Technokratur oder Demokratie?
Liebe +Leserinnen und +Leser,
es ist die verkannte Gretchenfrage des 21. Jahrhunderts: Wie hast Du´s mit der Demokratie? Genauer: Wo ist die Demokratie am besten aufgehoben? Es geht um den Souverän, sofern man noch von ihm sprechen darf, um Handlungsfähigkeit, das Für und Wider, die Art und Weise politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Integration.
Die Frage der politischen Organisation unserer Gesellschaft ist die Mutter aller weiterer Fragen – etwa, wie wir auf Herausforderungen unserer Zeit reagieren wollen und können: Die Klimakrise, die grassierende Ungleichheit wie sie Thomas Piketty kartografiert hat oder auf einen entfesselten Finanzsektor, der in den Augen Michael Hudsons mittlerweile zum zentralen Planer der Wirtschaft geworden ist. Doch wer kann der Akteur sein, der sich diesen Bedrohungen entgegenstellt?
Technokratur oder Demokratie lautet das Thema dieses Spotlights, und damit ahnen Sie vielleicht schon, worauf wir hinauswollen. Es ist keinesfalls ausgemacht, wo die Feinde der Demokratie zu finden sind, obgleich eine simplifizierende Gewissheit im liberalen politischen Diskurs vorzuherrschen scheint: Nationalisten, Populisten und Rechte würden unsere Demokratie bedrohen. Dagegen wird die „offene Gesellschaft“ in Stellung gebracht, „Europäer“ sind nach dieser Deutung „Demokraten“ und „mehr Europa“ wird mit mehr Demokratie gleichgesetzt. Das schließt mit ein, dass eine Kritik der EU und eines vertieften Integrationsprozesses umgekehrt antidemokratisch sei.
Dieses Postulat wird der Komplexität des Sachverhalts allerdings wenig gerecht. Es verschleiert vielmehr das eigentliche Problem, nämlich das demokratische Defizit der EU-Institutionen, einschließlich der EZB und des Europäischen Währungssystems. Auch für linke EU-Befürworter genießt die derzeitige Geldpolitik der Notenbank den Status eines Säulenheiligen. Ihre Unabhängigkeit und damit Ihre umfangreiche Entscheidungs- und Sanktionsmacht jenseits demokratischer Kontrolle gilt als sakrosankt. Der Zweck, die dysfunktionale Währungsunion künstlich am Leben zu erhalten, heiligt alle Mittel.
Der Punkt für Paul Steinhardt ist daher: Wenn es eine Beschränkung der EZB auf so etwas wie „die Geldpolitik“ nicht geben kann, sondern sie nolens volens auch Wirtschafts- und Finanzpolitik betreiben muss, spricht alles gegen ihre politische Unabhängigkeit. Vielmehr seien solche Kompetenzen im Rahmen einer Demokratie bei majoritären Organen anzusiedeln. Nur welche politischen Organe der EU wären das? Und welche dieser Organe können für sich demokratische Legitimität beanspruchen?
Anders gefragt: Wie demokratische ist eine Demokratie, die ihr ursprüngliches Dach, den (stabilen) Nationalstaat, verliert? Wie demokratisch ist eine Demokratie, in der nicht mehr darüber entschieden werden kann, wieviel Geld für was ausgegeben wird? Und wie demokratisch ist schließlich eine Demokratie, die das Wort „Souverän“ zunehmend negativ konnotiert und diesen entmachten will?
Am umstrittenen Begriff des Souveräns entzündet sich ein Disput, hinter dem zwei verschiedene Definitionen von Demokratie stehen und die zuletzt Martin Höpner herausgehoben hat: Einer liberalen Definition, der nach politische Systeme vor allem den Schutz individueller Rechte gewährleisten sollen und die im europäischen Binnenmarkt auch private Unternehmen miteinschließen ‒ was der EuGH durch seine Rechtsprechung regelmäßig unter Beweis stellt. Heißt: Die Mehrheitsherrschaft ist durch umfangreiche checks and balances, zu begrenzen. Eine Auffassung, die offen ist für rationale, technokratische Verfahren innerhalb unabhängiger Institutionen, um plebejische Dynamiken zu begrenzen.
Die republikanische und zugleich anspruchsvollere Demokratiedefinition hingegen geht von einem Primat des über den Individualrechten stehenden Gemeinwesens aus. Schützenswert ist aus dieser Sicht vor allem, dass das Gemeinwohl auch wirklich zur Geltung kommt. Was das Gemeinwohl ist, lässt sich nur demokratisch ermitteln. Dem Mehrheitswillen sollen im Anschluss möglichst wenige institutionelle Schranken entgegenstehen.
Auch ohne den Präzedenzfall Griechenland, wo die EZB mit ihrem geldpolitischen Putsch während der Eurokrise ein Exempel statuierte, wird auf den ersten Blick deutlich: Die letztere Auffassung von Demokratie ist nicht mit der institutionellen Idee und Realität der EU kompatibel. So sind die Mittel des europäischen Wiederaufbaufonds Next Generation EU (NGEU) an strenge, troikaähnliche Bedingungen geknüpft ‒die Umsetzung der berüchtigten länderspezifischen Empfehlungen der Europäischen Kommission. Letztendlich geht es bei NGEU darum, die Kontrolle Brüssels über die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten zu erhöhen und das technokratische und autoritäre Kontrollregime der EU zu stärken, schreibt Thomas Fazi, der eine Rückkehr der Austerität in Europa kommen sieht.
Die EU ist das am weitesten fortgeschrittenen Projekt einer „Global Governance“, mit der die demokratischen Verfahren in den Mitgliedsländern ausgehebelt werden, folgert Wolfgang Streeck. Die Frage ist für ihn beantwortet: Das Herrschaftsgebilde EU verdiene nicht den Namen „Demokratie“, sondern den einer „Techno- oder Merkatokratie“. In einem solchen Staatswesen würden Entscheidungen „zum Schutz vor Wählern, die die Demokratie zur Produktion falscher Beschlüsse missbrauchen könnten“ auf technokratische Eliten übertragen oder der „Effizienz“ der Märkte überlassen.
Dass dies noch vor wenigen Jahren auch linken Kräften bewusst war, die unter dem Eindruck der griechischen Tragödie mit Initiativen wie dem „Plan B“ offen für einen Austritt aus der Währungsunion plädierten, bleibt eine bemerkenswerte Fußnote. Heute ist es umgekehrt: Wer mit der EU ein Problem hat, dem hat die Linke nichts anzubieten. Das mag auch die Popularität von Piketty erklären, der in seinem jüngsten Buch Kapital und Ideologie vor allem auf „die Entwicklung des Handels, des finanziellen und kulturellen Austauschs auf globaler wirtschaftlicher Ebene" setzt.