Die theoretische Leere im politischen Diskurs
Gegen einfache Parolen hilft nur ökonomisches Handwerkszeug. Dieser Beitrag erklärt, warum progressive Politik ohne Fundament in der Defensive bleibt – und wie ein moderner Keynesianismus sowohl Wirtschaft als auch Demokratie stärken kann.
Wer den parteipolitischen Schlagabtausch in Deutschland verfolgt, könnte meinen, hier prallten völlig inkompatible Weltbilder aufeinander. In Wirklichkeit streiten alle nur über Details – und oft nicht einmal über besonders gut verstandene. Denn die theoretische Grundlage des wirtschaftspolitischen Diskurses ist in der Regel nicht mehr als ein Bauchgefühl – welches häufig mit Stammtisch-Weisheiten übereinstimmt.
Leider spielt genau diese intellektuelle Hilfslosigkeit den Verfechtern neoklassischer Denkmuster in die Hände – ihre Theorie liegt den simplen Stammtischintuitionen nun einmal am nächsten. Und wer die Welt ohnehin durch die Brille vermeintlicher Alltagslogik betrachtet, hält solche Modelle schnell für Naturgesetze.
Beispiel Sozialleistungen
Betrachtet man etwa die Debatte zum Bürgergeld, zeigt sich schnell: Zwischen SPD und CDU herrscht im Grunde gehobene Einigkeit. Ökonomisch betrachtet – so der gemeinsame Nenner – wäre es am besten, den Druck auf die Sozialstandards und Löhne zu erhöhen. Allein ihr soziales Gewissen lässt die SPD zögern: In einem der reichsten Länder der Welt fühlt es sich eben nicht richtig an, Menschen am unteren Rand noch weiter nach unten zu drücken.
Zudem wird zu Recht darauf hingewiesen, dass viele Bürgergeld-Beziehende keineswegs „selbst schuld“ an ihrer Lage sind. Wer mit schlechten Startchancen ins Leben geht und ein Bildungssystem durchläuft, in dem der Schulabschluss immer noch stärker von der Herkunft als vom Talent abhängt, dem fehlt schlicht die Perspektive. Und viele suchen Arbeit, nur gibt es für sie keine Stelle – oder für die Kinder keine Betreuungsmöglichkeiten.
Solche Töne hört man sowohl von linken Sozialdemokraten als auch aus dem Sozialflügel der Union. Gleichzeitig herrscht parteiübergreifend Einigkeit: Ökonomisch gesehen wäre ein stärkerer Druck auf die Arbeitsbedingungen und sozialen Sicherungen durchaus wirksam – nur finden das nicht alle fair. Deswegen sprechen Sozialdemokraten lieber davon, dass es unsozial wäre, bei den Sozialleistungen zu kürzen.
Der Streit dreht sich weniger um ökonomische Theorie als um die Frage, wie viel Ungerechtigkeit politisch akzeptabel erscheint. Die sozial orientierten Parteiströmungen beschränken sich meist darauf, die Vorschläge der liberal-konservativen Seite abzufedern, statt ihnen eine theoretisch tragfähige Alternative entgegenzustellen.
Warum es ökonomisch falsch ist, Sozialleistungen zu kürzen
Hätte die Politik eine gesamtwirtschaftliche Theorie im Blick, die auf keynesianischen Grundlagen fußt, würde sie nicht nur aus sozialer, sondern auch aus ökonomischer Sicht erkennen, dass Kürzungen beim Bürgergeld kontraproduktiv sind. Menschen mit sehr niedrigen Einkommen geben nahezu jeden Euro wieder aus; ihr Konsum fließt unmittelbar an inländische Unternehmen, zum Beispiel in den Einzelhandel oder in die Gastronomie.
Aus keynesianischer Perspektive liegt das grundlegende Problem moderner Volkswirtschaften darin, dass Haushalte und Unternehmen einen Teil ihrer Einkommen nicht ausgeben. Diese Ersparnisse fehlen in der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Bleibt die Nachfrage hinter den Produktionsmöglichkeiten zurück, drosseln Unternehmen ihre Produktion. Die entstehende Lücke lässt sich nur durch höhere Investitionen, staatliche Ausgaben oder zusätzliche Auslandsnachfrage schließen.
Eine Umverteilung hin zu Haushalten mit geringen Einkommen mildert dieses Problem: Höhere Einkommen werden zu einem größeren Teil gespart, niedrigere Einkommen dagegen zu einem größeren Teil ausgegeben. Unternehmen profitieren deshalb sowohl von höheren Löhnen als auch von höheren Bürgergeldzahlungen. Kürzungen haben den gegenteiligen Effekt.
Gerade in einer Phase, in der die Wirtschaft ohnehin unter einer mangelnden Nachfrage leidet, sind Einschnitte beim Bürgergeld daher ein ökonomischer Schildbürgerstreich. Um die Anzahl der Arbeitslosen zu verringern, braucht es mehr Jobs. Die entstehen aber durch eine höhere Nachfrage. Und hierfür sind Kürzungen im Sozialsystem hinderlich.
Die konservative Argumentation ist nicht fundierter – aber sie gewinnt
Auch die konservativ-liberalen Kräfte argumentieren selten auf einem theoretisch höheren Niveau. Im Gegenteil: Der Stammtischton gehört dort nicht selten zum Standardrepertoire, wenn Arbeitslose pauschal verunglimpft werden, „zu bequem“ zu sein oder „zu sehr in der sozialen Hängematte“ zu liegen. Eine theoretische Fundierung im Sinne eines Gleichgewichtsmodells – wie in diesem Artikel skizziert – würde ihre Wählerschaft auch eher irritieren. Stumpf ist Trumpf. Da Stammtischintuition und neoklassische Theorie aber zum selben Ergebnis gelangen – Menschen müssen stärker dazu gedrängt werden, schlechter bezahlte Jobs anzunehmen – spielt dies den marktliberalen Theoretikern in die Hände.
Linke Politiker wiederum machen es ihren Gegnern leicht, wenn sie neoliberale Maßnahmen lediglich aus sozialen Gründen kritisieren – nicht aber aufgrund eines anderen Verständnisses von gesamtwirtschaftlicher Dynamik. Spätestens wenn das Argument fällt, man könne sich den Sozialstaat „in dieser Form nicht mehr leisten“, geraten sie in die Defensive. Denn sie sind ja auch der Auffassung, dass Sozialpolitik die Unternehmen belaste – statt zu erkennen, dass stabile Nachfrage die Grundlage für Investitionen, Produktion und Beschäftigung bildet.
Tatsächlich ist es genau umgekehrt: Wir können es uns nicht leisten, keinen robusten Sozialstaat zu haben – ohne ihn werden wirtschaftliche Einbrüche zu selbstverstärkenden Abwärtsspiralen. Doch weil eine fundierte theoretische Auseinandersetzung fehlt, entsteht der Eindruck völliger Alternativlosigkeit. Solange keine Partei eine andere ökonomische Sichtweise ernsthaft vertritt, taucht sie in der öffentlichen Debatte kaum auf.
Die einseitige Berichterstattung verstärkt dann noch das Gefühl, „man wisse ja eigentlich, was zu tun sei“, es fehle nur an Mut und Entschlossenheit. Es wirkt, als ob sozial orientierte Politiker lediglich Angst hätten, durch grundlegende Veränderungen weitere Wähler an linke oder rechte populistische Parteien zu verlieren.
Falscher Fokus auf Kosten statt Nachfrage
Dasselbe Trauerspiel wiederholt sich in jener Dauerdebatte, die Investitionsflauten stur auf „Kostenprobleme“ statt auf den Nachfragemangel zurückführt. Der immergleiche Tenor lautet: Unternehmen investieren nicht, weil Steuern und Löhne zu hoch seien.
Merkwürdig nur, dass die Unternehmenssteuern seit Jahrzehnten ausschließlich den Weg nach unten kennen – während die Investitionsdynamik im gleichen Zeitraum stetig erodiert. Und der Ruf „Löhne runter“ gehört inzwischen zum politischen Inventar, als wäre er die Mutter aller Reformrezepte.
Statt jedoch keynesianisch sauber zu argumentieren, dass Beschäftigung nicht auf dem Arbeitsmarkt entsteht, sondern von der effektiven Nachfrage abhängt, greifen Sozialdemokraten oft nur zum moralischen Einwand, dass Vollzeitbeschäftigte von ihrem Lohn leben können müssen. Richtig – aber ökonomisch bei weitem nicht ausreichend. Und dieser Einwand hilft auch nicht gegen das Argument, die Steuern seien zu hoch.
Wie schon erläutert, würde eine Umverteilung zugunsten der Lohnempfänger die Nachfrage erhöhen – und genau dadurch Produktion und Beschäftigung steigern. Solange die Wirtschaft nicht an ihrer Kapazitätsgrenze operiert, existiert der klassische Verteilungskonflikt zwischen Arbeit und Kapital schlicht nicht, weil von der zusätzlichen Produktion beide Seiten profitieren können. Löhne und Profite können gleichzeitig steigen – nur wachsen die Löhne relativ stärker. Und wenn die Nachfrage trägt, sind auch die aus Unternehmenssicht vermeintlich „zu hohe“ Steuern nicht mehr so wichtig.
Daher ist das Narrativ, man müsse erst etwas erwirtschaften, bevor man es verteilen könne, inhaltlich falsch. Es ist genau umgekehrt: Damit die Wirtschaft läuft, muss zunächst richtig verteilt werden.
Flexible Gewinne statt flexibler Löhne
Steigende Löhne können zudem ein Investitionsanreiz sein – eine regelrechte Produktivitätspeitsche. Je teurer Arbeit wird, desto stärker lohnt sich der Einsatz neuer Technologien, effizienterer Prozesse und besserer Organisation. Statt also die Löhne zu flexibilisieren, damit Unternehmen ihre Kosten durch niedrigere Gehälter drücken können und mit veralteten Strukturen weiterwurschteln, sollten Gewinne stärker schwanken dürfen, um Investitionsdruck zu erzeugen und den Wettbewerb um Innovationen anzufeuern.
Automatisierung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz hätten die Produktivität längst deutlich stärker steigern können – wäre es nicht zu einem globalen Wettlauf um die tiefsten Löhne gekommen. Und solange die Nachfrage hoch bleibt, wachsen auch neue Jobs in anderen Bereichen nach. Wieder zeigt sich: Ohne eine vernünftige Verteilung funktioniert eine Volkswirtschaft nicht.
Fazit: Es fehlen Mut und Richtung
Die wirtschaftspolitische Debatte leidet unter einem eklatanten Mangel an theoretischer Tiefe. Neoliberale Rezepte setzen sich immer wieder durch, weil ihre Kernidee – Wohlstand entstehe durch Druck auf Löhne und Kürzungen im Sozialstaat – der Alltagsintuition vieler Politiker, Wähler und Journalisten entspricht. Kritische Stimmen können diesem Narrativ kaum etwas entgegensetzen, weil ihnen ein konsistentes theoretisches Fundament fehlt. So bremsen sie den Siegeszug der Marktgläubigen bestenfalls ein wenig – und wirken in der öffentlichen Wahrnehmung wie zaudernde Bedenkenträger, denen Mut und Richtung fehlen.
Es bräuchte eine Flucht nach vorn: eine neue Generation keynesianisch geschulter Politiker, die begreifen, dass solide Wirtschaftspolitik nicht vom Sparen lebt, sondern von einer breiten und soliden Einkommensbasis – denn nur so entsteht nachhaltiges, sich selbst tragendes Wachstum. Das ist mitnichten eine Absage an Marktwirtschaft und Wettbewerb, sondern deren Rettung vor den derzeit erstarkenden antidemokratischen Kräften.