Demografische Alterung

Comeback der Agenda-Politik?

| 21. Januar 2022
istock.com/Tommy Lee Walker

In den kommenden Jahren werden sich die Verteilungskämpfe um den Sozialstaat verschärfen. Die Bertelsmann-Stiftung gibt einen düsteren Ausblick einer alternden Gesellschaft. Eine Kritik.

Ende November 2021 hat die Bertelsmann-Stiftung Materialien zur langfristigen Entwicklung der Sozialausgaben und der öffentlichen Finanzen vorgelegt. Hintergrund ist die Alterung der Bevölkerung in Deutschland, Grundlage eine Studie von Martin Werding, Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen der Uni Bochum. Werding präsentiert Langfrist-Simulationen zur Entwicklung der Sozialbeitragsätze und der öffentlichen Finanzen angesichts der demografischen Entwicklung bis 2080.

Die Basisvariante geht dabei von einer stabilen Geburtenziffer bei steigender Lebenserwartung und einem Wanderungssaldo von 200.000 arbeitsfähiger Menschen pro Jahr aus. Alternativszenarien einer jüngeren und einer älteren Bevölkerung gehen von einer etwas höheren bzw. niedrigeren Geburtenziffer, ein halbes Jahr pro Jahrzehnt geringerer oder höherer Steigerung der Lebenserwartung und 100.000 pro Jahr höheren bzw. geringerem Wanderungssaldo aus.

Dementsprechend ergibt sich eine schwächere oder stärkere Steigerung des Altenquotienten (Anzahl der über 65-Jährigen relativ zur Anzahl der 15- bis 64-Jährigen). Im Verlauf der 2020er bis Mitte der 2030er Jahre ist in allen Varianten ein starker Anstieg zu verzeichnen, bedingt durch den Übergang geburtenstarker Jahrgänge ins Rentenalter. Danach stabilisiert sich die Entwicklung zunächst mehr oder weniger, um in den 2050er Jahren in der Basisvariante erneut leicht anzusteigen.

Abbildung 1

Auf dieser Grundlage und bei unveränderter Rechtslage projiziert Werding aus demografischen Gründen massiv steigende Staatsausgaben inklusive Sozialversicherungen und stark steigende Beitragsätze: in der Basisvariante von heute 40 % auf 50 % in 2040, 56 % in 2060 und 60 % in 2080. Demzufolge seien massiv wachsende Finanzierungsdefizite und Schuldenstände des Staates zu erwarten. In der Variante der jüngeren Bevölkerung sieht es etwas günstiger aus, bei älterer Bevölkerung noch ungünstiger.

Abbildung 2
Abbildung 3
Abbildung 4

Als Gegenmaßnahmen werden höhere Fachkräftezuwanderung und Qualifizierungsanstrengungen, höhere Frauenerwerbstätigkeit und ein höheres Renteneintrittsalter empfohlen. Die „doppelte Haltelinie“ lasse sich nicht halten. Kostensenkungen und Effizienzsteigerungen in Gesundheitswesen und Altenpflege seien genauso notwendig wie weitere Ausgabenkürzungen bei den öffentlichen Haushalten. Auf jeden Fall müssten weitere ausgabensteigernde Reformen vermieden werden, insbesondere in der Rente würden diese die Beitragsätze noch weiter steigen lassen.

Abbildung 5

Nicht alles lässt sich aus Werdings Projektionen ableiten

Gegen die Projektionen zur Entwicklung der Bevölkerung und des Altenquotienten sowie der Erwerbsbeteiligung lässt sich im Grundsatz nicht viel einwenden, wobei die Unsicherheiten immer größer werden, je weiter sie in die Zukunft reichen. Damit ist auch klar, dass die Tendenz zunehmender Gesamtaufwendungen für die Alterssicherung je nach deren Ausgestaltung im Prinzip zutreffend ist. Die Lebenserwartung könnte allerdings auch deutlich weniger steigen (in der Projektion beträgt sie 2080 über 90 Jahre bei den Frauen und 87 Jahre bei den Männern).

Die Steigerung der Beitragsätze kann aber erheblich geringer ausfallen. Einerseits sind hier eine Reihe weiterer Annahmen zu bezweifeln oder unrealistisch, andererseits könnten andere hier nicht diskutierte Reformen zu einer anderen Entwicklung führen. Das gilt umso mehr für die Entwicklung der staatlichen Defizite und Verschuldung, die sich überhaupt nicht einseitig aus solchen Projektionen ableiten lässt.

Der Anstieg der Ausgaben und Beitragsätze für die Krankenversicherung, die bei Werding einen großen Anteil an der Gesamtentwicklung hat, ist sehr hoch gegriffen. Der letzte Tragfähigkeitsbericht der Bundesregierung nimmt bis 2060 nur einen Anstieg der demografiebedingten Ausgabenquoten am BIP für die Krankenversicherung um einen halben Prozentpunkt an – und nicht um etwa fünf Prozentpunkte wie Werding. Die Deutsche Rentenversicherung schätzt für 2045 einen Beitragssatz von 17,6 %, bei Werding sind es etwa 19 %.

Auch der Ökonom Stefan Sell weist darauf hin, dass eine älter werdende Bevölkerung nicht unbedingt zu steigenden Gesundheitsausgaben führen muss – und dass es eine enorme und noch zunehmende Ungleichheit der Lebenserwartung in Abhängigkeit von der sozialen Lage der Menschen gibt, die gesundheitspolitisch und vor allem rentenpolitisch stärker beachtet werden müsse.

Völlig abstrus allerdings ist die Projektion der Arbeitsmarktentwicklung. Werding erwartet aufgrund neoklassischer Modellannahmen trotz der demografisch bedingten Knappheit an Arbeitskräften eine steigende Erwerbslosenquote:

„Die modellendogen ermittelte Erwerbslosenquote steigt dabei [von jetzt 4 %, RK] bis 2050 zunächst auf 5,7 %, bis 2060 auf 7,8 % und bis 2080 weiter auf 8,9 %. Zu interpretieren ist dies als zunehmende strukturelle Arbeitslosigkeit aufgrund stark steigender Abgabenbelastungen (v. a. höherer Beitragssätze der Sozialversicherungen).“[1]

Dagegen geht das IMK von unklaren und geringen Auswirkungen höherer Abgaben auf die Arbeitslosigkeit und ebenso auf das Wachstum aus.

Diese hohe Erwerbslosigkeit führt in der Projektion nicht nur unmittelbar zu höheren Ausgaben und Beitragsätzen für die Arbeitslosenversicherung, sondern auch indirekt zu höheren Beitragsätzen in allen Sozialversicherungen, weil die notwendigen Beitragseinnahmen von weniger Erwerbstätigen aufgebracht werden müssen. Insgesamt kommt die Studie auf eine Steigerung der Quote demografie-reagibler Ausgaben am BIP (bereinigt um die Covid-Lage) bis 2040 um 5 Prozentpunkte, bis 2060 um 8, bis 2080 um 10 Prozentpunkte.

Der Tragfähigkeitsbericht der Bundesregierung kommt dagegen auf eine geringere Steigerung der demografiebedingten Ausgabenquoten am BIP bis 2040 um etwa 3,5 Prozentpunkte und bis 2060 um etwa fünf Prozentpunkte bis 2060.[2]

Dem entsprechend ergäben sich beim Bericht der Bundesregierung auch geringere Steigerungen der Beitragsätze. Unter zusätzlicher Berücksichtigung erheblich niedrigerer Erwerbslosigkeit dürfte der absehbare Anstieg der Beitragsätze bei einer unveränderten Rechtslage nur gut halb so hoch sein wie bei Werding projiziert. Das wären dann in etwa 43 Prozent in 2030 (das entspricht der Schätzung der Deutschen Rentenversicherung, 21,2 % RV-Beitrag bei von 48,3 auf 46,6 % gesunkenem Rentenniveau in alter Rechnung, 2035: 22,4 % bei Niveau 44,9 %), 45 – 46 % in 2040, 49 % in 2060 und 51 % in 2080 – wobei so langfristige Projektionen sowieso fragwürdig sind.

Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass die von ver.di und anderen Gewerkschaften und Sozialverbänden geforderten Leistungsverbesserungen zu höheren Ausgaben führen würden, die durch höhere Beitragsätze und Steuern finanziert werden müssten: von höherem oder schon von konstant gehaltenem Rentenniveau (weil ansonsten würde es um mehrere Prozentpunkte weiter sinken) und besserer Armutsbekämpfung über bessere Personalausstattung und höhere Löhne im Gesundheitswesen und in der Altenpflege bis zur Pflegevollversicherung, aber auch mehr Personal im Bildungswesen. Allerdings würde der Abbau staatlicher Alterssicherung zu einem erhöhten Finanzierungsbedarf im Bereich der privaten Vorsorge und in anderen Sozialsystemen führen, was Werding nicht diskutiert.

Welche Abgaben wie stark steigen und vor allem welche Bevölkerungsgruppen dadurch wie stark belastet würden, ist allerdings von politischen Gestaltungen abhängig. Das gilt umso mehr für die Entwicklung der öffentlichen Defizite und Verschuldung, die ja nur dann steigen, wenn steigende Ausgaben nicht durch steigende Einnahmen kompensiert würden. Man geht hier davon aus, dass Kreditfinanzierung vor allem für Investitionen genutzt wird, aber die dauerhafte Finanzierung höherer Personal- und Sozialausgaben nur durch entsprechende Einnahmen aus Steuern oder Sozialbeiträgen möglich ist.

Eine Finanzierung über die Zentralbank steht aus rechtlichen Gründen nicht zur Verfügung, würde bei den Größenordnungen zweistelliger Prozentanteile am BIP aber auch ökonomisch nicht funktionieren bzw. zu stark erhöhter Inflation führen, über die dann die Umverteilung vollzogen würde. Auf der Ebene der Einkommensverteilung und -verwendung ex post betrachtet, beruhen diese Ausgaben letztlich immer auf Umverteilung von Primäreinkommen, Volkseinkommen bzw. ihrer Kaufkraft.

Leistungskürzung, Kapitalmärkte oder Bürgerversicherung?

Allgemeine Übereinstimmung besteht darin, dass die Erwerbsquoten insbesondere der Frauen und Älteren weiter gesteigert werden sollten und die Arbeitslosigkeit bekämpft werden muss, auch um so die Beitragssätze zu stabilisieren. Ein zentrales Instrument, um Beitragssatzsteigerungen zu begrenzen, wären höhere steuerfinanzierte Bundeszuschüsse an die gesetzlichen umlagefinanzierten Sozialversicherungen, die auch aufgrund bisher nicht beitragsbegründeter Leistungen berechtigt wären.

Die finanziellen Spielräume dafür ließen sich steigern, wenn zugleich die staatliche Förderung kapitalgedeckter Vorsorge und Versicherungen abgebaut und perspektivisch abgeschafft würde. Jede Ausweitung dieser Förderung reduziert die Finanzmittel, die zur Verfügung stehen, um die Sozialversicherungen zu stützen und damit die Sozialbeiträge zu begrenzen. (Abgesehen davon ist es sowohl makroökonomisch als auch politisch schädlich, die weitere Expansion der Kapitalmärkte und Vermögenspreise zu fördern und die Rentenbeziehenden von deren positiver Entwicklung abhängig zu machen.)

Es wird aber keinesfalls möglich sein, die bevorstehenden Ausgabensteigerungen nur auf diese Weise zu verarbeiten. Dafür wären enorme zusätzliche Steuereinahmen nötig. Ein Prozentpunkt der Ausgaben am BIP entsprechen 2021 etwa 35 Milliarden Euro, ein Beitragssatzpunkt bei der Rentenversicherung erbringt etwa 14 Milliarden Euro Beitragseinnahmen, zwei Prozentpunkte Rentenniveau kosten etwa einen Prozentpunkt Beitragssatz. Die Umsetzung des kompletten steuerpolitischen Reformprogramms des DGB entspricht weniger als zwei Prozent des BIP und würde für etwa vier Beitragssatzpunkte reichen.

Diese Mehreinnahmen werden aber vorrangig für höhere Ausgaben von Bund, Ländern und Kommunen unmittelbar gebraucht, für Personal und auch für Sozialleistungen wie verbesserte Grundsicherung für Erwerbslose, Erwerbsgeminderte und im Alter sowie für Kinder. Höhere Steuereinnahmen, die durch eine allgemeine Erhöhung der Besteuerung von Einkommen von Haushalten und Unternehmen (und nicht durch Besteuerung großer Vermögen) aufgebracht würden, würden die Nettolöhne zudem wahrscheinlich stärker beeinträchtigen als höhere paritätisch aufgebrachte Beitragsätze, die von den Arbeitgebern nicht vollständig in geringere Lohnsteigerungen überwälzt werden könnten.[3]

Um die Belastungen der Masse der abhängig Beschäftigten zu begrenzen, wäre es daher wichtig, eine solidarische Erwerbstätigenversicherung für die Rente und eine Bürgerversicherung für Gesundheit und Pflege umzusetzen. Es geht darum, schrittweise alle Erwerbstätigen bzw. die gesamte Bevölkerung in die gesetzlichen Sozialversicherungen einzubeziehen und die Beitragsbemessungsgrenzen kräftig zu erhöhen. In der Kranken und- und Pflegeversicherung könnten geringere Beitragsätze auch dadurch erreicht werden, indem man alle Einkommen einbezieht bzw. in die Verbeitragung führt.

Eine Studie für DIE LINKE kommt zu dem Ergebnis, dass eine solche Reform je nach Ausgestaltung eine Senkung der Beitragsätze um 2,3 bis 3,5 Prozentpunkte ermöglichen würde. Die unteren zwei Drittel der Bevölkerung würden kräftig entlastet, nur das obere Zehntel der Einkommenspyramide deutlich höher belastet.

Bei der Rentenversicherung würden höhere Bemessungsgrenzen nur zu einem dauerhaften Finanzierungsvorteil führen, wenn zugleich bei hohen Beiträgen – zumindest oberhalb der bisherigen Beitragsbemessungsgrenze – diese nur noch wesentlich vermindert, also degressiv und gedeckelt, zu höheren Rentenansprüchen führen würden. Ansonsten würde langfristig die Umverteilung von den ärmeren Versicherten mit geringerer Lebenserwartung zugunsten der wohlhabenderen und reichen Versicherten mit längere Lebenserwartung noch verstärkt. Diese Umverteilung ist allerdings bei privater Vorsorge ohne die Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen Versicherung noch ausgeprägter.

Auf jeden Fall ist davon auszugehen, dass sich in den kommenden Jahren und insbesondere ab Mitte der 2020er Jahre die Verteilungskämpfe um den Sozialstaat und die Bemühungen der Kapitalseite um Leistungskürzungen wieder erheblich verschärfen. In den 2010er Jahren waren sie aufgrund steigender Erwerbstätigkeit bei relativ stabilen demografischen Verhältnissen, der Wirkungen der vorangegangenen Ausgabenkürzungen, und positiver Entwicklung der öffentlichen Finanzen weniger stark. Ab etwa 2014 konnten sogar gewisse Verbesserungen erreicht werden.

Die Gewerkschaften und die sozialen Kräfte müssen sich auf diese Auseinandersetzungen vorbereiten, damit sich die Jahre der Riester-, Hartz- und Agenda 2010- Reformen nicht noch schrecklicher wiederholen.

[1] S. 14, die registrierte Arbeitslosenquote steigt danach von sechs auf 14,4 % 2080.
[2] Mittelwert der Demografie-Varianten T+ und T-, was der Projektion in der Werding-Studie nahekommt.
[3] so der oben angegebene IMK-Policy Brief, S. 5.