Der große Tiktok-Moment
Der Versuch der US-Gesetzgeber, ihre Bürger vor Cyber-Angriffen und chinesischer Propaganda zu schützen, ging nach hinten los – und endete in einem großen Fest der Völkerverständigung. Folgt nun der Kater?
Das chinesische Video-Portal TikTok ist seit 2016 auf dem Markt und hat sich seitdem dank einer Kombination aus kurzen, kreativen Videos, personalisierten Empfehlungen, musikalischen Elementen, viralen Trends und einer benutzerfreundlichen Plattform zu einer der beliebtesten Social Media Plattformen weltweit entwickelt. Die Kritik ließ nicht lange auf sich warten: Vom gefährlichen Suchtpotential für Jugendliche und versteckter Werbung war die Rede.
Die chinesische Gefahr
Wer sich wundert, warum TikTok im Vergleich zu anderen Sozialen Medien besonders gefährlich sein soll, wird von amerikanischen Politikern aufgeklärt: Es geht besonders um die Verbreitung chinesischer Propaganda und den möglichen Zugriff des chinesischen Staates auf die Daten der 170 Millionen amerikanischen Nutzer. In seinem Abschiedsinterview sagte Bidens FBI-Chef Christopher Wray: „Die größte langfristige Bedrohung für unser Land geht meiner Meinung nach von der Volksrepublik China aus, (...) die ich als die entscheidende Bedrohung unserer Generation betrachte.“
Nach dem Hamas-Anschlag am 7. Oktober 2023 kritisierten der damalige republikanische Senator Mitt Romney und der damalige US-Außenminister Anthony Blinken die Verbreitung pro-palästinensischer Inhalte über TikTok. Und auf FoxNews fragte ein republikanischer Politiker: „Wollen wir, dass die vorherrschende Nachrichtenquelle für junge Leute in Amerika pro-chinesisch und subtil antiamerikanisch ist?“
Noch unter der ersten Trump-Administration wurde ein TikTok Verbot erwogen. Im April 2024 – unter Biden – verabschiedete der US-Kongress dann endlich das Gesetz zur Regulierung von Social-Media-Unternehmen im Besitz ausländischer Firmen oder Staatsangehöriger aus Staaten, die von den USA als Gegner und erhebliche Bedrohung für die nationale Sicherheit eingestuft werden. In dem Gesetz wurden das chinesische Unternehmen ByteDance Ltd. und dessen Portal TikTok ausdrücklich genannt. ByteDance wurde dazu verpflichtet, Tiktok bis zum 19. Januar 2025 an einen amerikanischen Unternehmer zu verkaufen. Da die Frist verstrich, stellte TikTok am 19. Januar seinen Betrieb in den USA ein. Und dann „das Wunder“: Einen halben Tag später war TikTok wieder da. Denn der angehende Präsident Trump hatte angekündigt, die Kulanzfrist für das Inkrafttreten des Gesetzes um 90 Tage zu verlängern und bis dahin einen Deal mit ByteDance abzuschließen.
Die TikTok-Flüchtlinge erleben einen Kulturschock
Dafür hagelte es von allen Seiten Kritik. Trump hat jedoch gute Gründe für diese Entscheidung, nicht zuletzt, weil, wie er zugibt, die Plattform wesentlich zu seinem Wahlsieg beitrug. Es gibt aber auch einen weiteren Grund: die für die Gesetzgeber wohl völlig unerwartete Reaktion der 170 Millionen verärgerten amerikanischen TikTok-User. Der Unmut über staatliche Bevormundung und die Gefahr, dass ihre gesamte kreative Arbeit der letzten Jahre zerstört werden könnte, bewog diese nicht etwa dazu, auf eine amerikanische App auszuweichen. Nein, man ging als „TikTok-Flüchtling“ zur chinesischen Konkurrenz von TikTok über. In der Woche vor dem Inkrafttreten des Urteils trendete der Hashtag #tiktokrefugee mit mehr als 100 Millionen Klicks. Und die bei weitem am häufigsten heruntergeladene App der Woche wurde das chinesische Portal Xiaohongshu (XHS-Little Red Book) bzw. RedNote.
Inzwischen haben über eine Million US-Amerikaner diese App installiert. Mütter sollen berichten, dass ihre Kinder auf dem Weg zur Schule im Auto Mandarin lernen (die App war anfangs nicht auf englisch-sprachige User eingestellt, sodass diese auf die Übersetzungsfunktion zurückgreifen müssen). Und der Journalist Ryan Grimm witzelte auf X (vermutlich in Anlehnung an die von Techbro Vivek Ramaswamy angestoßene Diskussion über die fehlende Arbeitsmoral der Amerikaner): „Meine Kinder arbeiten mit RedNote, und schon jetzt hat sich die kindliche Ehrerbietung in unserem Hause deutlich verbessert.“
Was sie nun erlebten, kam jedoch auch für die neuen Xiaohongshu-Nutzer völlig überraschend und glich einem Kulturschock.[1] Das Portal trennt die Nutzer aus den verschiedenen Regionen der Welt nicht. Und so trafen die „Flüchtlinge“ nicht etwa, wie erwartet, nur ihre Mitflüchtlinge, sondern sie wurden von vielen der 300 Millionen chinesischen Nutzer mit überwältigender Freundlichkeit begrüßt. Dazu ein User: „Ich bin so überglücklich und überwältigt, (...) sie sind alle so nett und was wirklich seltsam ist, ist, dass sich die Leute auf dieser App wirklich Sorgen um meine Gesundheit machen.“ Ein anderer berichtet, dass er noch nie ein so positives und poetisch formuliertes Feedback für seine Musik bekommen habe. Und das innerhalb kürzester Zeit.
Ein Fest der Völkerverständigung
Viele Amerikaner mussten feststellen, dass sie ihr China-Bild vollkommen revidieren mussten. Denn es dauerte nicht lange, bis sie anfingen, die chinesischen Normalbürger auf der anderen Seite der Welt danach zu fragen, wie ihr Alltag aussieht. Und so zeigten diese ihren neuen Freunden ihre Wohnungen und nahmen sie auf Einkaufstouren mit. Man verglich Lebenshaltungskosten, Arbeitszeit und Gesundheitsversorgung. Dabei trafen die Amerikaner nicht – wie erwartet – auf von der kommunistischen Partei geknechtete, überarbeitete Menschen in Einheitskleidung, die in traurigen Plattenbauten hausten, sondern auf freundliche, zufriedene, bunt gekleidete Bürger in schönen Appartements, in ästhetisch gestalteten Großstädten mit gut funktionierender Infrastruktur, einer High-Tech Kultur und einem großen Angebot an frischen Lebensmitteln und Konsumgütern, das sie sich leisten konnten.
Wie hoch die Monatsgehälter in China im Vergleich zu den amerikanischen auch sein mögen – die Nutzer nahmen ungläubig zur Kenntnis, dass Menschen in anderen Ländern „nicht 20 Prozent ihres Gehaltsschecks für Lebensmittel ausgeben“ müssen, und „dass in anderen Ländern jeder ein Haus besitzen kann, weil sie nicht 2.200 Dollar im Monat an Miete zahlen müssen, oder dass ihre Hypotheken nicht ihren gesamten Gehaltsscheck ausmachen. Und, „dass die Leute in China nur einen Job haben und nicht einmal 40 Stunden arbeiten und sich ihr Leben leicht leisten können, während ich hier drüben 60 Stunden pro Woche arbeite, nur ich als Alleinerziehende, um gerade so über die Runden zu kommen.“
Und was die Berufsausbildung betrifft: dass „ihre juristischen Fakultäten 798 Dollar pro Jahr kosten, was mich einfach so wütend macht, weil ich etwa 450,000 Dollar Schulden habe, nur um Jura zu studieren“. Auch der Vergleich der Gesundheitskosten sorgt für Überraschungen: Ein vergleichbarer Aufenthalt in der Notaufnahme kostet in den USA ungefähr das 40-fache als in China. Die chinesische Regierung sorge für ihre Bevölkerung, schlussfolgert ein RedNote-Nutzer, was die amerikanische Regierung nicht täte. „Leute, wir sind hier drüben wie ein Dritte-Welt-Land, das ist kein Witz,“ stellt ein anderer fest. Auf all das reagierten viele der TikTok-Flüchtlinge extrem emotional, gerührt und wütend zugleich.
Die chinesische Perspektive schildert eine von ihnen so: „Sie [Die Chinesen] können nicht glauben, dass die Amerikaner Amerika im Stich lassen, und sie haben einfach Mitleid mit uns, das ist traurig.“ Eine chinesische Nutzerin berichtet, dass sie immer geglaubt habe, es sei Propaganda, wenn in China darüber berichtet wurde, dass Schulkinder schusssichere Schulranzen brauchten. Nun habe sie erfahren, dass es die Wahrheit sei.“ Eine andere erklärt, wie glücklich sie darüber ist, dass sich plötzlich die Welt für sie geöffnet habe. Die Chinesen hätten sich immer isoliert gefühlt. Das sei nun hoffentlich vorbei.
Die amerikanische Gefahr
Stören sich die amerikanischen Nutzer denn nicht an der chinesischen Zensur? Schließlich sind Facebook und X in China verboten. Und wer zum Beispiel "Taiwan is a country"; "Free Tibet"; oder "Uyghur concentration camps" postet, wird gesperrt. Politik scheint jedoch für die Mehrheit der TikTok Flüchtlinge eine untergeordnete Rolle zu spielen: „Am komischsten ist, dass amerikanische Bürger nicht einmal mit chinesischen Bürgern sprechen würden, wenn die US-Regierung nicht versucht hätte, Tik Tok zu verbieten, weil sie behauptete, Tik Tok würde chinesische kommunistische Propaganda pushen. Und dann ging ein Haufen Amerikaner und trat einer App bei, die speziell für chinesische Bürger entwickelt wurde, die von der Kommunistischen Partei Chinas genehmigt wurde, und dann haben wir plötzlich einen interkulturellen Austausch zwischen amerikanischen Bürgern und chinesischen Bürgern. Amerikanische Bürger fangen an zu erkennen, dass Chinesen Menschen sind, ehrlich, das fühlt sich gut an,“ lautet ein typischer Kommentar.
Tatsächlich sieht die chinesische – genauso wie die amerikanische – Regierung ausländische Social Media Plattformen als potenzielle Gefahr an. Sie schreibt vor, dass diese ihre Daten in China lagern und sich an die dortigen Zensur-Regeln halten. Nur diejenigen Plattformen, die dazu bereit sind, wie LinkedIn, operieren in China. Umgekehrt hat TikTok als kommerzielles Unternehmen zwar den Verkauf abgelehnt, sich aber zur Einhaltung entsprechender Regeln in den Gastgeberländern verpflichtet. Es wurde sogar bekannt, dass man ehemalige CIA- und FBI-Mitarbeiter einstellte, die sicherstellen sollten, dass keine in den USA unliebsame Inhalte Verbreitung finden.
Wird die chinesische Regierung also das große Fest der Völkerverständigung unterbinden? Bisher verhalten sich die Verantwortlichen abwartend und genießen den PR-Sieg. Die stellvertretende chinesische Außenministerin äußerte ihre Freude über die Entwicklung. Der China-Vlogger Daniel Dumbrill twitterte: „Dieser Austausch scheint auch bei den Einheimischen eine noch tiefere Wertschätzung für ihr eigenes System zu wecken. Ein rundum massiver PR-Fehler für die Propagandisten der US-Regierung.“
Folgt nun der Kater?
Ob aus diesem „Fehler“ ein längerfristiger Trend wird oder es nur ein kurzer disruptiver Moment ist, bleibt abzuwarten. Etliche der neuen RedNote Nutzer haben angekündigt, in jedem Fall weiter dort aktiv bleiben zu wollen. Inzwischen können ausländische Kunden auch die chinesische TikTok-Version herunterladen. Es könnte aber auch sein, dass die Anpassung der Algorithmen schon bald zu einer regionalen und/oder sprachlichen Trennung der verschiedenen User führt. Oder dass RedNote eine internationale Version herausbringt, die auch kommerziell nutzbar ist. Beobachter weisen darauf hin, dass das amerikanische TikTok-Gesetz in gleichem Maße auch RedNote betreffen könnte und dem Portal deswegen schon bald ebenfalls das Verbot droht.
Donald Trump möchte das Gesetz mithilfe einer Joint-Venture Regelung umgehen, bei der nur 50 Prozent von TikTok an ein amerikanisches Unternehmen verkauft werden. Wie die anderen Big-Tech-Chefs nahm auch TikTok CEO Shou Zi Chew als Gast an seiner Inauguration teil. Die Zukunft des Video-Portals war auch Gegenstand des ersten Telefonats von Trump und dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Denn bisher verbot die chinesische Regierung jeden Verkauf und nutzte ihre Autorität über den Algorithmus, indem sie ihn als wertvolle Technologie, die nicht in die Hände von Ausländern fallen darf, der Exportkontrolle unterwarf. Xi wird sich vermutlich nicht ohne Gegenleistung zu einer Teil-Veräußerung von TikTok zwingen lassen. So könnte am Ende der Verhandlungen ein umfassenderes Abkommen stehen, das nicht nur TikTok, sondern auch Handel, Wirtschaft, Cybersicherheit, den Verkauf von Agrarprodukten und Halbleitern sowie möglicherweise Themen wie den Schutz Taiwans umfasst.
Wie auch immer die Sache ausgeht: Zu wünschen wäre, dass die Regierungen beider Länder diese Möglichkeiten der Völkerverständigung, die durch Social Media und Übersetzungsprogramme erst möglich wurden, nicht unterbinden, sondern als Chance begreifen und fördern. Ihre Bürger erwarten das von ihnen.
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