Ein Putin-Versteher als Präsident der Ukraine?
Selenskyjs ehemaliger Spin Doctor Oleksij Arestowytsch outet sich als „Putin-Versteher“ und ärgert Kiew. Ausgerechnet er will nun Präsident der Ukraine werden – und das Land auf einen anderen Weg bringen.
Für die einen galt er als enger Vertrauter des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, für die anderen war er Propagandachef oder Spin Doctor. Oleksij Mykolajowytsch Arestowytsch, ukrainischer Politiker im Offiziersrang, war bis zum Januar 2023 Regierungsberater und zuständig für strategische Kommunikation im Bereich der nationalen Sicherheit und Verteidigung. Durch seine täglichen Lageberichte zum Ukrainekrieg (schon 2019 hatte er den russischen Angriff vorausgesagt), aber auch über die sozialen Medien (allein sein YouTube-Kanal hat 1,8 Millionen Follower) wurde er national und international populär. Weniger bekannt ist, dass der 49-jährige auch Theologie studierte und eine erfolgreiche internationale Schule für künftige Führungskräfte betreibt (die Unterrichtssprache ist russisch).
In einem – bisher eher seltenen – Interview für den angel-sächsischen Raum[1] am 23. Dezember 2024 korrigiert er das Bild seiner Selenskyj-Nähe. Ganz im Gegenteil sei er schon lange ein scharfer Kritiker des ukrainischen Präsidenten gewesen, lässt er seinen Gastgeber Patrick Bet-David wissen. Zu Selenskyjs inneren Kreis habe er nie gehört. Das Amt des Kommunikationsbeauftragten habe man ihm wohl eher aus strategischen Gründen angeboten, um einen populären Gegner unter Kontrolle zu halten. Schließlich habe er schon 2022 seine Ambitionen auf das Präsidenten-Amt öffentlich gemacht, und sich auch sonst mit kritischen Äußerungen nicht zurückgehalten.
Im Januar 2023 wurde Arestowytsch wegen einer unliebsamen öffentlichen Aussage zum Rücktritt gezwungen. Trotzdem trat er wegen seines großen Bekanntheitsgrades weiterhin international als Repräsentant der Ukraine auf. Doch im Herbst 2023, so schildert es Arestowytsch, habe ihm der amerikanische Geheimdienst während eines USA-Aufenthalts dringend davon abgeraten, in die Ukraine zurückzukehren. Inzwischen sind dort mehrere Gerichtsverfahren gegen ihn anhängig und er lebt im Exil. Doch sobald der Krieg vorbei ist – was nach Auffassung von Arestowytsch mit Trump schon bald geschieht – will er als Präsidentschaftskandidat in die Ukraine zurückkehren. Neuwahlen würden dann sehr schnell stattfinden müssen, um die Legitimität der zu schließenden Vereinbarungen zu sichern, so sein Kalkül. Die Amtszeit Selenskyjs ist schon lange abgelaufen und sein Verbleiben im Amt, wenn überhaupt, nur mit dem Kriegsrecht zu rechtfertigen.
Arestowytsch: Selenskyj hat seine Wähler betrogen
Arestowytschs Kritik am Noch-Präsidenten der Ukraine könnte nicht schärfer sein. Dabei legt er Wert auf die Feststellung, dass er weder einen persönlichen Krieg gegen Selenskyj führt noch das Amt des ukrainischen Präsidenten als solches beschädigen will. Seine Kritik gelte einem politischen Führer, der schwere strategische Fehler begehe und der völlig damit überfordert sei, die großen Herausforderungen, mit denen er konfrontiert wurde, zu verstehen und zu lösen. Selenskyjs größtes Vergehen aber sei, dass er de facto seine Wähler betrogen und praktisch keine einziges seiner Wahlversprechen eingelöst habe.
Um zu verstehen, was Arestowytsch meint, muss man einige Jahre zurückblicken. Sein Vorgänger Petro Poroschenko, der 2019 mit dem Konzept der Ukrainisierung des Landes angetreten war – nur die ukrainische Sprache und die ukrainische orthodoxe Kirche sollten im Land zugelassen sein – gewann damit etwa 25 Prozent der Wählerstimmen – die der extremen Nationalisten. Doch unter dem Eindruck des „Kriegstraumas“, des Bürgerkriegs im Donbass, stimmten 73 Prozent der Wähler, praktisch der gesamte Rest, für Selenskyjs breiteres multikulturelles Projekt, in dem russisch-sprachige Menschen und die russische Kultur als organischer Teil der ukrainischen Kultur angesehen werden sollten. Selenskyj habe versprochen, so Arestowytsch , dass die Ukrainer nicht nach der Sprache, die sie sprechen, und nach der Kirche, die sie besuchen, gespalten würden.
Im Ergebnis hätte sich jedoch herausgestellt, dass der neue Präsident in Wirklichkeit Poroschenkos Projekt unterstützte. Arestowytsch kreidet Selenskyi an, dass die russisch-orthodoxe Kirche heute in der Ukraine brutal verfolgt wird. Zusammen mit weiteren Menschenrechtsverletzungen sei dies ein gravierender Verfassungsbruch, ausgerechnet seitens desjenigen, dessen Amt ihn zum Garant dieser Verfassung bestellt habe. Dabei könne man Selenskyj keineswegs, wie manche meinen, nur als eine Marionette der Oligarchen ansehen. Vielmehr sei er eine außerordentlich strenge und autoritäre Persönlichkeit, die alles kontrolliere und genau wisse, was sie tue.
Arestowytschs Drei-Punkte-Plan
Arestowytsch will sich mit einem Drei-Punkte-Programm zur Wahl stellen:erstens die Sicherung gut-nachbarschaftlicher Beziehungen zu allen Anrainern, einschließlich Russland und Belorus, im Rahmen einer gesamteuropäischen Friedensordnung; zweitens die wirtschaftliche Gesundung des Landes, insbesondere dessen Reindustrialisierung; und drittens die Wiederherstellung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Freiheitsrechte aller Bürger, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft oder politischen Ausrichtung.
Wer hier verwundert eine Affinität zu Putin heraushört, liegt nicht falsch. Sein Feind Putin, so der Politiker, sei Realist, wie er selbst. Politische Realisten seien der Auffassung, dass Nationen als solche Interessen haben, unabhängig davon, wer gerade an der Regierungsspitze steht. Es sei im nationalen Interesse Russlands, eine neutrale Ukraine als Nachbarland zu haben. Im nationalen Interesse der Ukraine sei es, mit allen Nachbarn friedlich zusammen zu leben.
Unabhängig davon, was man von dieser Einstellung halten mag: Arestowytsch kann diesbezüglich keineswegs als blauäugig gelten, denn er ist in puncto Diplomatie und Friedensverhandlungen kein unbeschriebenes Blatt. Er war seit Oktober 2020 Berater für Informationspolitik des Leiters der ukrainischen Delegation der Trilateralen Kontaktgruppe zur Ukraine Leonid Krawtschuk und offizieller Sprecher der Delegation. Darin kamen von 2014 bis 2022 Vertreter der Ukraine, der Russischen Föderation und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zusammen, um eine diplomatische Lösung des Krieges in der ukrainischen Region Donbass zu erreichen. Die Gruppe war auch an der Ausarbeitung der Minsk-Vereinbarungen beteiligt. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine war Arestowytsch dann bei den Friedensverhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022 Mitglied der Arbeitsgruppe für Sicherheitspolitik, einer von vier Arbeitsgruppen.
Als damals die Entscheidung zur Fortsetzung des Krieges fiel, war bereits zu 90 Prozent eine einvernehmliche Lösung erreicht worden, sagt Arestowytsch. Zu den Gründen für den Abbruch der Verhandlungen habe er nur Vermutungen, keine wirklichen Informationen. Sowohl der Westen – vor allem Großbritannien und die USA – als auch die ukrainische Regierung hieltendie Russen wohl für schwach und verwirrt und rechneten sich deswegen gute Siegeschancen aus. Hinzu gekommen sei das Trauma von Bucha. Die Entscheidung selbst jedenfalls beurteilt er als schweren strategischen Fehler, als die Fortsetzung eines für die Ukraine verhängnisvollen Kurses, der schon nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1991 begonnen habe.
„Wiedergeburt der Ukraine aus der Asche“
Der Anwärter auf das ukrainische Präsidentschaftsamt möchte sein Land auf einen anderen Pfad bringen, auch wirtschaftlich. Die Ukraine habe sich vom bedeutenden Industriestandort zum armen Agrarland zurückentwickelt. Das will er grundlegend ändern. Sein Programm nennt Arestowytsch nicht weniger als die Wiedergeburt der Ukraine aus der Asche. Ähnlich wie die MAGA-Anhänger in den USA möchte er als rechter Zentrist (so stuft er sich selbst ein) ein dauerhaftes Regelsystem schaffen, das maximale private und unternehmerische Freiheitsrechte garantiert. Der Staat soll die Hauptrichtlinien vorgeben und kontrollieren: der Korruptionsbekämpfung, für das Zusammenleben der Gesellschaft, die Wirtschaft und die Außenpolitik, die strategische Entwicklung des Landes und die Beziehungen zu den Nachbarn. Ansonsten müsse er radikal verkleinert werden, Eigentum gehöre in die Hand von Privatpersonen.
Der Staat soll auch nicht direkt in die ideologischen Auseinandersetzungen eingreifen, sondern eine Atmosphäre schaffen, in der nicht einige wenige viele andere unterdrücken können, indem sie Organisationen, Regierungsbehörden und die Einflussnahme ausländischer Partner sowie Unterstützung aus dem Ausland für ihre Interessen einspannen. Arestowytsch spricht von wahrer Redefreiheit, die es in der Ukraine nie gegeben hätte. Im so ermöglichten „Kampf der Ideologien“ innerhalb eines stabilen Rahmens wären die Voraussetzungen für eine gute Entwicklung des Landes geschaffen – unabhängig davon, wer gerade die Regierungsführung innehabe. Das, sagt Arestowytsch, ist sein großes Ziel.
Doch in was für eine Ukraine – geografisch und demografisch – der Präsidentschaftsanwärter zurückkehren wird, steht angesichts der aktuellen Kriegslage in den Sternen. Unterschätzt er nicht auch die Macht der extremen Nationalisten im Land und den Druck, den sie auf Selenskyj ausüben? Gefragt, wer international – außer vielleicht Putin – sein Programm unterstützen würde, gibt sich Arestowitsch zuversichtlich: Er setzt auf seinen Ehrgeiz, sein Können, seine politische Erfahrung und vor allen seine große Popularität im Land selbst.
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