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Wahlbarometer: Zwischen Wirtschaftswunder und Klimakollaps

| 09. September 2021
istock.com/Meindert van der Haven

Liebe +Leserinnen und +Leser,

die FDP plakatiert ein neues „Wirtschaftswunder. Make in Germany“. Tatsächlich verspricht ihr Wahlprogramm eher ein blaues Wunder für alle, die in Zeiten von Corona und des offensichtlichen Klimawandels noch immer an die liberale Erzählung von „entfesselten Märkten“ glauben. Dabei könnte  man fast meinen, auch die Freidemokraten hätten etwas begriffen. In der Ouvertüre des Programms ist zu lesen:

„Viele haben dem Versprechen vertraut, dass Deutschland das Land bleiben könne, in dem wir gut und gerne leben, ohne dass wir etwas verändern müssen. Heute wissen wir: Das war falsch!“

Veränderung aber soll es nur mit einer erhöhten Dosis alter Medizin geben: Noch immer wird das Schwarz-Weiß-Bild vom innovativen Unternehmertum auf der einen und dem verkrusteten Staat auf der anderen Seite gemalt. Selbst die Einsichten des Ordoliberalismus, dass „der Markt“ unabdingbar auf den Staat angewiesen ist, sind spurlos an der FDP vorbei gegangen, weiß Paul Steinhardt. Die Pandemie hat der FDP allein gezeigt, dass die Politik „unseren Staat satt und träge gemacht hat – statt schlank und stark“.

Wirtschaftswachstum made in Germany mit mehr Markt oder mehr Staat – lohnt die Debatte überhaupt noch? Oder brauchen wir sogar – Stichwort Postwachstum – längst das Gegenteil? Ulrich Thielemann jedenfalls ist sich sicher: Nur Schrumpfung bewahrt uns noch vor dem Klimakollaps. Dem „Technooptimismus“ und grün angehauchten Marktkonformismus („Die sozial-ökologische Modernisierung stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Unternehmen“) setzt er eine schonungslose Desillusionierung entgehen: Für einen klimaneutralen Umbau einer Wirtschaft auf dem Wachstumspfad fehle erstens schlicht die Zeit, denn dafür müsste der Treibhausgasausstoß jedes Jahr in der Größenordnung von 7 bis 8 Prozent des heutigen Niveaus gesenkt werden. Zweitens sorgten sinkende ressourcenbezogene Skalenerträge dafür, dass es sowohl für die Nutzung regenerativer Energien als auch für die Verfügbarkeit der notwendigen Materialien Obergrenzen gebe.

Zurück zum Marktkonformismus: Auch die Sozialpolitik orientiert sich ganz am Leitbild des Marktes - bestes Beispiel: die kapitalgedeckte Rente. Außen vor bleibt dabei, die Versorgung der Alten seit eh und je auch eine Kernaufgabe der Familie gewesen ist und anderen Regeln folgt als der homo oeconomicus.

Das wirft Fragen auf. Zum Beispiel warum – nach Zahlen von Bert Rürup für das Jahr 2020 – von den 6,74 Billionen Euro Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland lediglich 373 Milliarden in Aktien und 688 Milliarden Euro in Investmentzertifikaten investiert wurde, aber ca. 5 Billionen Euro mehr oder weniger bar gehalten wurden. Wie erklärt sich, dass die Menschen im Mittelstand bis hinunter in die armen Schichten so viel Geldvermögen, dass als Vorsorge- und Förderungspotenzial für die ganze Familie dienen soll, auf der Bank anhäufen?

Weniger überraschend ist, dass die Akteure an den Finanz- und Immobilienmärkten um diese riesigen Geldvermögen buhlen und mit „durchschnittlich“ hohen Renditen und Sonderangeboten werben. Doch sind die Rentner damit wirklich gut beraten? Manfred Nitsch glaubt, dass es bessere Alternativen gibt, als die Blasen an den Finanz- und Immobilienmärkten weiter anzufeuern.

Die Große Koalition aber hat es trotz der „Reform“-Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ in dieser Legislaturperiode nicht geschafft zu klären und zu entscheiden, was alles an Grundsätzlichem neu geregelt werden muss. Und das, obwohl die Tendenzen zu Individualisierung, Patchwork-Familien, Migration, Langlebigkeit, Kostenexplosion für Krankheit und Pflege und die Erosion der gemeinsamen religiösen Vorstellungen von Familie, Tod und Gemeinschaften neue Antworten verlangen.