Schlamassel à la française
Wie steigert man Chaos? Im Juli berichtete MAKROSKOP über die Lage in Frankreich nach der Auflösung der Nationalversammlung. Ein halbes Jahr später ist das Chaos mit dem Sturz Barniers noch größer. François Bayrou soll Macron nun helfen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.
Nach dem Absturz seiner Partei bei den Wahlen zum EU-Parlament im Mai wollte Macron mit Neuwahlen zur Nationalversammlung wieder Stabilität schaffen. Doch das führte in die nächste Pleite. Nicht nur, dass seine Partei die nächste Niederlage kassierte, sondern es entstanden drei Blöcke, von denen keiner genügend Sitze für eine absolute Regierungsmehrheit hatte, und die sich gegenseitig blockierten.
Der nächste Fehler Macrons war es, mit Michel Barnier von den konservativen Les Républicains, (LR) als Ministerpräsident die Lähmung des Parlaments beenden zu können. LR stellen zwar nur die fünftgrößte Fraktion, aber Macron kungelte mit Marine Le Pen, sodass Barnier dann mit Stimmen der Präsidentenpartei, den Konservativen und der extremen Rechten erst mal gewählt wurde.
Für die linke Opposition, die Nouveau Front Populaire (NFP), die „Neue Volksfront“ aus Mélenchons La France Insoumise (LFI), den Sozialdemokraten, Grünen und der Kommunistischen Partei, war das eine schwere Provokation. In den beiden letzten Präsidentschaftswahlen, in denen Macron in der Stichwahl Le Pen gegenüberstand, hatte die Linke ihn zähneknirschend gewählt. Keiner seiner Siege war eine Pro-Macron-Wahl, sondern jedes Mal eine Anti-Le Pen-Wahl. Sein nonchalantes Einreißen der ‚Brandmauer gegen rechts‘ war deshalb jetzt eine bittere Lektion für sie.
Zumal Barnier die Zusammenarbeit mit Le Pen auch noch vertiefte und sich in völlige Abhängigkeit von ihr begab. Für den Haushalt machte er dementsprechend Zugeständnisse. Aber das reichte ihr nicht. Ein eigener Misstrauensantrag ihres Rassemblement National (RN) scheiterte zwar. Aber dem darauffolgenden Antrag der NFP stimmte die Rechtsaußenfraktion zu – und Barnier wurde gestürzt.
Der Zentrismus von François Bayrou
Bayrou hat eine lange Karriere hinter sich. Bereits während der Präsidentschaft von Mitterand war er im Kohabitationskabinett[1] von Edouard Balladur 1991 bis 1995 Erziehungsminister. Danach mehrfach in der Ära Chirac. Bei der ersten Wahl Macrons 2017 verzichtete Bayrou zu dessen Gunsten auf eine eigenen Kandidatur schon im ersten Wahlgang. Macrons Masche Weder links noch rechts war Bayrous Parole schon seit 2000. Für seine Dienste belohnte ihn Macron mit dem Posten des Justizministers. Wegen einer Korruptionsaffäre trat er aber bald zurück, wurde aber aus Mangel an Beweisen schließlich freigesprochen. Seine Partei Modem (Mouvement Démocrate – Demokratische Bewegung), die 2007 aus den nicht-gaullistischen Konservativen hervorgegangen war, ist seit 2017 treuer Teil der Regierungskoalition Macrons.
Zentrum heißt bei Bayrou, wie seine ganze Karriere zeigt, dass er regelmäßig rechts der Mitte agiert, aber ab und an auch Kräfte und Positionen links der Mitte unterstützt. So rief er zum Beispiel bei der Stichwahl zwischen dem Sarkozy und Hollande 2012 dazu auf, für Hollande zu stimmen.
Das funktioniert auch in die andere Richtung. Als 2022 Marine Le Pen Schwierigkeiten hatte, die nötigen 500 Unterschriften von Volksvertretern für eine Zulassung zur Wahl zu bekommen, gab er öffentlichkeitswirksam seine Unterschrift für sie, um wie er sagte „die Demokratie zu retten.“
Ähnlich sieht es bei wichtigen politischen Fragen aus. So ist Bayrou einerseits ausgesprochen europhil, was in Frankreich nicht unbedingt mehrheitsfähig ist. Andererseits hat er sich gegen den Wiedereintritt in die militärische Struktur der NATO durch Sarkozy ausgesprochen und forderte ein Referendum dazu. Er tritt für die Stärkung der Rechte des Parlaments gegenüber dem Präsidenten ein und will, ähnlich wie LFI, die Einführung des Verhältniswahlrechts und eine neue Verfassung, die VI. Republik. Er hat sich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen, befürwortet allerdings einen zivilrechtlichen Status für Partnerschaften in Steuer- und Erbschaftsfragen. Das harte Einwanderungsgesetz von 2023 kritisiert er als zu nahe an rechtsextremen Positionen. Nach deutschem Vorbild tritt er für die Aufnahme einer Schuldenbremse in die Verfassung ein und hat bei dem heißen Thema Renten für die Erhöhung des Rentenalters gestimmt.
Unabhängig davon, dass so ein wenig Abweichlertum durchaus auch Überzeugung sein kann, dient es in der jetzigen Situation natürlich auch als Machtressource.
Macrons machtpolitisches Kalkül
Genau das ist Macrons Kalkül. Bayrou soll die Polarisierung aufbrechen und eine Minderheitsregierung zustande zu bringen, die mit wechselnden Mehrheiten mal von links mal von rechts bis zum nächsten großen Wahljahr 2027 durchhält, ohne wieder gestürzt zu werden.
Das würde gleichzeitig den Druck auf ihn selbst vermindern, denn auf der Linken will zumindest La France Insoumise seinen Rücktritt, Neuwahlen und die Etablierung einer verfassungsgebenden Versammlung für die VI. Republik. Auch im rechten Spektrum wären sowohl die Konservativen als auch Le Pen nicht traurig, wenn es zu Neuwahlen käme. Da Macron nicht mehr kandidieren darf, und seine eigene Partei schon immer eine substanzlose Hülle zur Mehrheitsbeschaffung und ohne Zukunft war, rechnen sie sich aus, dass ein Rücktritt die parteipolitischen Karten neu mischen könnte.
Rückenwind gibt ihnen dabei die Stimmung im Land. Im November erhält Macron im Durschnitt der Umfragen von acht Instituten nur noch bei 21 Prozent der Franzosen Zustimmung. In den 66 Jahren der Fünften Republik ist das der niedrigste Wert eines Präsidenten. Show-Veranstaltungen wie die Olympischen Spiele oder die Wiedereröffnung von Notre Dame ändern daran nichts. Es ist gerade die narzisstische Selbstüberschätzung bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die brennenden Probleme von Inflation, Arbeitslosigkeit und Verschuldung usw. in den Griff zu bekommen, die die Franzosen satt haben.
Davon unbeeindruckt hat Macron erklärt, seine zweite Amtszeit in voller Länge durchzuziehen und auch keine Neuwahl der Nationalversammlung mehr anzusetzen. Damit sein Plan aufgeht, müsste es gelingen, das Linksbündnis zu spalten und die Sozialdemokraten und eine weitere Fraktion aus der NFP dazu zu bringen, eine absolute Mehrheit gegen einen neuen Misstrauensantrag zu formieren. Um das einzufädeln, hatte er wenige Tage vor Bayrous Nominierung alle „republikanischen“ Parteien zu Gesprächen eingeladen – außer La France Insoumise und das Rassemblement National, die er beide als „anti-republikanisch“ etikettierte.
Es ist nun zu erwarten, dass Bayrou versucht, einen Deal mit einem Block der republikanischen Mitte zu machen: in sein Kabinett dürfte er sowohl für die Sozialdemokraten, Grünen und Kommunisten, wie für die Konservativen akzeptable Minister holen. Dafür garantiert der Mitte-Block, seine Regierung zu dulden und keinen Misstrauensantrag zu unterstützen.
Wie stehen Bayrous Chancen?
Le Pen hat bereits signalisiert, dass sie nicht „a priori“ für einen Misstrauensantrag wäre, aber: „Unsere roten Linien bleiben“. Und dazu gehören zum Beispiel – wie schon beim Sturz Barniers –, dass die wirtschaftliche und soziale Lage der Rentner nicht verschlechtert wird. Demgegenüber hat La France Insoumise sofort erklärt, Bayrou auf jeden Fall das Misstrauen auszusprechen. Allerdings käme ein Misstrauensantrag nur von LFI und RN nicht auf eine absolute Mehrheit.
Der Chef der Konservativen, Laurent Wauquiez, erklärte: „Wir haben immer gesagt, dass wir nicht blockieren werden“, fügte aber als Bedingung hinzu, dass alles weitere von den Plänen Bayrous abhänge. Eine Bedingung könnte die Vergabe des Innenministeriums an den Ex-Minister und extremen Law-and-Order-Poltiker Bruno Rétailleau sein.
Auch die Grünen knüpfen eine Beteilung an einem Deal an Bedingungen, ähnlich wie der Chef der Kommunisten, Fabien Roussel: „Diese Nominierung ist ein schlechtes Signal, denn die Franzosen erwarten eine neue Politik, aber wir sind zu Gesprächen bereit, wenn er [Bayrou] auf Artikel 49.3. verzichtet.“ Dieser Artikel erlaubt der Exekutive, Gesetze über den Kopf des Parlaments hinweg durchzusetzen – eines der eklatantesten Beispiele für die autoritären Züge der Verfassung der Fünften Republik.
Entscheidend wird sein, ob es Bayrou gelingt, die Sozialdemokraten ins Boot zu holen. Deren Verhältnis zu La France Insoumise ist seit längerem äußerst angespannt, sodass die NFP schon jetzt am Rande des Scheiterns dahinschlittert. Im Kern geht es dabei um die Führung in der Linken. Nach dem dramatischen Absturz nach der Ära Hollande lagen die Sozialdemokraten bei den EU-Wahlen erstmals wieder vor La France Insoumise. Allerdings ist das nur bedingt aussagekräftig, da ein großer Teil der LFI-Wähler sich nicht für EU-Wahlen interessiert. Prompt hatte Mélenchons Partei bei den Nationalratswahlen wieder die Nase vorn. Die PS dürfte also derzeit ein geringeres Interesse an einem Sturz Macrons haben.
Dementsprechend hat ihr Vorsitzender, Olivier Faure, schon positive Signale an Bayrou gesandt: „Ich wünsche mir eine Diskussion, und wenn daraus Vorteile möglich werden, die wir für die Franzosen rausholen können, werde ich zugreifen.“ Zustimmung zu einer Senkung des Staatsdefizits hat er ebenfalls signalisiert, vorausgesetzt sie kommt durch Mehreinnahmen und nicht durch Einsparungen zustande. Selbst Law-and-Order-Retailleau wäre kein Hindernis, vorausgesetzt „er vergisst alles, was in seinem früheren Gesetz stand, dann ist er vielleicht tatsächlich geläutert.“
Sein Gespräch wird Faure bekommen. Für die Woche vor Weihnachten hat Bayrou ein solches mit allen Parteien angekündigt – einzeln.
Mehr als eine Krise der Politik
Angesichts der sehr gemischten Interessenlagen der Akteure ist es nicht möglich, eine seriöse Prognose über die Aussichten Bayrous zu stellen. Aber völlig aussichtslos ist er nicht. Die erste Feuerprobe wird Mitte Januar die Entscheidung über den Haushalt sein.
Denn mit 112 Prozent des BIP – das sind 3,2 Billionen Euro – und der Neuverschuldung des Staates 2024 um 6 Prozent steckt Frankreich in einem Dilemma. Bei beiden Kennziffern liegt Paris etwa um das Doppelte über den sogenannten Stabilitätskriterien der EU. Auch die Arbeitslosenrate liegt mit 7 Prozent immer noch doppelt so hoch wie in Deutschland. Die Krise im Gesundheitssystem ist noch krasser als hierzulande, die Inflation erzeugt Wut, und die Rating-Agentur Moody’s hat am Tag der Nominierung Bayrous Frankreichs Kreditwürdigkeit bereits herabgestuft.
Der Morast, in dem die Fünfte Republik steckt, ist nicht nur eine Krise der Parteien und des politischen Systems, sondern hat tiefe Wurzeln in Wirtschaft und Gesellschaft. Machiavellistische Koalitionsakrobatik wird daran nichts ändern. Denn selbst wenn Bayrou bis 2027 durchhalten sollte, wird er immer nur Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zustande bringen. Das macht Fahren auf Sicht zum Dauerzustand und verschärft die Krisen. Merkel lässt grüßen.
Problemlösungsfähigkeit aber sieht anders aus.
--------------