 Prozent der gesamten Ausgaben wendet Deutschland am aktuellen Rand mehr für die soziale Sicherung auf als die Vergleichsgruppen, und somit insbesondere auch mehr als die nordischen Länder.“ Eine direkte Behauptung, Deutschland sei Europameister der Sozialausgaben, steht zwar nicht im Text. Die Formulierung legt diese Interpretation aber nahe.
Ein Blick auf die Entwicklung der Sozialausgaben im EU-Vergleich zeigt zudem ein anderes Bild: Deutschland liegt leicht über dem EU-Durchschnitt, gemessen am BIP aber nahezu auf gleicher Höhe. Beide Werte bewegen sich seit Jahren nahezu seitwärts. Der Anteil der Sozialausgaben an den Gesamtausgaben ist seit 2015 sogar leicht rückläufig.
Dennoch warnt das IW die Bundesregierung nachdrücklich vor einem „weiteren Aufwuchs“ der Sozialausgaben. Ein solcher Aufwuchs ist in den vorliegenden Zahlen allerdings nicht zu erkennen.
Die Botschaft vom angeblich ausufernden deutschen Sozialstaat ist fachlich kaum haltbar, verbreitet sich aber dennoch schnell. Zahlreiche Medien übernahmen die Deutung des IW: Von Rheinischer Post über Handelsblatt bis hin zur Tagesschau wurde berichtet, Deutschland habe die höchsten Sozialausgaben Europas. Boulevardmedien formulierten es entsprechend zugespitzt.
Welche Auswirkungen diese verzerrte Darstellung auf die politische Debatte über den Sozialstaat haben wird, bleibt offen. Klar ist jedoch: Die Studie des IW trägt mehr zur Stimmungsmache als zur sachlichen Einordnung bei.