Der gefährliche Plan mit den eingefrorenen russischen Geldern
Bundeskanzler Friedrich Merz drängt die EU dazu, die eingefrorenen russischen Vermögenswerte als Sicherheit für ein Darlehen an die Ukraine zu nutzen. Warnungen vor diesem Plan scheinen ihn nicht zu beunruhigen.
„The Econoclasts“ heißt der neue wöchentliche Podcast, den das anglo-sächsische Magazin UnHerd am 29. Oktober startete. Als Hosts konnte man den deutschen Wirtschaftsjournalisten und Keynes-Gesellschaft-Preisträger Wolfgang Münchau sowie den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis gewinnen – eine erfrischende Mischung heterodoxer Kommentatoren. Jede Folge, so das Konzept, soll eine ökonomische Orthodoxie „entzaubern“ (debunk).
Die erste Zielscheibe Münchaus ist das Narrativ, Europa „helfe“ der Ukraine, indem es Russlands Vermögen, die sich in Europa befinden, „beschlagnahme“. Diese Vermögen – rund 210 Milliarden Euro, die der russischen Zentralbank gehören – wurden nach Russlands Invasion in der Ukraine eingefroren. 185 Milliarden Euro davon liegen in Brüssel beim Finanzdienstleister Euroclear, der Rest bei Banken in Frankreich und Luxemburg.
Nachdem US-Präsident Donald Trump die Selenskyj-Regierung nicht länger mit Geldern aus dem US-Haushalt stützt, entwickelten in den vergangenen Monaten der EU-Rat und die EU-Kommission ein Konstrukt namens Special Purpose Vehicle (SPV), um diese russischen Vermögenswerte zur Finanzierung der Ukraine einzusetzen.
Um die rechtlichen Hürden zu umgehen, sollen diese Vermögenswerte als Kreditsicherung für ein Darlehen von 140 Milliarden Euro dienen, das von privaten Investoren aufgenommen wird und den die Ukraine später aus russischen Kriegsentschädigungen tilgen soll. Verweigere Russland die Entschädigung, so die Argumentation, könnten die Vermögenswerte beschlagnahmt werden.
Derzeit ist der Vorstoß aufgrund des Widerstands Belgiens blockiert. Da Euroclear in Brüssel sitzt, verlangt Belgien, dass die EU-Staaten das volle juristische Risiko gemeinsam tragen. Beim Treffen der EU-Finanzminister am 13. November in Brüssel scheiterte ein Kompromiss; nun soll das Thema auf dem EU-Gipfel am 18. Dezember landen.
Seit der ersten Folge von „The Econoclasts“ ist nun ein Monat vergangen. In der Zwischenzeit ist die EU durch den amerikanisch-russischen 28-Punkte-Friedensplan unter enormen Druck geraten. Unter Punkt 14 heißt es dort, dass 100 Milliarden Dollar der in Europa eingefrorenen russischen Vermögenswerte in US-geführte Maßnahmen zum Wiederaufbau und zur Investition in die Ukraine fließen sollen; der Rest soll in einem separaten amerikanisch-russischen Investmentvehikel angelegt werden, das gemeinsame Projekte in ausgewählten Regionen umsetzt.
Münchaus richtiges Argument
Münchau argumentiert – und Varoufakis pflichtet ihm bei –, dass dieses SPV zum Scheitern verurteilt ist. Denn das angebliche Darlehen sei in Wahrheit ein verkappter Zuschuss: Am Ende zahlen die europäischen Steuerzahler. Die Ukraine kann nicht zahlen, ein siegreiches Russland wird nicht zahlen, und niemand in Europa wird es wagen, die Vermögenswerte tatsächlich zu beschlagnahmen. Und zwar nicht nur aus juristischen und geopolitischen Gründen, sondern weil eine solche Beschlagnahmung das Vertrauen in die EU-Finanzarchitektur erschüttern und Euroclear schwer beschädigen würde.
Mehrere Gespräche, die ich in Berlin mit diplomatischen und regierungsnahen Kreisen geführt habe, bestätigen Münchau: Die eingefrorenen russischen Vermögenswerte sind ein reiner PR-Trick, um die Steuerzahler glauben zu lassen, sie müssten das Darlehen nicht finanzieren. Die europäischen Staatschefs wissen, dass sie eine solche Belastung nicht offen verlangen können, während sie gleichzeitig wegen wachsenden Staatsschulden Alarm schlagen und Kürzungen der Sozialausgaben fordern.
Dass der russische Botschafter in Berlin, Sergei Netschajew, den Plan als „faktische Aneignung“ bezeichnete, war zwar vorhersehbar. Aber Euroclear ging in einem Brief noch weiter und stellte fest, das Darlehen werde außerhalb der EU als „Enteignung“ wahrgenommen.
Münchaus falsches Argument
Doch Münchau beließ es nicht dabei. Für ihn ist dieses scheiternde SPV vor allem ein Symptom europäischer Inkompetenz:
„Es gibt nicht viel strategisches Denkvermögen in Europa. Sie erinnern mich an Schachspieler, die nur den nächsten Zug sehen und dann überrascht und beleidigt sind, wenn der Gegner zurückschlägt […] Die Beschlagnahme der Vermögenswerte ist einer dieser kurzsichtigen Züge. Er wird nicht helfen, er wird den Konflikt nicht lösen, und es gibt keinen Weg zum Sieg.“
Bei dieser Bemerkung über die europäischen Staatschefs hat der 61-jährige Wirtschaftsjournalist möglicherweise aber eine der wichtigsten Lehren Niccolò Machiavellis vergessen: „Man darf nie glauben, der Feind handle, ohne zu wissen, was er tut; und je schwächer oder unvorsichtiger er erscheint, desto mehr muss man ihn achten.“
Anders als Münchau folgt MAGA-Leader Steve Bannon diesem Prinzip gläubig. Der 72-jährige Stratege Trumps warnte die Telegraph-Leser am 25. November vor „der neokonservativen Elite von Brüssel, London und Washington“, die „um den toten Kadaver der Ukraine kreist, den sie selbst zerstört hat.“ Bannon ist überzeugt, dass das auf die eingefrorenen russischen Vermögen basierende EU-Darlehen zwar den Euro destabilisieren und die Märkte erschüttern könne, die europäische Führung aber bereit sei, dieses Risiko einzugehen, um den Krieg zu verlängern.
„Durch ein solches Reparationdarlehen wird der Krieg weiter verlängert“, glaubt auch der BSW-Europaabgeordnete Thomas Geisel. „Europa müsste sich mit dem Kriegsende eingestehen, dass das Darlehen uneinbringlich verloren ist.“ Ähnlich äußerte sich Belgiens Premierminister Bart De Wever gegenüber Reuters: Der Plan der EU „könnte die Chancen auf ein mögliches Friedensabkommen zur Beendigung des fast vierjährigen Krieges gefährden.“
Die Financial Times berichtete am 24. November, dass Bundeskanzler Friedrich Merz, „der diese Idee maßgeblich vorangetrieben hat, besonders verärgert“ über Washingtons Pläne sei, den Zugriff auf diese Vermögenswerte zu beanspruchen. Denn Washington will die Gelder ausschließlich für den Wiederaufbau der Ukraine sowie anderer Regionen verwenden, nicht aber für Waffen.
Laut einer anonymen Quelle hat eine der einflussreichsten deutschen Arbeitgeberverbände die schwarz-rote Koalition schon vor der Veröffentlichung des 28-Punkte-Plans gedrängt, dieses Darlehen ausschließlich für den Wiederaufbau nach Kriegsende zu nutzen – anstatt es für Waffen zu vergeuden, die die Lage an der Front kaum verändern könnten.
So gesehen wäre der EU-Plan, die eingefrorenen russischen Vermögen als Kreditsicherheit für ein neues Darlehen zur Finanzierung von Waffen für die Ukraine zu verwenden, nicht „kurzsichtig“, sondern ein äußerst kalkulierter Schachzug, der einen diplomatischen Durchbruch verhindert.