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TINA und das Demokra-Tier

| 09. Juli 2021
istock.com/Smallthings

Liebe Leserinnen und Leser,

manche von Ihnen kennen Tina vielleicht schon. Andere noch nicht. Manche halten sie für ein nettes Mädchen, andere glauben hinter ihrem weltoffenen und liberalen Auftritt, hinter dem harmlosen Mädchennamen eine gefährliche Doktrin zu erkennen. Denn trotz ihrer freundlichen Fassade hält Tina ihre Haustiere, die Demokra-Tiere, an der kurzen Leine und unterernährt. Würde der Tierschutzbund auf den Plan gerufen, hätte Tina schon längst eine Anzeige wegen Tierquälerei am Hals. Doch es gibt keine übergreifende Instanz, die die Demokra-Tiere in ihrem Freiluftgehege des globalen Marktes vorm Fressen und gefressen werden schützen und Tina zur Rechenschaft ziehen könnte.

Eigentlich wird der Name Tina in Großbuchstaben geschrieben. TINA – es ist die Abkürzung für „There is no Alternative“. Es gibt keine Alternative. Der Name stammt von Ihrer Großmutter Margaret. TINA ist also doch nicht so offen, wie sie sich gerne gibt. Auch wenn sie weniger verbissen und toleranter als ihre Großmutter wirkt, ist sie marktkonform und duldet unter den Demokra-Tieren nur jene, die ihren enggesteckten Regeln entsprechen: Unterwerfung unter das Diktat der Disziplin, der Diät, des Wettbewerbs, ständiger Bewegung und regelmäßiger Fitnesstests. Wer nicht mithält und bei den Stresstests durchfällt, dem werden die Futter-Rationen gestrichen. Tina mag nur schlanke oder magere Tiere. Dass die Demokra-Tiere so ihre Jungen kaum stillen können, interessiert sie wenig.

Doch diese etwas andere Geschichte über Tina und ihre Demokra-Tiere wird so selten erzählt. Man mag Tina nur ungerne kritisieren. Auch Tina vermeidet es, darüber zu sprechen. Sie liest ihren Namen ohnehin nicht gerne in Großbuchstaben. Wenn man sie auf ihre umstrittene Tierhaltung anspricht, verweist sie lieber auf die bösen National-Tiere, die das eigentliche Problem seien. Viele glauben ihr das. Im Gehege von Tina, so heißt es, sorgen sie für Unruhe, sind widerborstig, aggressiv und halten sich nicht an die Regeln. Viele denken daher, dass nicht Tina, sondern diese überzüchteten National-Tiere das eigentliche Problem seien. Manche glauben sogar, die National-Tiere würden die Demokratie-Tiere fressen.

Aus Angst vor den National-Tieren sind Freunde von Tina auf die Idee gekommen, dass die National-Tiere ihre Felle hergeben sollten und Tina in Zukunft alle Entscheidungen für die Tiere trifft. Dann muss Tina den Demokratie-Tieren nur noch erklären, was gut und richtig ist. Sie erklärt ihnen, dass sich jeder frei entfalten und tun und lassen könne, was er wolle, solange nur einige wenige Grundsätze befolgt würden: Die Bereitschaft zu Disziplin, Diät, Wettbewerb, Fitness und Bewegung. Die Demokratie-Tiere, die keine Angst mehr vor den National-Tieren haben müssen, bräuchten sich dann nicht länger um die wichtigen und unangenehmen Dinge zu kümmern. Vor allem müssten sie nicht mehr zusammen mit den National-Tieren ihren eigenen Fitness-, Ernährungs- und Bewegungsplan erstellen. Sie müssten sich keine Gedanken mehr über die Größe und Beschaffenheit des Geheges machen, oder sogar darüber, ob Tina grundsätzlich ein gutes Frauchen ist.

Einige wenige Stimmen weisen Tina darauf hin, dass dies ein Experiment mit ungewissem Ausgang sei, weil die Demokratie-Tiere noch nie ohne die National-Tiere ausgekommen sind. Tina schenkt diesen Stimmen kein Gehör. Sie ist von dieser Idee begeistert. Die National-Tiere waren ihr schon immer ein Dorn im Auge. Und Demokratie findet sie eigentlich auch nicht so wichtig. Auch ihre Freunde finden, dass die Mahner nur nerven und blöde Nationalisten, wenn nicht schlimmeres sind. Wenn alle Tiere in ihrer Vielfalt doch gleich seien und auf Tina hören würden, gebe es keine Probleme mehr, da ist man sich sicher.

Doch während Tina die National-Tiere nach und nach zurechtstutzt, breitet sich plötzlich eine Epidemie im Gehege aus. Immer mehr Demokratie-Tiere werden krank. Viele sterben und Tina verliert die Kontrolle. Nun fangen auch manche Freunde von Tina an zu zweifeln und raten ihr, doch wenigstens die Futterrationen zu erhöhen. Doch Tina bleibt stur. Panik bricht aus. Und plötzlich beginnen manche Tiere, das Gehege zu durchbrechen. Das Ende der Geschichte ist noch ungewiss.