Wirtschaft in Zeiten der Krise
Liebe Leserinnen und Leser,
die Chronisten werden bald darüber streiten können, wann die Zeitenwende ihren Anfang nahm. Wie so oft in der Geschichtsschreibung stehen mehrere Daten als Zäsur zur Auswahl. Doch sagen wir, es war an einem leicht regnerischen Tag am 9. August in New York im Jahr 2007. Ein Tag, an dem das große Herz des finanzialisierten Kapitalismus, über Jahrzehnte vollgepumpt mit wachstumsteigernden Steroiden, plötzlich zu kollabieren begann.
Von diesen Infarkt und seinen folgenreichen Kollateralschäden erholte sich die Wirtschaft in den westlichen Industrieländern nie wieder in Gänze. Sie schleppte sich die Folgejahre mehr schlecht als recht voran. Und in der Eurozone wurde der überzüchtete Patient plötzlich schockhaften Austeritätsdiktaten unterworfen. Aus der Finanzkrise wurde die Eurokrise: bis heute ist die Wirtschaft des einst so hochgelobten europäischen Binnenmarkts nicht mehr in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen – sie hängt am Tropf der Europäischen Zentralbank und ihrer lockeren Geldpolitik, die das europäische Währungssystem künstlich am Leben erhält. Wie tiefgreifend die Krise ist, zeigt sich allein darin, dass die Industrieproduktion in vielen Staaten noch immer nicht das Niveau erreicht hat, dass sie vor die Finanzkrise hatte.
Die Nachwehen dieser Krise waren also noch nicht überwunden, als im Februar 2020 mit der Corona-Pandemie die nächste Krise die Weltwirtschaft erneut in den Abgrund riss. Diesmal resultierte diese Krise nicht aus einem Crash an den Finanzmärkten, sondern aus Shutdowns durch die Staaten selbst, denen bald darauf Rohstoff- und Lieferengpässe folgten. Nun gab es keine Wahl mehr: Um eine Depression zu verhindern, deren Verwerfungen vergleichbar gewesen wären mit der Ersten Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre, intervenierten die Staaten mit Rettungspaketen und Stabilisatoren, die in ihrem Umfang bis dato beispiellos waren.
Doch gerade als die Wirtschaft dabei war, sich sukzessive aus der tiefen Schlucht der Corona-Delle herauszuschleppen, begann fast genau zwei Jahre später, an einem weiteren Februar im Jahr 2022, der Ukraine-Krieg. Der Westen, der bereits seit gut 15 Jahren mit einer schwachen und instabilen Wirtschaft zu kämpfen hatte, antwortete mit umfangreichen Sanktionen, die nicht nur ökonomisch auf ihn selbst zurückfallen, wie nicht zuletzt die Energiepreiskrise zeigt, sondern die auch den seit der Finanzkrise eingeläuteten Deglobalisierungsprozess weiter verstärken. Es ist die nächste Zäsur in einem Zeitalter der Umwälzungen.
Und als wäre dies noch nicht genug, schwebt über all diesen Teilkrisen mit ihren Verwerfungen und Erschütterungen die Klimakrise wie ein Damoklesschwert.
Die Wirtschaft ist also von mannigfaltigen, strukturellen Teilkrisen erfasst, die sich überlappen, gegenseitig bedingen und auch verstärken. Sie sind in ihrer Gesamtheit das Ergebnis eines dysfunktionalen Wirtschafts- und Geldsystems. In diesem Spotlight zerlegen wir dieses System in seine Einzelteile und versuchen, die dysfunktionalen Elemente zu bestimmen.
So schauen zum Beispiel Günther Grunert und Walter Tobergte auf die Zinswende, die in den USA als Reaktion auf die inflationäre Entwicklung eingeleitet worden ist und die auch bald im Euroraum zu erwarten sein dürfte. Dass gleichzeitig auch die Staatsanleihekäufe der Zentralbanken zurückgefahren werden sollen zu einem Zeitpunkt, in dem die Wirtschaft weder gänzlich aus der alten Krise gekommen ist noch die neue Krise ihre ganze Wucht entfaltet hat, halten sie für wenig hilfreich.
Etwas anders, wenn auch aus der gleichen systemkritischen Perspektive, ist die Sicht von Paul Steinhardt: Gegen die gegenwärtige Inflation helfe eine Zinswende nichts, das sei richtig. Begrüßen solle man sie trotzdem – denn mit einer Ablehnung rede man nur einem Status Quo das Wort, der weder ökonomisch vernünftig noch aus einer sozialdemokratischen Warte wünschenswert sei.
Für die Ungleichgewichte in der Eurozone ist zu einem erheblichen Teil der Niedriglohnsektor in Deutschland schuld. Jetzt hat die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf zur Mindestlohnerhöhung und Minijob-Grenze vorgelegt. Dahinter mögen gute Absicht stehen, schreibt Gerhard Bosch, doch die praktischen Auswirkungen der neuen Rechtsnormen würden nur zu wenigen Verbesserungen und vielen Verschlechterungen im Niedriglohnsektor führen.
Einen grundsätzlichen Blick auf unsere Ökonomie wählt Werner Vontobel. Ein Wirtschaftssystem, dessen Erfolg auf globalen Wertschöpfungsketten beruht, ermögliche zwar eine extreme Arbeitsteilung und eine entsprechend hohe Effizienz – doch lange Wertschöpfungsketten und mobile Arbeit generieren auch viel Verkehr und befriedigen unsere Bedürfnisse nur unzureichend. Mit anderen Worten: Damit wir den Markt nachhaltig einsetzen können, brauchen wir eine Ökonomik, die endlich damit aufhört, den Markt mit der Wirtschaft zu verwechseln.