JAKOB ERKLÄRT LUKAS WIRTSCHAFT – 9

VWL in den Medien und der Wissenschaft

| 12. Januar 2021
Milton Friedman

Wirtschaftswissenschaft ist für Sie Neuland, das Sie betreten möchten? Dann lassen Sie sich wie Lukas von Jakob auf eine Reise durch die zentralen Themen, Thesen und Irrtümer unserer Wirtschaftstheorien mitnehmen.

Nach der Einführung in die Neoklassik und den Postkeynesianismus nennt Jakob im letzten Artikel dieser Serie Gründe für die Dominanz der Neoklassik und gibt einen Überblick zu weiteren Theorieschulen. Zuletzt hatte Lukas gefragt: Warum sind die Argumente des Postkeynesianismus so wenig bekannt?

»Das ist eine gute Frage. Dafür lässt sich eine Reihe von Gründen anführen. Zunächst einmal hat dies mit der Wissenschaft zu tun. In Deutschland gibt es ca. 600 Professorenstellen für Volkswirtschaftslehre. Davon gehören nur 17 Professoren nicht dem neoklassischen Mainstream an. Das wirkt sich natürlich auch auf die Medien aus. Wirtschaftswissenschaftler schreiben oft Beiträge in Zeitungen oder werden im Fernsehen interviewt. Journalisten mit einer Ausbildung in Volkswirtschaftslehre haben wahrscheinlich bei neoklassischen Professoren studiert.«

»Und warum ist der neoklassische Mainstream so dominant?«

»Auch dafür kann eine Reihe von Gründen genannt werden. Aus der Sicht des Mainstreams liegt dies ohne Zweifel an der empirischen Adäquatheit und Überzeugungskraft der Theorie selbst.«

»Dann wären Laien gut beraten, der Mehrheit der Wissenschaftler zu folgen.«

»Das ist für Laien durchaus ein wichtiges Kriterium. Es kann aber nicht das alleinige Kriterium sein, denn die Wissenschaft hat sich schon immer gewandelt und Positionen, die anfangs in der Minderheit waren, wurden später zur Mehrheitsmeinung. Laien sollten deshalb auch die Argumente vergleichen und darauf achten, ob es nicht grobe handwerkliche Fehler gibt, die auch sie nachvollziehen können. Das haben wir getan: Zu den groben Fehlern neoklassischer Ökonomie zählt der Postkeynesianismus ein empirisch inadäquates Verständnis des Geldsystems. Ein weiteres Kriterium ist die Frage, ob ein Paradigma aus Gründen verbreitet ist, die vom Inhalt unabhängig sind. Bei der Etablierung eines Paradigmas können soziale Gründe eine entscheidende Rolle spielen. Im Kommunismus wie im Nationalsozialismus waren bestimmte Paradigmen unerwünscht, andere wurden durch den Staat gefördert.

Obgleich wir nicht in einer Diktatur leben, lässt sich dennoch fragen, ob soziale Faktoren wie der Zeitgeist, der soziale Status, finanzielle Vorteile, Macht oder sogar der geopolitische Rahmen für die Dominanz eines Paradigmas eine Rolle spielen. Ein weiteres soziales Phänomen ist der Konformitätsdruck bzw. ein exklusives Gruppendenken, mit einer geringen Bereitschaft, Vertreter anderer Paradigmen in den wissenschaftlichen Diskurs zu integrieren. In diesem Fall haben es Vertreter anderer Paradigmen äußerst schwer, eine Professur zu bekommen, denn über die Vergabe von Professuren entscheiden üblicherweise bereits etablierte Wissenschaftler. Für soziale Gründe dieser Art haben Postkeynesianer Belege angeführt

»Und wie sehen diese Belege aus?«

»Nach der Zeit des Nationalsozialismus haben in Westdeutschland viele junge Wissenschaftler der Volkswirtschaftslehre eine Art ›Nachschulung‹ an großen privaten Universitäten der USA erhalten. Diese Nachschulung war neoklassisch ausgerichtet. Die neoklassisch geschulten Professoren haben dann wiederum junge Neoklassiker zu Professoren ernannt. So hat sich diese Theorieschule sozusagen fortgepflanzt. In den 60er und 70er Jahren gab es zwar eine gewisse Öffnung für andere Paradigmen, vor allem durch die Neugründung von Universitäten und die Studentenbewegung. Auch diese Entwicklung blieb aber eher eine Randerscheinung und wurde seit den 90ern wieder zurückgedrängt. Neben dem Verfahren der Stellenvergabe ist ein Grund dafür, dass für die Qualitätsmessung von Wissenschaft ein bestimmtes Rankingverfahren zunehmend an Bedeutung gewann. Wer einen Aufsatz in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlicht, bekommt Punkte gutgeschrieben.  Die Zahl der Punkte hängt davon ab, wie stark der Artikel bzw. die Zeitschrift von anderen Wissenschaftlern zitiert wird. In einer vom neoklassischen Mainstream dominierten Wissenschaft werden natürlich neoklassische Artikel deutlich häufiger zitiert als etwa postkeynesianische. Das hat einen selbstverstärkenden Effekt. Wer Karriere machen möchte, ist mit dem neoklassischen Paradigma auch deshalb besser dran. Aber auch eine starke außeruniversitäre Förderung des Paradigmas der Markteffizienz hat es gegeben.«

»Aber wer sollte denn Interesse haben, dieses Paradigma finanziell zu fördern?«

»Das mag auf den ersten Blick vielleicht verwundern. Niemand wundert sich hingegen darüber, wenn ein Unternehmen ein privates Institut bezahlt, das ihm die gesundheitliche Unbedenklichkeit von Glyphosat bescheinigt. Da geht es um viel Geld, wenn Glyphosat verboten würde. In der Volkswirtschaftslehre geht es aber um viel mehr Geld. Noch dazu geht es um finanzielle Interessen, die alle Unternehmer unabhängig von der wirtschaftlichen Branche gemeinsam haben: Wie sollen die hunderte Milliarden an Einkommen einer Volkswirtschaft verteilt werden? Wer bekommt wie viel vom Kuchen ab? Diese Fragen werden in der Volkswirtschaftslehre behandelt. Es ist nicht verwunderlich, dass sich Unternehmen für Theorien stark machen, die sich gegen hohe Steuern, gegen hohe Löhne, gegen starke Gewerkschaften, aber für Privatisierungen aussprechen.«

»Und wie sah diese Förderung konkret aus?«

»Es wurde eine überaus große Zahl an privaten wirtschaftswissenschaftlichen Thinktanks gegründet, die Ökonomen eine Karrierechance bieten. Solche Thinktanks gibt es zwar auch von Gewerkschaften, die allerdings keine vergleichbaren finanziellen Ressourcen besitzen. Während der neoliberalen Revolution seit den 70ern haben diese Thinktanks eine wichtige Rolle gespielt, das Paradigma der Markteffizienz über die Medien zu verbreiten und Politiker dafür zu gewinnen.[i] Ein Baustein dieser Entwicklung war die Schaffung des Wirtschaftsnobelpreises, der eigentlich kein Nobelpreis der Schwedischen Akademie der Wissenschaften ist. Tatsächlich wird er von der Schwedischen Nationalbank verliehen, die bei der Gründung ein politisches Interesse hatte: Sie wollte die Idee einer von der Politik unabhängigen Zentralbank fördern. In den 70er Jahren wurden neoliberale und neoklassische Ökonomen wie Milton Freedman, Friedrich August von Hayek und Paul Samuelson mit dem Preis geehrt, der eine große öffentliche Ausstrahlung hat. Aus solchen Belegen folgt natürlich logisch nicht, dass das Paradigma der Markteffizienz falsch ist. Sie sind aber ein Grund, die Argumente kritisch zu prüfen.«

»Und was bedeutet das für die Politik?«

»Hier müssen wir die Frage stellen, auf welchen Wegen die Bürger, die Wirtschaft, die Medien und die Wissenschaft Einfluss auf die Politik nehmen. Das ist keine einfache Frage, über die wir deshalb vielleicht mal ein eigenes Gespräch führen sollten. Eines kann ich dir aber schon einmal sagen: In den letzten Jahrzehnten hat sich das Spektrum der politischen Parteien in Europa in Richtung der Verfechter freier Märkte verschoben. Auch gerade sozialdemokratische Parteien, die sich früher wesentlich stärker für mehr soziale Gerechtigkeit und Gleichheit eingesetzt haben, vertraten zunehmend eine neoklassische oder neoliberale Wirtschaftspolitik. In Deutschland gilt dies für alle Parteien, die in den letzten zwanzig Jahren die Regierung gestellt haben: von der FDP bis zu den Grünen.«

»Dann bin ich gespannt auf unser nächstes Gespräch!«

»Das bin ich auch. Zuletzt bekommst du von mir aber noch die versprochene Übersicht über weitere Theorieschulen.«

»Werde ich mir ansehen! Versprochen!«

Die Klassik

Was ist das Beste, das man für den wirtschaftlichen Erfolg einer Nation tun kann? Es sind freie Märkte, sagen die Wirtschaftsliberalen, aus denen sich der Staat heraushalten sollte. Warum? Hier ist die vielleicht am häufigsten genannte Begründung: Es ist die »unsichtbare Hand« des Marktes, die ganz von selbst für den Wohlstand der Nation sorgen wird. Der Schöpfer dieser berühmten Metapher ist Adam Smith, der neben David Ricardo zu den bedeutendsten Ökonomen der Klassik zählt. Die große Zeit der Klassik war grob gesagt das späte 18. und das 19. Jahrhundert. Was aber hat es mit der ›unsichtbaren Hand‹ auf sich?

Der Bäcker, sagt Adam Smith, lässt uns nicht deshalb satt werden, weil er selbstlos ist, sondern weil er auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist: Auf seine Einkünfte aus dem Verkauf der Brötchen. Adam Smith wird manchmal so verstanden, dass selbstsüchtiges Verhalten im Markt automatisch das Gemeinwohl fördert. Doch seine Bücher sind an dieser Stelle weniger plump: Es braucht nicht nur den Markt, sondern auch staatliche Gesetze und Institutionen, die dafür sorgen, dass der Eigennutz in eine für alle förderliche Richtung wirkt.

Dennoch wehrten sich die Klassiker entschieden gegen staatliche Eingriffe in den Markt und den internationalen Handel. Von David Ricardo stammt ein bis heute gebräuchliches Argument für den Freihandel, der komparative Vorteil: Selbst wenn eine Nation einer anderen in allen Wirtschaftsbereichen unterlegen ist, kann es für beide vorteilhaft sein, Handel zu treiben.

Im Unterschied zur Neoklassik besteht die Wirtschaft in der klassischen Theorie nicht aus Individuen, sondern aus Klassen: Den Kapitalisten, den Arbeitern und den Grundbesitzern (landlords). Da die Kapitalisten die einzige Klasse bilden, die investiert und somit für Wirtschaftswachstum sorgen, ist es für Ricardo das Beste, ihnen »den größten Teil des nationalen Einkommens zu überlassen.«

Es gibt bis heute Wirtschaftswissenschaftler, die in direkter Tradition der Klassik stehen. Sie werden auch als Neoricardianer bezeichnet. Sie haben auffällige Gemeinsamkeiten mit dem Postkeynesianismus. Als ihr Begründer gilt Piero Sraffa, der in den 60er Jahren eine intensive Debatte zwischen Keynesianern in Cambridge (England) und Neoklassikern am MIT in Cambridge (USA) über die Konsistenz der neoklassischen Kapitaltheorie auslöste.

Marxistische Ökonomik

Wer den Namen Marx hört, denkt auch heute noch beinahe unmittelbar an den Kommunismus und seine mit diktatorischen Mitteln durchgesetzte Planwirtschaft. Doch Marx hätte die kommunistischen Diktaturen, wie der Wirtschaftshistoriker Heinz Kurz schreibt, wahrscheinlich »nicht weniger erbarmungslos kritisiert […] wie den Kapitalismus.«

Während Marx oft eine Mitverantwortung für den kommunistischen Totalitarismus unterstellt wird, wird sein Einsatz für die Arbeiterbewegung, die der deutschen Monarchie wichtige soziale Verbesserungen abringen konnte, von denen wir bis heute profitieren, gerne übersehen. Für Marx kam es darauf an, »die Welt zu verändern«, aber er wollte sie eben auch verstehen. Dazu gehörte für ihn neben der Philosophie und Soziologie auch eine Theorie wirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten. Zentral sind seine Theorie der kapitalistischen Ware als Fetisch, seine Wert-, Mehrwert- und Preistheorie sowie seine Krisentheorie.

Dabei knüpfte er besonders an Adam Smith und David Ricardo an. Wie sie teilte er die Wirtschaft in Klassen ein und sah die Produktion als den entscheidenden Bereich der Wirtschaft an. Er war ebenfalls der Auffassung, dass ökonomische Veränderungen von der Kapitalakkumulation (Investitionen) abhängen, allerdings auch wesentlich vom technologischen Fortschritt. Auch widersprach er entschieden dem Optimismus der Klassik: Der Kapitalismus war nicht nur ein Instrument der Ausbeutung der Arbeiter, sondern auch krisenanfällig und auf Dauer zum Scheitern verurteilt.

Der entscheidende Grund dafür sei das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, die er anders als Ricardo nicht durch steigende Produktionskosten in der Landwirtschaft, sondern durch das Anwachsen des Kapitals im Verhältnis zu den Arbeitskräften begründete. Neben dem Sowjetmarxismus gab und gibt es bis heute einen westlichen Marxismus in der ökonomischen Theorie. Da die marxistische Ökonomik auf Adam Smith und David Ricardo aufbaut, besitzt er eine Nähe zum Neoricardianismus.

 Die Österreichische Schule

Nach dem Untergang des kommunistischen Ostblocks wurde in den westlichen Medien eine große Botschaft verbreitet: Die Wirtschaft lässt sich nicht planen, dafür ist sie viel zu komplex. Der Beweis dafür sei die gescheiterte kommunistische Planwirtschaft. Für Ökonomen der Österreichischen Schule wie Friedrich August von Hayek ist der Markt eine Art Supercomputer, der Informationen äußerst effektiv verarbeitet. Effektiver als es auch dem intelligentesten Menschen möglich wäre. Märkte werden also wie in der Neoklassik als effizient angesehen. Eingriffe des Staates in den Markt sind kontraproduktiv.

Die Österreichische Schule begründet freie Märkte aber umgekehrt wie die Neoklassik. Gerade weil der Mensch nicht hyperrational ist, ist der Markt der bessere Organisator. Der Wettbewerb des Marktes schafft eine spontane Ordnung, in der die ständig wechselnden Konsumwünsche und Pläne der Marktteilnehmer koordiniert werden. Das zentrale Mittel der Koordination ist der Preis, der alle relevanten Informationen enthält.

Die Österreichische Schule weist starke Gemeinsamkeiten mit der Freiburger Schule und der Chicagoer Schule auf und wird wie diese häufig dem Neoliberalismus zugeordnet. Zu den Begründern der Österreichischen Schule gehören Carl Menger (1840 - 1921) und Ludwig von Mises (1881 - 1973). Der prominenteste Vertreter ist Friedrich August von Hayek (1899 – 1992). Seine Lehre gewann wie die anderer neoliberaler Ökonomen seit den 70er Jahren einen großen Einfluss auf die Politik. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan und die britische Premierministerin Maggie Thatcher begannen in den 80er Jahren zentrale Bereiche der Wirtschaft im Sinne des Neoliberalismus umzugestalten: Staatliche Unternehmen wurden privatisiert, viele staatliche Regulierungen wurden aufgehoben, um die Wirtschaft noch umfassender den Kräften des Marktes zu unterwerfen. Viele andere Länder folgten, nicht zuletzt die Entwicklungsländer, denen diese Politik auferlegt wurde, wenn sie Kredite vom Internationalen Währungsfond oder der Weltbank aufnahmen.

Noch mehr Theorieschulen

Der amerikanische Institutionalismus entstand Ende des 19. Jahrhunderts in den USA. Seine Vertreter lehnen das rationalistische Menschenbild der Neoklassik ab. Menschen sind vielmehr durch Institutionen geprägt und Menschen formen ihrerseits Institutionen. Der Institutionalismus untersucht den institutionellen Rahmen, in dem sich das Wirtschaftsleben entfaltet.

Die Neo-Schumpeterianer stehen in der Tradition Joseph Schumpters, eines bedeutenden österreichischen Ökonomen. Schumpeter entwickelte eine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Zentral für die Entwicklung des Kapitalismus ist das Prinzip der schöpferischen Zerstörung. Innovationen verdrängen alte Strukturen aus der Wirtschaft und ermöglichen dem Unternehmer eine zeitweise Monopolstellung, bis Nachahmer auftreten.

Die Verhaltensökonomik untersucht das menschliche Verhalten in wirtschaftlichen Situationen. Zu den Methoden der Verhaltensökonomik zählen insbesondere soziale Experimente und Befragungen. Ihre Erkenntnisse zeigen nicht zuletzt, dass Menschen nicht hyperrational, sondern nur von begrenzter Rationalität sind.

Die feministische Ökonomik untersucht den Einfluss von Geschlechterverhältnissen auf die Wirtschaft und umgekehrt. Dazu gehört nicht zuletzt die nicht entlohnte Arbeit, die traditionell Frauen verrichtet haben. Ein bedeutender Aspekt ist zudem das Verhältnis von Patriarchat und Kapitalismus.

Die ökologische Ökonomik sieht die Wirtschaft als Teil eines umfassenden Systems, zu dem u.a. gesellschaftliche Institutionen, Werte und die Natur gehören. Dieses umfassende System legt der Wirtschaft prinzipielle Grenzen auf. Die Ökologische Ökonomik analysiert Wechselwirkungen unserer Wirtschaft mit diesen Grenzen und erarbeitet Vorschläge für eine größere Nachhaltigkeit.

Dieser Text ist ein Kapitel aus dem Buchprojekt »Thinking for Future«, das die politische Philosophie und angrenzende Sozialwissenschaften thematisiert.

[i] Vgl. dazu ausführlich: Müller, Sebastian (2016): Der Anbruch des Neoliberalismus. Westdeutschlands wirtschaftspolitischer Wandel in den 1970er Jahren, Wien.