Spotlight

Wahlbarometer: Was kommt nach Merkel?

| 21. Mai 2021
istock.com/JARAMA

Liebe Leserinnen und Leser,

die Bundestagswahl ist seit unserem letzten Spotlight wieder ein Stück näher gerückt. Grund, eine weitere Episode unseres Wahlbarometers zu präsentieren. Für Sie erkunden und vermessen wir einmal mehr die politische Landschaft und erfassen deren klimatischen Bedingungen.

Und es gibt viel zu vermessen. In der Tat haben sich seit der letzten Wahl die politischen Koordinaten erruptionsartig verschoben. Koalitionen, die noch 2017 auf Bundesebene Usus waren, scheinen heute rechnerisch nicht mehr möglich. Die Unterstützung für die CDU/CSU ist Anfang Mai auf 23 Prozent gesunken – das schlechteste Ergebnis der Partei aller Zeiten –, während die Grünen mit beispiellosen 26 Prozent zum ersten Mal die stärkste Partei sind. Die SPD, Merkels langjähriger Koalitionspartner, blieb mit 14 Prozent, wenn man das so nennen kann, stabil.

Sollte auch das Wahlergebnis so ähnlich ausfallen, dürfte es schwierig werden, eine Regierung zu bilden. Wer auch Bundeskanzler wird, seine oder ihre Partei wird kleiner sein als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik und zugleich kaum größer ihr größter Koalitionspartner. Szenarien mit Armin Laschet als Kanzler und Annalena Baerbock als Außenministerin wären genauso denkbar wie – unwahrscheinlicher - eine Regierung Laschet/Scholz oder Baerbock/Scholz.

Und welche Folgen hätten die jeweiligen Szenarien, die allesamt die Post-Merkel-Ära einleiten, für Europa? Keine geringen, ist sich Wolfgang Streeck sicher: Fehlen werde Angela Merkels „beeindruckende Fähigkeit, Problemen und Konflikten auszuweichen, so zu tun, als ob sie nicht existierten, um auf beiden Seiten gleichzeitig stehen zu können oder auf überhaupt keiner Seite“. Dabei gibt es deren Probleme und Konflikte viele, die auf die neue Bundesregierung, wie auch immer sie aussehen wird, warten: Das Endziel der europäischen Integration, der Widerspruch zwischen der deutschen und europäischen Migrationspolitik oder der Konflikt zwischen den Großmächten über den globalen Status Europas.

Und so könnten im Europa nach Merkel die europäischen Konflikte und deutschen Widersprüche zukünftig mehr als bisher offen zutage treten. Streeck wirft für Sie einen kurzen Blick darauf, wie die neue Regierung, wenn sie einmal im Amt ist, wahrscheinlich mit einigen der Probleme in der europäischen Politik umgehen wird.

Aber auch die Definition dessen, was wir heute als links, konservativ oder progressiv verstehen, hat sich verändert. Genauso kristallisieren sich auch innen- und gesellschaftspolitisch völlig neue Konfliktlinien heraus. Die nach aktuellen Umfragen nicht unwahrscheinliche schwarzgrüne oder grünschwarze Koalition stellt zumindest programmatisch längst keine Hürde mehr dar, wie die Beispiele in Hessen oder Baden-Württemberg zeigen.

Heißt das, dass die Unterscheidung zwischen links und rechts obsolet geworden ist? Oder sind die Grünen nicht mehr progressiv und die Christdemokraten nicht mehr konservativ? Paul Steinhardt kartografiert das politische Terrain und liefert mithilfe eines zweidimensionalen Koordinatensystems eine Standortbestimmung von Schwarz und Grün.

Alexander Leipold zeigt am Beispiel der Steuerkonzepte von SPD, Grünen und Linken im Vergleich zu CDU/CSU, FDP und AfD, dass es zumindest steuerpolitisch noch eine klassische Trennlinie zwischen links und rechts/konservativ gibt. SPD, Grüne und Linke wollen mehr distributive Gerechtigkeit, mehr Steuerpflicht und mehr Staat, so sein Befund. Dennoch will abgesehen von der Linkspartei niemand die Schuldenbremse streichen, sondern nur für öffentliche Investitionen Ausnahmen vorsehen. Konsumtive Ausgaben sollen weiterhin einem Schuldendeckel unterliegen, wenn, dann sollen Steuereinnahmen diese finanzieren.

Damit folgen die linken Steuerkonzepte dem Narrativ des liberalen Steuerstaats, so Wolfgang Edelmüller. Die sozial gerechte Gestaltung des Steuersystems wird als Finanzierungsfunktion für eine defizitbegrenzende und schuldenvermeidende Budgetpolitik begriffen, indem öffentliche Haushalte wie Unternehmen behandelt werden: Ausgegeben werden kann nur, was nach Zahlung der fälligen Steuern gesichert eingenommen wurde, sonst droht der Besuch des Gerichtsvollziehers oder gar die Insolvenz. Damit ist auch eine „linke“ Fiskalpolitik wie schon in der Vergangenheit der Austerität verpflichtet und die Arbeitsmarktpolitik der Geldlohnflexibilität. Agenda 2010 lässt grüßen.