Sind Autos wichtiger als Lebensmittel?
Noch bis vor wenigen Monaten galt das Mercosur-Abkommen als gescheitert. Doch nun verkündete von der Leyen überraschend einen Durchbruch. Was ist passiert?
Der Konflikt um das Mercosur-Abkommen steht beispielhaft für den antidemokratischen Teufelskreis, den die politische Dynamik der EU antreibt. Es geht um Entscheidungsprozesse, die Wähler verprellen sowie geschwächte und diskreditierte Regierungen hinterlassen. Es geht um Ursula von der Leyen, die es als EU-Kommissarin endlich geschafft hat, eines ihrer Lieblingsprojekte durchzudrücken – während sie gleichzeitig einen ihrer treuesten Unterstützer verprellt hat.
Seit 25 Jahren versucht die EU schon, ein Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay abzuschließen. Doch das stieß auf heftigen politischen Widerstand – bisher. Die führenden Agrarproduzenten der europäischen Staatengemeinschaft – allen voran in ihrem Namen die französische Regierung – argumentieren seit langem, dass das Abkommen ihre Industrie zerstören würde.
Sollte das Abkommen ratifiziert werden, würde es den Weg für umfangreiche Importe zu wettbewerbsfähigeren Preisen aus den Mercosur-Staaten ebnen. Die Unternehmen der südamerikanischen Staaten können unter weniger strengen Umwelt- und Gesundheitsstandards produzieren als in der EU, wo immer strengere Vorschriften zur Eindämmung der Treibhausgasemissionen die Preise treiben.
Der französische Präsident Emmanuel Macron wird weithin dafür verantwortlich gemacht, dass von der Leyen es nicht geschafft hat, während ihrer ersten Amtszeit eine Einigung zu erzielen. Nach den Protesten der Landwirte, die ganz Europa erfassten, hielt die französische Regierung weiter an ihrer ablehnenden Position fest – wohl auch aus Sorge, dass das Abkommen die Anti-EU-Stimmung im Land verschärfen und Marine Le Pen stärken würde.
Im Januar wurde bekannt, dass die Europäische Kommission auf Drängen Frankreichs die Verhandlungen mit den südamerikanischen Ländern eingestellt hatte. Daher hielten viele das Abkommen noch bis vor wenigen Monaten für gescheitert. Doch letzte Woche verkündete von der Leyen überraschend, dass die Einigung endlich zustande gekommen sei. Was hat sich geändert?
Krisen beflügeln von der Leyen
Zunächst ist von der Leyen heute in einer viel stärkeren Position als noch vor einem Jahr. Damals hatte sie bereits eine zweite Amtszeit an der Spitze der Kommission im Visier und konnte es sich nicht leisten, mit Macron einen der mächtigsten Staats- und Regierungschefs des Blocks zu verprellen. Denn seine Unterstützung brauchte sie für ihre Wiederwahl. Aber dieses Problem liegt nun hinter ihr. Von der Leyen muss sich nicht mehr so sehr darum kümmern, die Mitgliedstaaten zu beschwichtigen.
Außerdem ist die neue Kommission von der Leyen ein ganz anderes Kaliber als ihre Vorgängerin: Diesmal konnte sie loyale Anhänger in strategischen Positionen bringen und ein kompliziertes Netz aus Abhängigkeiten aufbauen – mit anderen Worten: Sie hat sich die vollständige Kontrolle über das Exekutivorgan der EU gesichert. Dass sie sich stark genug fühlt, um den Widerstand eines der mächtigsten Staaten des Blocks zu brechen, lässt darauf schließen, wie sie in den nächsten fünf Jahren wahrscheinlich noch häufiger vorgehen wird.
Von französischer Seite erntet die Kommissionspräsidentin harsche Kritik für das Mercosur-Abkommen, insbesondere angesichts der dortigen Regierungskrise:
„Ursula von der Leyen hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können. Es ist ein großer Fehler, dies jetzt zu tun. Der Eindruck entsteht, dass sie die Krise in Frankreich ausnutzen würde, um sich selbst voranzubringen“.
Ironischerweise kommt diese Einschätzung von einem der entschiedensten Pro-EU-Vertretern: Christophe Grudler, Europaabgeordneter von Macrons Partei.
Von der Leyen hat lange Übung darin, Krisen auszunutzen, um mehr Macht zu erlangen. Daher ist diese jüngste Episode Teil eines allzu vertrauten Trends der schleichenden Supranationalisierung der EU-Politik – ein Trend, zu dem Macron durch seine Unterstützung ihrer Wiederwahl direkt beigetragen hat.
Geld stinkt nicht
Doch noch ist für die Landwirte nicht alles verloren. Die Vereinbarung muss noch vom Europäischen Rat gebilligt werden. Daher hat Frankreich möglicherweise noch die Möglichkeit, das Abkommen zu blockieren. Macron bleibt dabei, dass das Abkommen in seiner jetzigen Form inakzeptabel sei. „Wir werden unsere landwirtschaftliche Souveränität weiterhin verteidigen“, so der französische Präsident.
Obwohl sich auch andere Länder wie Polen, Österreich, Irland und die Niederlande gegen das Abkommen aussprechen, fehlen Macron noch immer die 35 Prozent der EU-Bevölkerung, die nötig sind, um das Abkommen zu stoppen. Insbesondere Deutschland ist ein wichtiger Faktor auf der Seite der Befürworter.
Das einzige Land, das den Vertrag noch kippen könnte, ist Italien. Quellen aus Giorgia Melonis Büro haben verlauten lassen, dass Italien das Mercosur-Handelsabkommen nur unter der Bedingung unterzeichnen wird, dass es stärkere Schutzmaßnahmen für europäische Landwirte gibt.
Es bleibt jedoch abzuwarten, ob die in dieser Frage stark gespaltene italienische Regierung konsequent sein wird. Angesichts der prekären Haushaltslage weiß Meloni, dass sie nicht riskieren kann, die Unterstützung von der Leyens zu verlieren.
Daher ist das wahrscheinlichste Ergebnis, dass die Kommission ein Lippenbekenntnis zu den Bedenken Italiens ablegen wird, möglicherweise mit einem Zusatz zum Vertrag, wonach die Auswirkungen des Abkommens auf den Agrarsektor der Union minimiert werden sollen. Dadurch könnte Meloni das Abkommen unterzeichnen und gleichzeitig ihr Gesicht wahren.
Aber warum ist von der Leyen so erpicht darauf, das Abkommen voranzutreiben? Der Freihandel ist in vielerlei Hinsicht in der DNA der Europäischen Union angelegt. Der Block verfügt heute über das größte Freihandelssystem der Welt. In den letzten Jahren hat der geopolitische Wettbewerb mit den USA jedoch das europäische Bekenntnis zum Freihandel in Frage gestellt. Und Trump plant, diese Politik noch zu verschärfen.
In diesem Zusammenhang ist die Handelspolitik der EU zunehmend politisiert und dem Paradigma „Demokratie versus Autoritarismus“ untergeordnet. Diese Strategie zielt darauf ab, sich von den erklärten Gegnern und Konkurrenten des Westens – natürlich Russland, aber zunehmend auch China – zu entkoppeln. Die Stärkung der Handelsbeziehungen zu „werteorientierten“ Nationen ist somit auch als Versuch der EU zu deuten, die Handelsliberalisierung mit der Übernahme der von den USA vorangetriebenen Logik des Neuen Kalten Krieges in Einklang zu bringen.
„In einer zunehmend konfrontativen Welt zeigen wir, dass Demokratien sich aufeinander verlassen können. Dieses Abkommen ist nicht nur eine wirtschaftliche Chance, sondern auch eine politische Notwendigkeit“, sagte von der Leyen zum Mercosur-Abkommen.
Unerwähnt ließ die EU-Kommissarin, dass das Abkommen auch ihre Position als Hauptarchitektin der geopolitischen Strategie der EU festigt. Vor allem, wenn es darum geht, Mitgliedstaaten zu bekämpfen, die möglicherweise geneigt sind, unabhängige Wege zu beschreiten. Die Wahl von Trump und die Erwartung einer protektionistischeren US-Politik gaben von der Leyen und den Mercosur-Ländern zweifellos einen weiteren Grund, um das Abkommen abzuschließen.
Der Machtwechsel in Argentinien ist ein weiterer Dominostein: Im Gegensatz zu seinem linksgerichteten, protektionistischeren Vorgänger und den meisten anderen lateinamerikanischen Politikern glaubt Milei fest an den Freihandel. Nach der Ankündigung des EU-Mercosur-Abkommens erklärte „General Ancap“:
„Während sich Nachbarn wie Chile und Peru der Welt öffneten und Handelsabkommen mit den Protagonisten des Welthandels abschlossen, schlossen wir uns in unserem eigenen Glashaus ein und brauchten mehr als 20 Jahre, um ein Abkommen zu schließen, das wir heute feiern.“
Auf den ersten Blick kann es kaum seltsamere Verbündete als von der Leyen und Milei geben, aber wie das alte römische Sprichwort sagt: “Pecunia non olet" – Geld stinkt nicht.
Gefährliche Spaltung
Es gibt noch einen letzten Faktor zu berücksichtigen: Aus Sicht der Europäischen Kommission ist der Schaden, den das Mercosur-Abkommen durch die Zunahme von südamerikanischen Agrar-Importen bei den europäischen Agrarproduzenten anrichtet, ein akzeptabler Kompromiss – solange es die europäischen Industrieexporte, wie zum Beispiel von Autos, ankurbelt. Ein wesentlicher Grund, warum Deutschland zu den Hauptbefürwortern des Abkommens zählt.
Mit anderen Worten: Die Agrarproduktion wird zur Verhandlungsmasse. Die deutschen Verhandlungspartner sehen in ihm einen Sektor, auf den man verzichten kann, wenn sich dafür neue Märkte für die eigenen Exportprodukte erschließen lassen.
Doch diese Logik birgt ein grundlegendes Problem. Die Landwirtschaft mag nicht viel „wert“ sein, aber sie liefert das wichtigste Produkt in jeder Gesellschaft: Lebensmittel. Es ist fahrlässig, die langfristige Ernährungssicherheit und -souveränität Europas für kurzfristige Gewinne zu opfern. Die gesamte „Reshoring“-Debatte fußt auf dem geschärften Bewusstsein für die Notwendigkeit, gefährliche Abhängigkeiten bei kritischen Gütern und Materialien zu vermeiden. Und was für Mikrochips gilt, gilt umso mehr für Lebensmittel.
Das Mercosur-Abkommen zeigt einmal mehr, dass es nicht nur schlecht für die Demokratie ist, kritische Entscheidungen supranationalen Institutionen anzuvertrauen, die nicht rechenschaftspflichtig sind, sondern auch für die europäische Souveränität.
Das Abkommen demonstriert auch, wie von der Leyen die Spaltungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten ausnutzt, um ihre eigene Autorität zu festigen. Als die Kommission beschlossen hatte, Zölle auf chinesische Elektrofahrzeuge zu erheben, wurde der Schritt von Paris unterstützt, aber von Berlin abgelehnt. Deutschland war der große Verlierer, während Frankreich einen bedeutenden Sieg feierte. Das Mercosur-Abkommen erscheint nun als ein Zugeständnis an Deutschland.
Doch indem sich die EU-Kommission an den Interessen bestimmter Mitgliedstaaten ausrichtet, stößt sie wiederum andere vor den Kopf. So verschieben sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Nationen, während sie ihre Position als oberste Schiedsrichterin und Machtvermittlerin der EU festigt.
Die sich vertiefende Spaltung zwischen den Mitgliedstaaten und die Kriegserklärung an die europäischen Landwirte bergen für von der Leyen jedoch ein erhebliches Risiko. Sie droht erhebliche soziale und politische Unruhen auf dem gesamten Kontinent zu schüren. Und ihre zweite Amtszeit hat gerade erst begonnen.