Jakob erklärt Lukas Wirtschaft – 6

Ganz ohne Schleier: Die Geldwirtschaft

| 08. Dezember 2020
istock.com/AdrianHancu

Wirtschaftswissenschaft ist für Sie Neuland, das Sie betreten möchten? Dann lassen Sie sich wie Lukas von Jakob auf eine Reise durch die zentralen Themen, Thesen und Irrtümer unserer Wirtschaftstheorien mitnehmen.

Im letzten Artikel hat Jakob Lukas erklärt, warum im Postkeynesianismus nicht der freie Arbeitsmarkt, sondern eine hohe Nachfrage die entscheidende Voraussetzung für Vollbeschäftigung ist und wie die Geldschöpfung funktioniert. Heute kommt Jakob zu Keynes' zentraler Kritik am neoklassischen Gleichgewichtsmodell.

»Wie wir bereits festgestellt hatten, ist Sparen grundsätzlich ein großes Problem für die Wirtschaft. Würden alle privaten Haushalte anfangen, eisern zu sparen, wäre die Wirtschaft schnell am Boden. Durch die ausbleibenden Einnahmen würden die Unternehmen reihenweise Pleite gehen. Aus der Sicht der Neoklassik besteht dieses Problem in einem freien Markt jedoch nicht, weil es dort einen Mechanismus gibt, der das Sparen ausgleicht: der Zinsmechanismus. Wenn gespart wird, sinken die Zinsen und machen Investitionen attraktiver. Durch die Investitionen fließt das gesparte Geld wieder in die Wirtschaft und gleicht die fehlende Nachfrage aus. Wie in einer Tauschwirtschaft, existiert demnach auch in einer Geldwirtschaft kein Nachfrageproblem. Geld macht also ökonomisch keinen fundamentalen Unterschied, es ist nicht mehr als ein ‚Schleier‘. Für Keynes ist diese Antwort aber unrealistisch. Durch unseren kurzen Einblick in das Geldsystem können wir jetzt verstehen warum. Dazu folgendes Beispiel: Nehmen wir an, die Unternehmen einer Volkswirtschaft zahlen den privaten Haushalten Anfang Januar 100 Millionen Euro an Einkommen, wie sie es jeden Monat tun. [1]

Im Januar sparen die privaten Haushalte 10 % von diesem Einkommen, das sie sonst für Produkte der Unternehmen ausgegeben hätten, für Lebensmittel, Kleider, Benzin usw. Dadurch haben die Unternehmen aber 10 % weniger Einnahmen. An die Unternehmen fließen im Januar also nur noch 90 Millionen zurück.

Keynes würde sich jetzt fragen, wie die Unternehmen in einer solchen Situation realistischerweise reagieren, besonders wenn die Haushalte in den nächsten Monaten weiterhin sparen. Im vollkommenen Markt könnten die Unternehmen damit rechnen, dass die Ersparnisse wieder ausgegeben werden, weil die privaten Haushalte rational sind und das Geld irgendwann nutzen wollen. Da die privaten Haushalte unendlich schnell handeln, passiert das auch sofort. Doch in der realen Welt wissen die Unternehmen nicht, wann die privaten Haushalte wieder aufhören zu sparen und das Geld in die Wirtschaft zurückgeben. Es könnte auch erst in 100 Jahren sein. Sie wissen also nicht, ob die Nachfrage noch so hoch sein wird, dass sie ihre Produkte alle absetzen können. Ist das eine gute Situation, um zu investieren und neue Produkte auf den Markt zu bringen?

Sicher nicht. Die Zukunft ist unsicher und sieht eher düster aus. Die Unternehmen werden also eher versuchen, Kosten zu sparen, indem sie weniger produzieren oder Angestellte entlassen. Investitionen sind attraktiv bei einer guten Wirtschaftslage. Doch wenn die Haushalte viel sparen, ist das wenig erfolgsversprechend. Bereits an dieser Stelle ist es für Keynes also unrealistisch, dass so viel investiert wird, wie gespart wird. Der Zinsmechanismus hängt aber auch davon ab, dass die Zinsen sinken, wenn mehr gespart wird. Passt dies zu unserem Einblick in das Geldsystem?«

»Vermutlich nicht.«

»Die Idee dabei ist ja folgende: Wenn das Angebot an Ersparnissen größer wird, sinkt der Zins. Aber wie wir gesehen hatten, sind Ersparnisse keine Voraussetzung für Kredite. Eine Geschäftsbank kann im Prinzip unbegrenzt Kredite vergeben. Praktisch ist die Kreditvergabe der Geschäftsbanken durch ein steigendes Risiko beschränkt, je mehr Kredite sie vergeben. Doch dieses Risiko verringert sich nicht durch die Erhöhung von Ersparnissen. Wenn die privaten Haushalte viel sparen und die Wirtschaft schlecht läuft, erhöht dies im Gegenteil das Risiko, dass Unternehmen Pleite gehen und Kredite nicht zurückbezahlt werden können. In einer solchen Situation werden Banken mit der Vergabe von Krediten für Investitionen nicht freigiebiger, sondern zurückhaltender. Einen klaren Zusammenhang zwischen erhöhten Ersparnissen und niedrigeren Zinsen gibt es aus postkeynesianischer Sicht nicht. Demnach ist es übrigens auch falsch, dass Staatsschulden Investitionen verdrängen, wie neoklassische Lehrbücher behaupten.«

»Du meinst das Crowding-out, über das wir vorhin gesprochen hatten.«

»Richtig. Aber selbst wenn die Zinsen sinken würden, ist für den Unternehmer die Nachfrage der entscheidende Punkt. Wenn er nicht damit rechnen kann, dass er seine Produkte loswird, wird er auch bei einem niedrigeren Zins keine Investitionen tätigen. Damit die neoklassische These vom Marktgleichgewicht aufrechterhalten werden kann, muss es im freien Markt aber einen verlässlichen, automatisch wirkenden Mechanismus geben, der das Sparen ausgleicht. Für einen solchen Mechanismus gibt es aus Keynes´ Sicht aber keine Gründe.«

»Und wenn die Unternehmen nicht automatisch anfangen zu investieren, wenn gespart wird, dann gerät die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht?«

»Richtig. Jetzt haben wir den Kreis geschlossen. Das ist ein zentraler Grund, warum Keynes nicht daran geglaubt hat, dass der Markt automatisch ins Gleichgewicht kommt. Das Problem ist das Sparen. Wenn die Unternehmen in einer solchen Situation nicht investieren, muss jemand in den Markt eingreifen. Jemand muss von außen das instabile System wieder in Gang setzen. Und das ist für Keynes die Rolle des Staates. Wenn es die Unternehmen nicht machen, muss der Staat investieren.«

»Aber ist das Sparen denn wirklich immer so schlimm? Ich meine: es wird ja schon gespart, aber doch nicht so furchtbar viel.«

»Doch, Sparen ist schlimm, auch wenn nur relativ wenig gespart wird. Wenn nicht zugleich Schulden gemacht werden. Kontinuierliches Sparen zieht immer mehr Geld aus dem Wirtschaftskreislauf. Selbst wenn relativ wenig gespart wird, bedeutet Sparen ohne neue Schulden den schleichenden Tod für eine Volkswirtschaft. Wenn wir unsere Rechnung von vorher fortsetzen wird dies schnell klar: Wir hatten angenommen, die privaten Haushalte erhalten von den Unternehmen jeden Monat 100 Millionen an Einkommen. Wenn die privaten Haushalte 10 % sparen, fließen nur noch 90 Millionen an die Unternehmen zurück. Wenn sich niemand verschuldet oder seine Ersparnisse reduziert, können die Unternehmen dann aber nur noch 90 Millionen an die privaten Haushalte an Einkommen ausbezahlen. Wenn diese wieder 10 % sparen, erhalten die Unternehmen nur noch 81 Millionen an Einkünften. Wenn das so weitergeht, ist die Wirtschaft schnell am Boden.«

»Aber mein Vater würde doch trotzdem sein normales Gehalt bekommen. Er hat doch einen Arbeitsvertrag.« 

»Einige werden ihren Lohn weiter bekommen, andere aber nicht. Einige werden entlassen, andere arbeitslos, weil Unternehmen Pleite gehen. Wenn 5% oder auch nur 1% gespart werden, passiert das Gleiche, wenn auch langsamer. Außer durch Schulden könnten diese Verluste der Unternehmen zwar durch eine Deflation ausgeglichen werden, das heißt, es gäbe zwar weniger Geld im Umlauf, aber die Produkte würden immer billiger. Aber eine Deflation ist aus Keynes´ Sicht ebenfalls sehr gefährlich für eine Wirtschaft.«

»Aber in Deutschland wird doch seit langer Zeit gespart. Die deutsche Wirtschaft müsste doch längst in einer Krise versunken sein.«

»In Deutschland werden über 200 Millarden Euro gespart jedes Jahr. Aber es werden jährlich eben auch so viele Schulden gemacht. In den 60er Jahren waren es vor allem die Unternehmen, die Schulden gemacht haben. Sie haben sehr viel investiert. Heute macht das Ausland die Defizite, die das Sparen in Deutschland wieder ausgleichen und eine Wirtschaftskrise verhindern. Das Ausland bezahlt unsere Exportüberschüsse und dieses Geld fließt in unsere Wirtschaft. Viele Länder sind gegenüber Deutschland hoch verschuldet. Deshalb ist die deutsche Wirtschaft auch so von den Exportüberschüssen abhängig. Würden diese einbrechen und die deutsche Regierung sich weiterhin weigern, Schulden zu machen, bekäme die deutsche Wirtschaft große Probleme.«

»Staatsschulden sind aus dieser Sicht also notwendig.«

»Sie sind ein unverzichtbares Instrument, um das Sparen auszugleichen. Wenn die Unternehmen nicht genug investieren, muss der Staat einspringen. Dies zu unterlassen ist demnach mindestens genauso unverantwortlich, wie durch eine ungehemmte Geldvermehrung eine starke Inflation auszulösen. Durch das Sparen kann die Wirtschaft in eine schwere Rezession stürzen.«

»Aber Inflation ist doch eine Gefahr für die Wirtschaft.«

»Postkeynesianer haben darauf hingewiesen, dass die Gefahr einer Inflation oft stark übertrieben wird. In den USA kam es trotz wachsender Schulden in den letzten hundert Jahren nie zu einer starken Inflation, die durch eine zu große Nachfrage ausgelöst wurde. Japan hat den höchsten Schuldenstand aller Industrienationen, ohne Auswirkungen auf eine Inflation.«

»Und was ist, wenn der Staat Pleite geht?«

»Wie wir gesehen haben, kann ein Staat technisch gesehen nicht Pleite gehen, wenn er sich in seiner eigenen Währung verschuldet. Die Zentralbank kann ja beliebig große Zahlen in den Computer eingeben oder auf Banknoten schreiben. Der Staat braucht deshalb nicht einmal Steuereinnahmen, um seine Ausgaben zu finanzieren. Die notwendige Geldmenge könnte jederzeit neu geschaffen und zur Verfügung gestellt werden.

Es ist vielmehr so, dass ohne die staatliche Schöpfung von Geld keine Steuern gezahlt werden könnten. Unter anderem muss der Staat über die Zentralbank zuerst eine Währung schaffen, bevor er Steuern in seiner Währung erheben kann. Das verdeutlicht sofort, dass ein souveräner Staat kein wehrloses Opfer einer Staatspleite in seiner eigenen Währung sein kann. Diese Zusammenhänge wurden von Vertretern der Modern Monetary Theory hervorgehoben, einer postkeynesianischen Schule. Man hat ihnen sofort vorgeworfen, einer ungehemmten Geldvermehrung das Wort zu reden. Das ist aber nicht zutreffend. Hier geht es zunächst einmal um die Frage, ob es rein technisch eine Grenze der Staatsverschuldung gibt. Das ist in modernen Geldsystemen natürlich nicht der Fall. Wer dies anerkennt, behauptet nicht zugleich, dass Steuern abgeschafft werden sollten oder dass der Staat seine Ausgaben plötzlich verzehnfachen sollte.«

»Du hast gesagt, dass ein Staat in seiner eigenen Währung höchstens durch Gesetze Pleite gehen kann. Wie sieht es damit aus?«

»In Kanada gibt es ein Gesetz, nach dem das Parlament die Zentralbank auffordern kann, dem Staat Geld zu leihen. Die Zentralbank kann sich dem nicht verweigern. In Kanada ist eine Staatspleite unmöglich. In der Eurozone ist es der EZB dagegen verboten, den Staaten direkt Geld zu geben. Deshalb haben die Staaten der Eurozone eine wichtige Säule ihrer Souveränität aufgegeben. Während der Eurokrise wurden aber verschiedene Instrumente wie der ESM geschaffen, die eine Staatspleite praktisch ausschließen. Ganz abgesehen davon können Gesetze geändert werden.«

»Und was ist mit den Zinsen und den nächsten Generationen?«

»Das ist die richtige Gelegenheit, noch einmal gesamtwirtschaftliches Denken zu üben.«

»Gerne.«

Im nächsten Artikel wird aufgezeigt, wie sich das gesamtwirtschaftliche Denken vom einzelwirtschaftlichen Denken hinsichtlich vier zentraler Themen unterscheidet: Staatsschulden, Zinsen, Sozialstaat und Rente.

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buchprojekt »Thinking for Future«, das die politische Philosophie und angrenzende Sozialwissenschaften thematisiert.

[1] Dieses Beispiel stammt von Heiner Flassbeck. Heiner Flassbeck (2018): Heiner Flassbeck zur Situation der Eurokrise. [YouTube-Video.] Vortrag bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung am 14.06.2018,  https://www.youtube.com/watch?v=Tips7pIwCuw, zugegriffen am 6.12.2020.