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Rentenreform
Die unterschätzte Unwucht der Rentenpolitik
Von Gerd Grözinger
| 22. Februar 2023istock.com/jacoblund
Die Lebenserwartung ist vom sozio-ökonomischen Status abhängig: je niedriger, desto schlechter die Situation. Diese sozialen Gradienten der gesundheitlichen Ungleichheit werden in unserem Rentensystem nicht berücksichtigt.
In den 80er Jahren gab es in den Sozialwissenschaften eine Diskussion um die noch möglichen gewerkschaftlichen Ziele unter widrigen Bedingungen. Fritz W. Scharpf, eine Koryphäe der Politikwissenschaften, argumentierte damals, dass die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen – Dollar-Dominanz plus Globalisierung plus hohe Realzinsen – einen nationalstaatlichen Keynesianismus immer wirkungsloser machen würde und eine diesbezügliche europäische Koordinierung nicht in Sicht sei. Deshalb plädierte er für einen realistischeren Sozialismus in einer Klasse.
Praktisch verstand er darunter eine staatliche geförderte allgemeine Arbeitszeitreduktion, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Die in ihrer ökonomischen Sicherheit eher ‚privilegierten‘ Arbeitsplatzbesitzer müssten via Einkommensverzicht, aber dafür wenigstens mit Freizeitgewinn, etwas zur Chancen-Verbesserung der damals zahlreichen Langfrist-Arbeitslosen, unfreiwillig Teilzeit-Arbeitenden und Berufseinsteigern beitragen.
Das war damals (wie vermutlich auch heute noch) umstritten. Politik wie Gewerkschaften folgten dieser Empfehlung nicht. Im Gegenteil: während in Europa früher kollektive Arbeitszeitverkürzungen relativ stetig stattfanden, stagniert von den 80er Jahren bis heute die durchschnittliche Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten auf dem Niveau von ungefähr 40 Stunden.
Aber die interessante Überlegung des ‚Sozialismus in einer Klasse‘ könnte vielleicht zukünftig in einem anderen großen Auseinandersetzungsfeld von Bedeutung sein: bei der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV).
Das bedeutet nicht, dass hier der gesellschaftliche Verteilungsspielraum schon ausgereizt wäre. Tatsächlich ist Deutschland sehr knausrig bei seiner Altersversorgung. Nur 11% des BIP plus 1,1% Steuervergünstigungen wendet Deutschland laut der OECD für seine Rentenzahlungen auf. Und da sind schon öffentliche und private Zahlungen zusammengezählt. Um einige relevante Vergleichsländer zu zitieren: die beiden (zumindest teilweise) deutschsprachigen Länder kommen auf 12% plus 1,3% (Schweiz) sowie 13.7% plus 0% (Österreich). Und das große Nachbarland Frankreich, das gerade von den ‚Reform’plänen der Regierung Macron zur Verschlechterung der Rentensituation erschüttert wird, verzeichnet 13,9% plus 0,1%.
Zur Erinnerung: 1% des BIP in Deutschland sind im Moment etwa 39 Milliarden Euro. Würden wir österreichische Verhältnisse anstreben, hätten wir also einen zusätzlichen Verteilungsspielraum von etwa 62 Milliarden Euro. Die Ausgaben der Rentenversicherung betrugen zuletzt etwa 356,8 Milliarden Euro. Die 62 Milliarden mehr ergäben eine Steigerung der Rentenkasse um etwa 17%. Das wäre erheblich.
Österreich ist ein interessanter Fall. Schon 2020 hat Günther Eder auf MAKROSKOP diesen Vergleich gezogen:
„In Österreich hat die Bevölkerung den Privatisierungsbestrebungen der Regierung eine grundsätzliche Absage erteilt. Dort gilt seit über dreißig Jahren ein unveränderter Beitragssatz von 22,8%, die Renten sind im Durchschnitt über 50% höher als in Deutschland und das Rentenniveau liegt bei über 70%. Davon kann man in Deutschland nur träumen. Hier beträgt das Sicherungsniveau (vor Steuern) lediglich 48%.“
Und seine Schlussfolgerungen daraus lauten in einem anderen Beitrag:
„Die wichtigsten Maßnahmen, um auf Basis des gesetzlichen Rentensystems gute Renten zahlen zu können, die möglichst den Lebensstandard sichern, wären:
-
die Finanzierung versicherungsfremder Leistungen über Steuermittel
-
die Beendigung der Privatisierung der gesetzlichen Rente
-
eine angemessene Anhebung des Rentenbeitragssatzes.“
Das Problem der differentiellen Lebenserwartung
Einige zusätzliche Überlegung seien eingebracht. Und zwar die angemessene Berücksichtigung des sozialen Gradienten der gesundheitlichen Ungleichheit. Darunter versteht man, dass die Morbidität und Mortalität statistisch abhängig sind vom sozio-ökonomischen Status: je niedriger, desto schlechter die Situation.
In Bezug auf die gesetzliche Rente speziell hat sich das DIW 2019 dieser Frage gewidmet und Daten der Deutschen Rentenversicherung ausgewertet. Die Rentenformel berücksichtigt unterschiedliche Sterblichkeiten nämlich in keiner Weise. Das deutsche System differenziert seine Rentenanwartschaft nur nach Verdiensthöhe und geleisteten Arbeitsmonaten und scheint somit auf den ersten Blick relativ objektiv konstruiert. Es beruht also auf einem ‚Äquivalenzprinzip‘ von vorherigen Einkommen und späterer Auszahlung, ergänzt um einige gesellschaftlich gewünschte Korrekturfaktoren wie Kindererziehungszeiten.
Das DIW konnte nun aber zeigen, dass die Bezugsdauer der Rente wegen der Differenzen in der Lebensdauer sehr unterschiedlich ausfällt. Basis der Berechnungen waren – der rechnerischen Konsistenz über eine lange Zeit wegen – westdeutsche männliche Arbeitnehmer mit mindestens 30 Beitragspunkten. Das ist die große Mehrzahl in dieser Kategorie. Und die Beschränkung auf eine solche Kerngruppe ist methodisch angemessen. Denn wenn alle Rentenbezieher eingeschlossen werden, also auch die mit minimalen Beitragspunkten (etwa weil die meiste Zeit über eine Ehe materiell abgesichert), und dann auch noch nicht nach West- und Ostdeutschland unterschieden wird, erntet man nur statistisches Rauschen ohne Erkenntniswert.
Aufgeteilt wurden in dem Beitrag des DIW die Rentenbezieher in Dezentilen je nach Lebenslohneinkommen. Und geschätzt wurde die Lebenserwartung ab 65 Jahre. Es gab zwei Hauptergebnisse: zum einen ist der Unterschied in der Lebenserwartung erheblich und er nimmt mit der Zeit sogar noch zu. In den Worten des DIW:
„Das heißt, dass die Lebenserwartung umso höher ist, je mehr Lohneinkommen im Laufe eines Lebens erzielt wurde. Für die Jahrgänge 1926 bis 1928 beträgt die Lebenserwartung ab einem Alter von 65 ungefähr 18 Jahre im obersten Dezil und 14 Jahre im untersten Dezil. Die Differenz von vier Jahren entspricht einem relativen Unterschied von gut 30 Prozent. Diese Differenz steigt nun kontinuierlich über die Jahrgänge an: fünf Jahre für die Jahrgänge 1932 bis 1934, sechs Jahre für die Jahrgänge 1938 bis 1940 und schließlich sieben Jahre für die Jahrgänge 1947 bis 1949, was einem relativen Unterschied von etwa 50 Prozent entspricht.“
Die Anwendung auf die Rentenauszahlungen wird vom DIW nach der internen Verzinsung berechnet. Und auch da ergibt sich ein großer Unterschied zwischen dem untersten und dem obstersten Zehntel. Die Oben erzielen aufgrund der längeren Bezugsdauer eine erheblich bessere Rendite. Das gilt auch, wenn man eventuelle Witwenrenten mit einbezieht.
Renditen sind etwas kompliziert nachzuvollziehen. Ich will deshalb die Problemlage mit einem kleinen Gedankenexperiment verdeutlichen. Gegeben seien in einer Alterskohorte der Einfachheit halber nur zwei Gruppen, jeweils gleichgroß. Die eine hat sich das Anrecht auf eine Monatsrente von 1.000 Euro erarbeitet, und bezieht diese 14 Jahre. Die andere bekommt 2.000 Euro im Monat und genießt sie 22 Jahre. Bleiben die Gesamtausgaben konstant, werden nun aber nicht nur nach der Einzahlungshöhe, sondern auch nach der statistischen Auszahlungslänge neu verteilt, dann müssten die ärmeren Rentner monatlich eigentlich statt 1.000 nun 1.381 Euro erhalten, die bessergestellten dagegen statt 2.000 nur 1.758 Euro. Über die gesamte jeweilige Bezugszeit hinweg bleibt aber das Verhältnis 2:1 weiter gewahrt, Äquivalenz zwischen Ein- und Auszahlung ist also gegeben.
Erstaunlicherweise wird der DIW-Beitrag wissenschaftlich kaum zitiert (Basis Google Scholar). Noch am meisten damit auseinandergesetzt hat sich das IW, das arbeitgeberseitige Wirtschaftsforschungsinstitut. Es hat wohl sofort die darin liegende potentielle Sprengkraft für die von ihnen virtuell mitvertretene Klientel angeblicher ‚Leistungsträger‘ erkannt. In einem Diskussionsband dazu von 2022 heißt es im Vorwort:
„Die Sozialversicherung sollte nicht auf eine gänzlich neue Verteilungslogik hin ausgerichtet und damit normativ überfrachtet werden.“
Nun, es bleibt das Geheimnis des IW, warum der Abschied von der Fiktion gleicher Lebenserwartung ‚normative Überfrachtung‘ bedeutete.
Wie dem auch sei, es gibt durchaus mehrere Gründe, warum eine direkte und schnelle Übertragung von statistischen Sterblichkeitsinformationen auf die Rentenbezugsgruppen nicht die allerbeste Idee sein dürfte. Um die wichtigsten zu nennen: erstens sind die zugrundeliegenden Daten noch immer recht unvollständig; zweitens sind sie – wie an der zunehmenden Differenz zwischen dem ersten und dem zehnten Dezentil zu sehen – durchaus zeitdynamisch; drittens haben natürlich aktuelle Rentnergenerationen bzw. die demnächst darin eintretenden bereits Lebensentscheidungen getroffen, die nicht per Stichtag gesetzgeberisch radikal revidiert werden sollten.
Lösung: eine mit der Zeit steigende Sockelrente
Die Schlussfolgerung daraus ist, dass der Einschluss der Lebenserwartung in die gesetzliche Rente graduell erfolgen und weniger als punktgenaue Umsetzung denn als generalisierende Lösung gestaltet werden sollte.
Ganz praktisch könnten künftige Rentensteigerungen über eine längere Periode hälftig aufgeteilt werden: eine Hälfte geht weiter in die proportionale Erhöhung der individuellen Rente, aus der anderen wird eine für alle mehr oder minder gleiche Sockelrente finanziert.
Warum ‚mehr oder minder‘? Natürlich gibt es etliche Fälle, wo einer Altersrente sehr wenig Beitragspunkte zugrunde liegen. Das trifft etwa bei Frauen mit langen Erwerbslücken zu, die aber häufig gleichzeitig noch Witwenrenten beziehen. Hier würde man vermutlich die Sockelrente proportional kürzen und bei Bezug von zwei Renten diesen Grundbetrag natürlich nur einmal zahlen.
Und warum hälftig? Weil es eine häufig genutzte Aufteilung mit hoher Akzeptanz ist. So werden die Sozialversicherungsbeiträge weitgehend zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nach diesem Prinzip aufgeteilt oder neuerdings der CO2-Anteil bei den Heizkosten zwischen Mietern und Vermietern.
Es gibt natürlich noch diverse zu klärende Detail-Probleme. Aber einige große Fragen will ich doch ansprechen.
- Erstens, wenn Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Einkommensbeziehern ausgeglichen werden sollen, warum nicht auch zwischen den Geschlechtern? Schließlich leben Frauen statistisch länger als Männer. Darüber könnte man in der Tat nachdenken, aber sicher erst dann, wenn die weibliche Diskriminierung am Arbeitsmarkt und die unterschiedliche Verteilung der Sorge-Arbeit einmal egalisiert wären.
- Zweitens, sollte ein ähnliches System auch für Beamtenpensionen gelten? Wegen der überwiegenden Länderhoheit darin gibt es hier keinen vergleichbaren Datensatz. Aber man darf vermuten, dass eine eventuelle Spreizung in der Lebenserwartung aufgrund des hohen Akademikeranteils (vor allem Lehrer) viel geringer ausfällt. So leben männliche Beamte im Durchschnitt statistisch 5,6 Jahre länger als Arbeiter, wie das DIW mit einer SOEP-Auswertung herausgefunden hat.
- Drittens, wäre eine Sockelrente nicht nahe an der vor nicht allzu langer Zeit eingeführten Grundrente? Die Antwort ist Nein. Diese wird nur an Bedürftige bei relativ strikten Voraussetzungen ausgezahlt und finanziert sich aus dem Steueraufkommen. Die Sockelrente geht an alle, auch an die einkommensstärksten Rentner, wird aber insgesamt von diesen aufgebracht. Sie ähnelt damit manchen Tarifergebnissen, wenn sowohl ein Grundbetrag wie eine prozentuale Lohnerhöhung vereinbart wurde. Und wie bei diesen der Grundbetrag vermindert wird, wenn Teilzeit vorliegt, soll auch die Sockelrente proportional kleiner werden, wenn ein bestimmter Schwellenwert (zum Beispiel 30 Beitragspunkte) nicht erreicht wird.
Ist eine hälftige Aufteilung künftiger Rentensteigerungen in einen Fixbetrag und eine prozentuale Erhöhung tatsächlich geeignet, etwas zur Lösung der gegenwärtigen Rentenmisere beizutragen? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das gegenwärtige Rentenniveau mehr als nur bescheiden ist. Die Altersrenten betragen aktuell in Westdeutschland monatlich für Männer 1.212 Euro, für Frauen 737 Euro. In Ostdeutschland sind es 1.292 Euro und 1.082 Euro. Frauen sind hier also besonders betroffen. Auch bei Vollzeit und 40 Jahren Berufstätigkeit wird weniger als die Hälfte davon eine Rente von über 1.200 Euro erhalten.
Ebenfalls problematisch ist die Situation bei den Erwerbsminderungsrenten. Keine der vier obigen Gruppen kommt hier über 1.000 Euro. Und selbst wenn man andere Einkünfte wie Betriebsrenten oder Zinsen auf Sparguthaben hinzunimmt, und dafür aber auch Steuerzahlungen berücksichtigt, hat mehr als ein Viertel der Rentner ein monatliches Nettoeinkommen von unter 1.000 Euro.
Man kann nun eine kleine (allerdings wirklich nur sehr überschlägige) Rechnung anstellen. Reine Rentenzahlungen der GRV betragen etwa 308,4 Milliarden Euro (der Rest sind Krankenkassenbeiträge Verwaltungskosten etc.). Wenn man einmal über die nächsten Jahre eine 4%ige Lohn- und damit verbundene Rentensteigerung annimmt (2% Inflation plus 2% Produktivitätssteigerung), bedeutet dies einen Zuwachs um gut 12,3 Milliarden Euro und die Hälfte davon etwa 6,2 Milliarden Euro. Im Moment gibt es 21,2 Millionen Rentner in Deutschland. Selbst wenn man unterstellt, dass alle die Sockelrente vollständig bekämen und nicht nur teilweise bei einigen, würde das einen Zuschlag von monatlich mindestens 24 Euro bedeuten (in Wirklichkeit also höher). Und dies Jahr für Jahr um gut diesen Betrag weiter steigend.
Dagegen zu rechnen wäre der individuelle Verlust, dass 2% Rentnerhöhung nicht mehr direkt ausgezahlt werden würden. Daraus ergibt sich ein monatlicher Schwellenwert von etwas über 1.200, wo das Ergebnis einer Sockelrente plus zusätzlich 2% mit einer Erhöhung von 4% identisch ist. Wie steht es mit der Verteilung von Renten?
Das obenstehende Schaubild illustriert diese. Wieder unter der Fiktion, dass die Sockelrente einheitlich an alle Rentenbezieher ausgezahlt werden würde, profitierten entsprechend 82% der Frauen und 47% der Männer. Das machte zusammen eine satte Mehrheit der rentenbeziehenden Bevölkerung. Und die würde sich sicher auch ergeben, wenn proportionale Kürzungen der Sockelrente einberechnet werden würde, dafür aber der Schwellenwert des Break-even-Points anstiege.
Chance auf Umsetzung?
Die relativ langsame – aber im unteren Rentenbereich doch wieder sofort spürbare – Rentenveränderung durch die Einführung einer Sockelrente kann politisch durchaus einen Vorteil darstellen. Denn es muss schließlich parlamentarisch eine Mehrheit dafür organisiert werden. Die politikberatende Wissenschaft jedenfalls scheint langsam bereit zu sein, solche Überlegungen nicht mehr sofort abzulehnen. Gert G. Wagner, selbst Mitglied des Sozialbeirats, hat erst vor kurzem bei dessen letztem Gutachten eine leichte Abkehr vom bisher strikt verteidigten eng definierten Äquivalenzprinzip konstatiert und ausgeführt:
„Würde man niedrige bis mittlere Rentenanwartschaften relativ höher bewerten als hohe, würde auch ein vorzeitiger Rentenzugang bei Erwerbsminderung und eine Nutzung der flexiblen Altersgrenze zu auskömmlichen Renten führen können. Wenn man das Äquivalenzprinzip retten will, könnte man sogar argumentieren, dass das aufgrund der niedrigeren Lebenserwartung und Rentenlaufzeit vieler Betroffener versicherungsmathematisch fair sei.“