Globalismus und Demokratie

Strategische Entgrenzung

| 09. Juli 2021
istock.com/:Elena_Sistaliuk

»Die Welt« im 20. Jahrhundert sei komplex und infolgedessen unregierbar geworden, heißt es. In Wahrheit ist ihre unregierbare Komplexität ein Ergebnis strategischer Entgrenzung mit dem politischen Ziel, dem egalitären und egalisierenden demokratischen Regieren ein Ende zu setzen.

Gegenstand jeder politischen Ökonomie in der Nachfolge Karl Polanyis, theoretisch wie praktisch, ist die gesellschaftliche Einbettung der unter dem Liberalismus losgelassenen kapitalistischen Ökonomie – die Sozialisierung der Ökonomie zur Verhinderung der Verwirtschaftung der Gesellschaft. Einbettung heißt Rückgewinnung gesellschaftlicher Kontrolle über den Selbstlauf selbstregulierender Märkte.

Aber keine Einbettung ohne Bett. So kommt die Staatsfrage ins Spiel und die Politik kehrt in die politische Ökonomie zurück. Kapitalismustheorie verlangt nach Staatstheorie. Aber wie muss ein Staat aussehen, mit dem die Rückbettung einer kapitalistischen Ökonomie in den Wirkungskreis demokratischer, den oligarchischen Elitismus des Marktes egalitär korrigierender Politik möglich wäre?

Eine Gesellschaft, die eine kapitalistische Wirtschaft einbetten will, benötigt einen regierungsfähigen Staat. Und nicht nur das. Wenn Einbettung Gestaltbarkeit kraft egalitärer Demokratie bedeuten soll – und nichts anderes bedeutet sie jedenfalls bei Polanyi –, dann muss der Staat, in den eingebettet wird, demokratischer Beeinflussung und Willensbildung zugänglich sein.

So werden Struktur, Verfassung, Architektur von Staatlichkeit zum Gegenstand einer politischen Theorie des Kapitalismus, und politische Ökonomie muss sich für eine Institutionentheorie öffnen, in der es nicht um »den Staat« im Allgemeinen geht, sondern um historisch real existierende Staaten in historisch real existierenden Staatensystemen, die die Handlungsfähigkeit ihrer Staaten befördern, begrenzen oder zunichtemachen.

Keine antikapitalistische Innenpolitik ohne zu ihr passende, sie ermöglichende Außen- und Weltpolitik, ohne ein ihr günstiges Staatensystem; kein Verständnis der Innenpolitik eines Staates ohne Berücksichtigung seiner Einbettung in ein internationales Staatensystem; kein Verständnis der Außenpolitik innerhalb eines Staatensystems ohne Berücksichtigung der Innenpolitik seiner Mitgliedstaaten.

Nach dem in den 1980er Jahren einsetzenden Scheitern der sozialdemokratischen Transformation der »großen« Transformation stellt sich heute das Problem der Wiedergewinnung gesellschaftlicher Kontrolle über eine im Zuge des »frivolen Experiments« des Neoliberalismus ein zweites Mal freigelassene kapitalistische Wirtschaft erneut, und zwar in einer Gegenwart, die von einer doppelten Krise geprägt ist: einer Wirtschaftskrise und einer Staaten- oder Staatlichkeitskrise, die sich auf mannigfache Weise gegenseitig bedingen und sich in einer komplexen Stagnationskrise vereinigen.

Während die kapitalistische Ökonomie nun schon jahrzehntelang nur noch unter geldschöpferischer Notbeatmung keuchend weiterläuft, wird das neoliberale Projekt einer Ablösung der Nationalstaaten durch global governance oder gar durch Superstaatlichkeit von einer plebejisch-populistischen Gegenbewegung blockiert, national wie international. Damit steckt das Staatensystem, steckt Staatlichkeit, zwischen Globalismus und Demokratie, zwischen »oben« und »unten« fest. Bestrebungen zu weiterer neoliberaler Zentralisierung stoßen auf Forderungen nach lokaler Selbstbestimmung, mal von links, mal von rechts, schwer auszusortieren, immer aber »von unten«, wobei der populäre Widerstand gegen den elitären Globalismus sich um eine Verteidigung des Nationalstaats und der in ihm potentiell gegebenen populärdemokratischen Einflusschancen sowie um Zweifel an deren Verlagerbarkeit »nach oben« herum organisiert.

Meine Intuition ist, dass eine Überführung von Staatlichkeit in global governance, eine »Überwindung« des Nationalstaats zugunsten internationaler Organisationen oder globalisierter oder regionalisierter Superstaatlichkeit auf die Errichtung einer demokratischem Einfluss entzogenen Techno- oder Merkatokratie – Experten- oder Marktherrschaft –, oder beider zugleich, hinauslaufen und eine Rückgewinnung demokratischen Einflusses auf die kapitalistische Ökonomie auf lange Zeit unmöglich machen würde.

Deshalb darf dem neoliberalen Sirenengesang von einer alle Menschen zu Brüdern machenden Verlagerung von Politik und Demokratie auf ein zukünftiges, erst noch aufzubauendes weltweites Regierungssystem kein Gehör geschenkt werden. Dies nicht nur, weil das Ziel sozialontologisch unrealisierbar ist, sondern auch, weil schon kleine Schritte in Richtung auf eine weitere Entnationalisierung von Politik und Demokratie, legitimiert durch die Perspektive einer nationenbefreiten Welt- oder Kontinentalregierung, nichts anderes sein können als Schritte in Richtung auf eine Entdemokratisierung von Politik und politischer Ökonomie.

Der Kampf gegen den neoliberalen Zentralismus findet unter erschwerten Bedingungen statt. Wie schon in der Zwischenkriegszeit berühren sich »rechte« autoritäre mit »linken« egalitären Gegenbewegungen, wenn es um die Verteidigung des Nationalstaats als Ort des Schutzes gegen die gesellschaftszerlegende Volatilität von Märkten und relativen Preisen geht; dieses Problem hat schon Polanyi gekannt.

In der Gegenwart der zweiten, erweiterten und überarbeiteten Auflage des Kampfes gegen den Marktliberalismus kommt erschwerend hinzu, dass die neoliberalen Globalisierer Verbündete in der grün-linken postindustriellen Mitte der Gesellschaft gewonnen haben, die sich vor dem selbstregulierenden Weltmarkt weniger fürchten als vor dem regulierenden Nationalstaat, der ihnen als nach außen tendenziell aggressiv und nach innen tendenziell diktatorisch erscheint. Die dem zugrunde liegende, sich als kosmopolitisch missverstehende Weltsicht, die sie mit den Globalisten teilen, schwächt die Verteidiger egalitär-redistributiver Politik, deren klassische Artikulationskanäle überdies gegenwärtig durch Identitätspolitik und Kulturrevolutionen aller Art verstopft sind.

Wer eine wissenschaftliche Abhandlung schreibt, tut gut dar an, sich früh zu überlegen, von wem er oder sie erwartet, dass sie nach Lektüre ihre An- und Weltsichten revidieren werden. In meinem Fall sind das diejenigen, die glauben, dass eine globale, sich weltweit erstreckende kapitalistische Wirtschaft auch global regiert werden kann, weil sie global regiert werden muss. Dagegen ist einzuwenden, dass die Welt, wenn sie überhaupt regiert werden soll, nur unterteilt regiert werden kann. Je globaler ein Zusammenhang ist, desto komplexer, Staatlichkeit überfordernder, am Ende unregierbarer, wenn man so will: staatsfreier, demokratischen Prozessen entzogener und deshalb undemokratischer ist er.

Kosmopolit sein im Sinne von global governance kann deshalb nur, wer darauf vertraut, dass ein sich selbst überlassener Freilauf einer globalisierten Wirtschaft in einem alle gleichermaßen glücklich machenden Gleichgewicht endet – oder, alternativ, dass eine gerechte Verteilung von Lebenschancen irgendwann durch eine ebenfalls sich selbst überlassene, gigantische globale Expertokratie, vielleicht unterstützt durch eine globale Datenverarbeitungsmaschine, bewerkstelligt werden kann.

Doch die Fähigkeiten großteilig-einheitlich zentralisierter Ordnungen werden über- und die Möglichkeiten kleinteilig-verteilter dezentraler Ordnungen unterschätzt, politisch wie administrativ, in Bezug auf politics wie policy sowie unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Kapitalismus und Demokratie. Die Skalenpolitik von Staatensystemen hat in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit gefunden: die Größe der innerhalb eines Staatensystems bestehenden Staaten, die durch diese bedingten Möglichkeiten und Unmöglichkeiten politischen Handelns sowie die Interessen und Entscheidungen, die die »Schneidung« von Staaten und ihren Grenzen im Verhältnis zu den ihnen unterliegenden Gesellschaften betreffen.

Ein in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchender Schlüsselbegriff ist derjenige der Komplexität, angewandt in Zusammenhang mit der neoliberalen Revolution der 1980er und 1990er Jahre auf die Welt der »globalisierten« Wirtschaft. Auch hier argumentiere ich politisch-ökonomisch, nicht systemtheoretisch, indem ich bestreite, dass »die Welt« im 20. Jahrhundert von sich aus komplex geworden ist und sich infolgedessen anschließend als unregierbar herausgestellt hat.

In Wahrheit ist ihre unregierbare Komplexität in ihrer heutigen Gestalt ein Ergebnis strategischer Entgrenzung mit dem politischen Ziel, dem egalitären und egalisierenden demokratischen Regieren und Regiertwerden als solchem ein Ende zu setzen – das Ergebnis, wenn man so will, eines liberal-anarchistischen strukturellen Staats- und Marktstreichs gegen den staatlich administrierten Kapitalismus der Nachkriegszeit, mit hohen und wachsenden Kosten für die von diesem befreiten Nationen.

Kurz zusammengefasst ist meine These, dass Staaten, wenn sie richtig auf- und eingestellt sind, nach innen und im Zusammenhang der sie umgebenden Staatensysteme als gesellschaftliche Halteseile für eine ins Weltoffene strebende kapitalistische Wirtschaft brauchbar sind. Damit wende ich mich gegen die kosmopolitische Illusion, dass »Globalisierung«, insbesondere in der von ihr nach 1989angenommenen Form, jemals etwas anderes bedeuten könnte als eine Herrschaft des Marktes über die in diesen dann eingelagerte und von ihm unter Wettbewerbsdruck gesetzte Vielfalt menschlicher Vergesellschaftung.

Ich werde argumentieren, dass das, was zur Regulierung derselben als global governance angeboten wird, nicht eine neue Form von Staatlichkeit ist, sondern eine Alternative zu ihr, und zwar eine für die Stabilität und Bewohnbarkeit der Gesellschaft unzulängliche. Tatsächlich begann im versuchten allmählichen Übergang zu global governance ein eigenartiges Absterben des Staates – eigenartig unter anderem deshalb, weil es auf nur einen, sehr speziellen Ausschnitt seiner im 20. Jahrhundert erworbenen Funktionen beschränkt blieb: denjenigen, der dazu dient, die Resultate kapitalistischer Märkte egalitär zu korrigieren.

Gegen die Vorstellung, dass die »komplexe« Welt von heute immer zentralisiertere Regime »benötigt«, die sich partikular-spezifischer diskretionärer Eingriffe enthalten müssen, weil sie zu ihnen weder politisch noch technisch in der Lage sind, wende ich ein, dass Regime umso anfälliger sind, je zentralisierter sie sind – und dass es deshalb im Gegenteil darum gehen muss, prospektive Superstaaten und überforderte Imperien durch einen Wiederaufbau dezentralisierter Souveränität abzulösen. Das in Brüssel, Berlin und Paris mit Feuereifer über die Köpfe der europäischen Gesellschaften hinweg betriebene Integrations- und Zentralisierungsprojekt ist ein anachronistisches Überbleibsel aus den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, das sich überlebt hat und immer mehr Schaden anrichten wird, wenn man sich seiner nicht bald entledigt.

»Praktische« Folgen erwarte ich nicht. Die für den Karlspreis der Stadt Aachen Schlange stehenden »Europapolitiker« sind längst auf beiden Augen für alle Alternativen erblindet. Wenn ich mich bemühe darzulegen, dass man sich den Lauf der Dinge plausibel auch anders vorstellen könnte, heißt das nicht, dass ich glaube, dass es der EU und Europa durch eine neu erleuchtete Entschlossenheit ihrer Eliten erspart bleiben könnte, auf lange Zeit in einem Stellungskrieg, in einem so kräftezehrenden wie immobilisierenden Tauziehen zwischen seinen Nationen und innerhalb derselben zwischen ihren jeweiligen »Nationalisten« und »Europäern«, also den kontinentalen Kleinglobalisten, festzustecken.

Politischer Wandel, auch zum Besseren, kommt ohnehin nicht durch einsichtige Verwirklichung überlegener Konstruktionszeichnungen zustande, sondern nur dann, wenn es mächtigen Beteiligten dämmert, dass die Dinge nicht mehr so weitergehen können wie bisher, weil sonst die Verhältnisse auch für sie immer unerträglicher werden; wenn der Preis für zuzukaufende Zeit inflationär steigt; und wenn die Halbwertzeit improvisierter Zwischenlösungen immer kürzer wird, bis die sich ablösenden Krisen so eng zusammenrücken, dass zwischen ihnen keine Atempause mehr bleibt.

Worauf es in solchen Momenten ankommt, sind die Intuitionen der dann noch oder erstmals handlungsmächtigen Akteure, denen ihre lange kultivierten Selbstverständlichkeiten im Angesicht der Wirklichkeit abhandengekommen sind. Was man als Politikwissenschaftler versuchen kann, wenn man Hilfe leisten will, ist, diese Intuitionen vorab zu beeinflussen, indem man dafür sorgt, dass das, von dem zu wünschen wäre, dass es beim Auslaufen einer alten Gesellschaft in machtbewehrte Handlungsorientierungen einfließt, weniger exotisch erscheint, als es erscheinen würde, wenn es vorher noch nie gesagt worden wäre.

Jedenfalls ist man immerhin frei sich einzubilden, dass man so vielleicht eine Schneise in das politische Gemeinverständnis schlagen kann, auf der sich in der Zeit bis zum Ausbruch der nächsten Krise Ideen vorarbeiten könnten, die, wenn sie es tatsächlich mit Glück bis nah an die Praxis schafften, Anderes und Besseres bewirken würden als eine bloße Weiterverfolgung historisch überholter, ortlos gewordener Politikpfade.

Dieser Text ist eine gekürzte Fassung des Vorworts aus Wolfgang Streecks neuem Buch „Zwischen Globalismus und Demokratie“, das am 18. Juli im Suhrkamp-Verlag erscheint.