Spotlight

Demografie und Migration

| 22. Januar 2022

Liebe +Leserinnen und Leser,

Deutschland altert. Deutschland schrumpft. Es fehlen Fachkräfte. Unseren Wohlfahrtsstaat werden wir uns bald nicht mehr leisten können. Das Rentenniveau muss sinken, der Umfang der sozialen Sicherungsleistungen gekürzt werden.

Es gibt nur einen Weg, dieses düstere Szenario zu vermeiden: Wollen wir unsere Wettbewerbsfähigkeit und unseren Lebensstandard auch in Zukunft bewahren, brauchen wir mehr Migration! Oder wie die Friedrich-Ebert-Stiftung schreibt: „Ohne sie – nämlich die Migrant_innen und zunehmend auch Geflüchtete – geht es nicht mehr.“

Haben Sie je etwas anderes gelesen? Wie könnte es auch anders sein. Tatsächlich dürfte kein Diktum derart wenig hinterfragt werden wie dieses. Quer durch fast alle politischen Lager in Deutschland hindurch ist die Auffassung mehrheitsfähig, dass nur mehr und andauernde Migration unser demografisches und wirtschaftliches Problem lösen könne. Der Glaube an den demografischen Faktor und die segensreichen Effekte der Migration eint das Unternehmerlager und die progressiven Kräfte.

Doch gibt es wirklich ein demografisches Problem? Glaubt man Martin Werding, ist dem so. Auf der Grundlage eines steigenden Altersquotienten projiziert er in einer Studie für die Bertelsmann Stiftung massiv steigende Staatsausgaben und stark steigende Beitragsätze der Sozialversicherungen. Unser Gastautor Ralf Krämer, Gewerkschaftssekretär bei verdi, setzt sich mit den Ergebnissen dieser Studie kritisch auseinander und bemängelt unter anderem die Projektion der Arbeitsmarktentwicklung auf Basis neoklassicher Modellannahmen als "abstrus". 

Axel Börsch-Supan, Direktor des Max-Planck-Instituts für Sozialrecht und Sozialpolitik in München stößt zum Jahresende in das gleiche Horn wie die Bertelsmann Stiftung und wirft der neuen Bundesregierung eine „Verdrängung des demographischen Wandels“ vor. Dabei stehe die gesetzliche Rentenversicherung vor „der größten Herausforderung seit Bismarck“. Durch die Baby-Boomer-Generation der Jahrgänge 1955 bis 1964 komme ein „Ansturm auf die Rentenkasse zu“, der spätestens 2024 eine Beitragserhöhung unausweichlich mache. Verschärft werde die Lage noch durch die infolge der sinkenden Geburtenrate abnehmende Zahl der Beitragszahler, sodass in den nächsten Jahrzehnten immer weniger Erwerbstätige immer mehr Rentner finanzieren müssten. Börsch-Supan fordert daher, das Rentenniveau am Altenquotienten zu orientieren, heißt am Verhältnis der Personen im Rentneralter zu denen im erwerbsfähigen Alter.

Stimmen, die wie unser Autors Hartmut Reiners darauf hinweisen, dass der Altersquotient über die wirtschaftlichen Belastungen der erwerbstätigen Bevölkerung durch Sozialabgaben keine Auskunft gibt, sind rar gesät. Entscheidend für die Entwicklung der Rentenversicherungsbeiträge, so Reiners weiter, seien die Produktivitätsentwicklung der Wirtschaft und die Höhe der beitragspflichtigen Löhne.

Und wie reagiert nun die Ampel-Koalition auf das angebliche Demografie-Problem? Wie will sie den Fortbestand unseres Sozialstaats sichern? Mit einer Ausweitung der Migration und einer Lockerung der Staatsbürgerschaftsrechts. Das große Vorbild ist die USA.

Allgemein gilt Amerika nicht nur als beweglicher, flexibler und dynamischer als das alte Europa, sondern Amerikaner auch im eigenen Land als umzugsfreudig: Sie ziehen im Durchschnitt gut zehn Mal im Leben um, wechseln auch gut zehn Mal im Leben ihren Job, wie Jörg Bibow weiß. Ein Punkt, der auch in der Diskussion um die ökonomische Zweckmäßigkeit und Überlebensfähigkeit einer Währungsunion in Europa viel Beachtung gefunden und die Diskussion um die Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU beeinflusst hatte.

Doch die Ankündigungen der sogenannten „Fortschrittskoalition“, „Vielfalt“ mit allen nur erdenklichen Mitteln befördern zu wollen, erwarten nichts Gutes, schreibt Paul Steinhardt. Vor allem werde man so die Probleme multiethnischer Gesellschaften nicht zu lösen imstande sein. Eine liberale Migrationspolitik möge vielleicht das Renten- und Fachkräfteproblem beheben. Ob es sich aber um eine Strategie handelt, die in der Realität nicht zu mehr Problemen führt, als sie löst, ist eine andere Frage.

Kann also das Demografie-Narrativ eine liberale Migrationspolitik wirklich rechtfertigen? Oder verhindert es sogar eine sachgerechte Ursachenanalyse von Problemen der Alterssicherung, von Arbeitsmärken und den zugrundeliegenden Wirtschaftsstrukturen?