Wahlbarometer: Alles grün, was glänzt?
Liebe Leserinnen und Leser,
2021 ist Superwahljahr. Darunter die erste Bundestagswahl, die im Schatten der Corona-Pandemie steht und zugleich die Post-Merkel-Ära einleiten wird. Und tatsächlich hat sich seit der letzten Wahl 2017, als die Große Koalition aus CDU und SPD die Regierungsverantwortung übernahm, die politische Landschaft grundlegend verändert.
Die Wahrscheinlichkeit besteht, dass die CDU erstmals seit 16 Jahren Angela Merkel nicht mehr den Kanzler stellen wird. Zumal, wie sich in den ersten Landtagswahlen abgezeichnet hat, in Corona-Zeiten weniger Menschen, dafür aber mehr per Brief wählen. Diese asymmetrische Demobilisierung, einst Merkels Strategie, scheint nun ausgerechnet auf die CDU zurückzufallen.
Und die SPD, die einst so stolze Arbeiterpartei, setzte ihren Niedergang zwischen Profil- und Orientierungslosigkeit fort. Holte sie 2017 mit 20,5 % ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl überhaupt, scheint heute bereits dieser Wert nahezu unerreichbar.
Stattdessen ist der Zeitgeist so grün wie nie zuvor. Plötzlich war da Greta Thunberg und ihre Klimabewegung Fridays for Future, die für eine völlig neue Generation von Wählern steht. Die EU, alarmiert von besorgniserregenden Klimastudien, treibt den Green New Deal voran. Der ökologische Umbau der Wirtschaft ist das große Ziel sämtlicher Industrienationen. Und dann das Auftreten der Pandemie, die ebenfalls Symptom einer ökologischen Krise ist und den Debatten über Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Wertschöpfungsketten, Verzicht und die Grenzen des Wachstums neue Nahrung gegeben hat.
Ist es so, dass wir unvermeidlich auf den Kollaps zusteuern, wenn wir uns nicht vom Wachstum lösen? Wenn wirtschaftlicher Wohlstand untrennbar mit dem Energieverbrauch verbunden ist, handelt es sich dann beim Green Deal – einem Grünen Kapitalismus – um eine Illusion? Oder ist es möglich, durch einen zügigen und umfassenden Umbau nachhaltiges Wachstum zu kreieren?
Im Windschatten dieser umwälzenden Ereignisse und Fragen – freilich ohne eine befriedigende Antwort zu geben – jagen Bündnis 90/Die Grünen von einem demoskopischen Rekord zum nächsten. Und jetzt haben wir folgerichtig mit Annalena Baerbock die erste grüne Kanzlerkandidatin. Heute ist es kaum noch vorstellbar, dass die Grünen 2017 mit einem Stimmenanteil von gerade einmal 8,9 % in den Bundestag gewählt wurden. Fast hat man das Gefühl, zwischen der letzten und anstehenden Bundestagswahl lägen nicht nur vier Jahre, sondern vier Jahrzehnte.
Doch es ist nicht nur so, dass einfach auf eine Klimakrise eine Klimapartei folgt. Die Grünen sind zugleich eine Partei, die es mehr als alle ihre Konkurrentinnen versteht, auf der Klaviatur des Zeitgeistes zu spielen, der auch Resultat einer sich demographisch und sozioökonomisch gewandelten Gesellschaft ist. Eine Gesellschaft, in der sich – nicht erst seit Corona – die Vereinzelung und die damit verbundene Auflösung traditioneller Formen der Lebensgestaltung und Risikoabsicherung zuspitzt.
Für Bernd Stegemann verkörpern Robert Habeck und Annalena Baerbock das Ideal eines Subjekts, das offensiv die Komplexität unserer Welt reflektiert und bei alle dem souverän und unideologisch wirkt. Damit sind die beiden zu Sehnsuchtsfiguren einer neuen Mitte geworden, deren Statussymbole weniger materieller denn kultureller Art sind.
So liefert das grüne Wahlprogramm auf „Neue Zeiten“ weniger „Neue Antworten“ als vielmehr eine neue Legitimationserzählung. Es ist der exzellenten Arbeit der PR-Abteilung und den Spin-Doktoren zu verdanken, dass die Grünen scheinbar mühelos im Chaos der Zielkonflikte navigieren. Große Teile des Programms erschöpfen sich in inhaltsleeren Modewörtern, die unter den Bobos der neuen Mitte beliebt sind, aber wohl kaum die Risse der Gesellschaft werden kitten können: Bunter, vielfältiger, feministischer, kreativer, offener, nachhaltiger, digitaler, multilateraler, demokratischer und europäischer sowieso, soll sie werden – unsere Zukunft. Doch gerade auch der grüne Bauplan für Europa zeugt von gehöriger Naivität und Realitätsverweigerung.