Der Elefant im Raum

Wo sich Draghi und von der Leyen irren

| 28. Januar 2025
James Hammond / Unsplash | IMAGO / alimdi

In einem aktuellen Paper kritisieren der BSW-Europaabgeordnete Fabio de Masi und der Ökonom Dirk Ehnts den vielzitierten Draghi-Bericht. Sie zeigen: nachfrageseitige Zusammenhänge kommen zu kurz. Und von der Leyens Pläne für eine Kapitalmarktunion setzen an der falschen Stelle an.

Es war der Elefant im europäischen Raum, als der vormalige EZB-Präsident Mario Draghi Mitte September letzten Jahres eine Studie zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union veröffentlichte. Denn eigentlich ist es ein offenes Geheimnis, dass die EU schon seit längeren gegenüber den USA an wirtschaftlicher Stärker verliert – es fehlte nur eine bedeutende Person, die es anspricht.

Und das tat Draghi schonungslos: In seinem Bericht forderte er „nie dagewesene Investitionen“, um „existenzielle Herausforderungen“ zu meistern. Nur mit einer zweckgebundenen jährlichen (!) Neuverschuldung der EU in Höhe von 750 bis 800 Milliarden Euro beziehungsweise etwa 4,4 bis 4,7 Prozent des gesamten Bruttoinlandprodukts (BIP) seien Dekarbonisierung, Digitalisierung und Verteidigung gleichzeitig zu leisten. „Marshall-Plan mal zwei“ titelte MAKROSKOP-Redakteur Lukas Poths angesichts des Finanzvolumens pointiert.

Man möchte meinen, wenn eine angesehene Person wie Draghi mit einer solchen Emphase seine Forderungen bekundet, folgen große Taten. Doch der Italiener bekleidet kein Amt mehr in der EU – und so fehlen ihm die formal-institutionellen Machtmittel, um der Umsetzung seines Investitionsprogramms Geltung zu verleihen.

Was bleibt: warme Worte von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und eine Taskforce, um „konkrete Vorschläge und mögliche Rechtsvorschriften umzusetzen“, so das Springer-Medium Politico mit Verweis auf die Aussagen zweier EU-Vertreter. Wenn du nicht weiterweißt, gründe einen Arbeitskreis – oder wenn du nicht willst?

Zwar hat von der Leyen in der Amtsantrittsrede ihrer zweiten Amtszeit explizit hervorgehoben, dass die Europäische Kommission Draghis Bericht während ihres gesamten Mandats als „Kompass“ nehmen wird. Daher sollen für sie „öffentliche Investitionen“ eine „entscheidende Rolle“ spielen.

Jedoch sind unter von der Leyen weniger die Höhe der öffentlichen Investitionen das Problem, sondern vielmehr deren fehlende Priorisierung im EU-Haushalt. Das heißt: Um Investitionen zu finanzieren, soll umgeschichtet werden, anstatt neue Schulden aufzunehmen. Draghi allerdings fordert explizit neue Schulden für sein umfangreiches Wachstumsprogramm. Die Taskforce für die Entwicklung von Politikempfehlungen in Anlehnung an Draghis Bericht steht damit vor der unlösbaren Aufgabe, von der Leyens Prämisse einer „Kommission der Investitionen“ gerecht zu werden, ohne dass die Kommissionspräsidentin dafür umfangreiche Möglichkeiten der Neuverschuldung gewährt.

Es mangelt nicht an Kapital

Nun wäre es auch möglich, dass für Draghis Investitionsoffensive primär private Mittel mobilisiert werden. Dann würden öffentliche Investitionen zwar nicht mehr die gewünschte „entscheidende Rolle“ spielen, aber das Ziel wäre quantitativ trotzdem erreicht – ein Segen für die Taskforce.

Und diesen Weg scheint von der Leyen implizit zu bevorzugen: Auch wenn sie sich in ihrer Amtsantrittsrede für das Primat der öffentlichen Investitionen stark machte, scheint es nicht mehr als ein Lippenbekenntnis zu sein. Denn wenn es darum geht, wer investieren soll, nimmt sie nur den Privatsektor in den Blick. Für diesen schwebt ihr eine „Spar- und Investmentunion“ vor, damit „europäische Unternehmen das Kapital finden, das sie hier in Europa brauchen“. Durch diese Kapitalmarktunion sei die „Kapitallücke“ zwischen der EU auf der einen und den USA und China auf der anderen Seite zu schließen.

Doch wie erfolgsversprechend ist eine solche Finanzialisierungs-Strategie? Ein aktuelles Paper vom BSW-Europaabgeordneten Fabio de Masi und dem Ökonomen Dirk Ehnts weckt Zweifel.

Der Kommissions-Initiative für eine Kapitalmarktunion halten die beiden entgegen, dass Unternehmensinvestitionen in der Union nicht an fehlenden Finanzmitteln scheitern, sondern vor allem an mangelnder Nachfrage. Das zeigen sie anhand eines ökometrischen Vergleichs mit den USA: Während die EU von 2000 bis 2010 bei den realen Bruttoanlageinvestitionen (ohne Wohnungsbauinvestitionen) als Anteil am BIP noch führend war, hat sich die Vorreiterrolle ab 2010 umgedreht.

Dass daran die Geldpolitik schuld sei und dementsprechend eine Kapitalmarktunion Abhilfe schaffen könnte, halten die Autoren angesichts der Entwicklung der effektiven Zinssätze von EZB und Fed für unwahrscheinlich. Trotz der Umkehrung des Investitionsvorsprunges ab 2010 lagen die nominalen Zinssätze nämlich von 1998 bis heute in den USA fast immer höher als in der Eurozone. Warum wurden in der EU dann nur bis 2010 höhere Investitionen getätigt, wo doch niedrigere Zinsen angeblich die Investitionstätigkeit anregen?

Private Investitionen verhalten sich laut de Masi und Ehnts verhältnismäßig „träge“ gegenüber den Zinssätzen. Sie treffen die Annahme, dass Unternehmen bis zu einem bestimmten Grad in der Lage sind, gestiegene Zinskosten an ihre Kunden weiterzugeben und sie daher bei hoher Nachfrage auch dann investieren werden, wenn die Zinssätze hoch sind. Umgekehrt wird ein niedrigerer Zinssatz die Kapitalkosten eines Unternehmens und damit die Preise seiner Produkte kaum so weit sinken lassen, dass es in Zeiten geringerer Nachfrage nicht gewinnbringend verkaufen könnte, so die beiden Autoren.  

Wie stark der Einfluss ist, der die Nachfrageseite im Gegensatz zur Geldpolitik auf die Investitionstätigkeit nimmt, illustrieren sie anhand der Reaktion der EU auf die Finanzkrise. Damals hatte das europäische Krisenmanagement inklusive Troika (EZB, Internationaler Währungsfonds und Europäische Kommission) „überschuldeten“ Mitgliedsstaaten scharfe Sparauflagen oktroyiert. Dadurch wurden Unternehmen mit sinkender Nachfrage nach ihren Waren und Dienstleistungen konfrontiert und drosselten folglich auch ihre Investitionstätigkeit: „Kürzungen der Staatsausgaben führen logischerweise zu einem Rückgang der nicht-staatlichen Einnahmen der Wirtschaft“, so de Masi und Ehnts. Daran änderte auch die ultralockere Geldpolitik der EZB nichts.

Als es ab 2020 zu Störungen der Lieferketten im Zuge der Coronakrise und zur Energiearmut durch den Ukrainekrieg ab 2022 kam, wurden die beiden Angebotsschocks durch mangelnde öffentliche und private Investitionen hervorgerufenen Produktivitätseinbußen „vervielfacht“.  

Wie de Masi in Anlehnung an den Bericht mit Dirk Ehnts auf X schreibt, habe die Europäische Kommission zwar mit der Aussetzung der Fiskalregeln für die Mitgliedsstaaten und die EZB mit dem Anleihekaufprogramm PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme) wesentlich dazu beigetragen, dass die EU schneller als die USA wieder auf das Vorkrisenniveau der Wirtschaftskraft kam. Doch mit dem Wiedereinsetzen ihrer Fiskalregeln ab 2024 beging sie einen ähnlichen Fehler wie mit dem Sparkurs in Reaktion auf die Finanzkrise 2007/2008.

Kann der Finanzsektor Europas Produktivitätskrise lösen?

Wie von der Leyen ist auch Draghi ein Freund der Finanzialisierung. In seinem zu Beginn erwähnten Bericht untermauert er die positiven Seiten der finanzialisierten Akkumulation mit einem Produktivitätsgefälle, das er zwischen den USA und der EU herausstellt. Seit Beginn der 1990er-Jahre tut sich eine Lücke zwischen den realen BIP-Wachstum der USA und der EU zugunsten der Nordamerikaner auf.

Den Grund sieht Draghi bei stärkeren Produktivitätszuwächsen in der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT-Sektor) einschließlich Finanzdienstleistungen. Denn ohne den IKT-Sektor würden die Produktivitätszuwächse in der EU über denen der USA liegen. Das Arbeitsproduktivitätswachstum des verarbeitenden Gewerbes der Vereinigten Staaten war in den 2010er-Jahren sogar meist negativ, während es in der EU meist positiv war.

Doch auch hier widersprechen de Masi und Ehnts: OECD-Daten zeigen, dass die US-amerikanische Produktivität in der Informationsbranche nicht viel stärker als in den meisten anderen OECD-Staaten ist und sogar schwächer als die der Südkoreaner. Daher ist es unwahrscheinlich, dass die USA nur mithilfe dieses Sektors den Produktivitätsvorsprung der EU einholen könnte.

Zudem ist die Produktivität des Banken- und Finanzsystems laut de Masi und Ehnts schwierig zu ermitteln. Zur Erinnerung: Es handelt sich ebenfalls um einen Sektor, dem Draghi hohe Bedeutung für den Produktivitäts-Vorsprung der USA einräumt. De Masi und Ehnts aber stellen heraus, dass der Korrelationskoeffizient zwischen Wertschöpfungs- und Beschäftigungsanteil sowohl bei den Bank- als auch bei den Immobiliendienstleistungen negativ ausfällt. Das heißt: Ein höherer Wertschöpfungsanteil korreliert mit einem geringeren Beschäftigungsanteil. Die Erklärung, dass aufgrund ansteigender Arbeitsproduktivität die Beschäftigung zurück geht, sei für den Finanzsektor realitätsfern. Hier werden als Produktivität die Transaktionen pro Minute gemessen, was aber den Bedarf an Investmentbankern nicht reduziert hat. Deren Zahl stieg in den 2000er Jahren in den USA an. Dies führte zu einer ineffizienten Verwendung von Ressourcen – zu viele Immobilien wurden gebaut. 2007 mündete es im Immobiliencrash.

Dass Produktivitätssteigerungen nicht zwangsläufig mehr reale Wertschöpfung bedeuten illustriert de Masi auch an einem anderen Beispiel auf X: Die BIP-Wachstumsrate war in den USA vor allem in den 90er-Jahren zwar größer als in der EU. Aber das Wachstum wurde von einem IT-Boom angetrieben, der sogenannten Dotcom-Blase, und auf Kosten von Investitionen in der Industrie. Zudem führten der US-Beitritt zum Freihandelsabkommen NAFTA (1994) und Chinas Beitritt zur WTO (2001) zu einem Anstieg der Importe – mit der Folge, dass fast jeder dritte industrielle Arbeitsplatz in den USA verloren ging.

Drei Handlungsoptionen

Die Ausführungen von De Masi und Ehnts zeigen, dass nicht nur von der Leyens Finanzialisierungspläne zur Investitionssteigerung mit Vorsicht zu genießen sind, sondern auch Draghis Behauptung, dass die US-amerikanischen Produktivitätsvorsprünge aus dem IKT-Sektor und Finanzdienstleistungen resultieren würden.

Worin Ehnts und de Masi Draghi jedoch zustimmen, ist seine Forderung nach mehr Investitionen. Diese seien zu stemmen, wenn man höhere Staatsausgaben auf nationaler Ebene mit mehr Ausgaben auf EU-Ebene kombiniere. Dafür nennen die Autoren drei kurzfristige Optionen.

  1. Reaktivierung der Ausstiegsklausel aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt aufgrund „außergewöhnlicher wirtschaftlicher Schocks“. Begründen könne man dies mit den anhaltenden Ukrainekrieg, der Unsicherheit im Nahen Osten und den Anpassungserfordernissen an den Klimawandel.
  2. Eine Goldene Regel für Investitionen. Bestimmte staatliche Investitionen würde man von den Defizit- und Schuldenregeln für den öffentlichen Sektor im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakt ausnehmen.
  3. Ausgabe von EZB-Anleihen. Diese würden nationale Staatsanleihen der Euro-Mitgliedsländer ersetzen und wären risikolos, weil die EZB die Mitgliedsstaaten jederzeit mit der notwendigen Liquidität in Euro versorgen könnte.

Diese Vorschläge beruhen allesamt auf einer „Steigerung der Aktivitäten des öffentlichen Sektors“. Draghis Forderung, stattdessen auf eine Kapitalmarktunion zu setzen, weisen die Autoren zurück. Anonyme Investoren, die nur wenig Kenntnis von fragmentierten europäischen Märkten haben, seien anfällig für Herdenverhalten, Informationsasymmetrien und wirkten somit prozyklisch auf die Konjunktur, so die Begründung.

Nicht nur ein Elefant im Raum

Draghi hat mit seiner Studie einen Elefanten im europäischen Raum angesprochen. Auch de Masi und Ehnts scheinen einen gefunden zu haben: Obgleich sie ihr Paper explizit „Der Elefant im Raum“ nennen, konkretisieren sie aber nicht, wer oder was der Elefant sein soll.

Gut möglich ist, dass die beiden die nicht ausreichende Berücksichtigung der Nachfrageseite durch orthodoxe Ökonomen meinen. Obwohl in Volkswirtschaften ein Angebot von einer ausreichenden Nachfrage „absorbiert“ werden muss, gilt noch zu oft die Prämisse, dass ein Angebot sich die entsprechende Nachfrage von alleine schafft.

Zwar ist Draghi mit seiner Forderung nach umfangreichen Investitionen unter den Orthodoxen verhältnismäßig unorthodox. Aber von der Leyens Antrittsrede lässt vermuten, dass der Staat – insbesondere der Suprastaat EU – nicht viel zu den dringend benötigten Investitionen beitragen wird. Auch die Kapitalmarktunion läuft ins Leere, solange sie nur einen Zugang zur Liquidität verbessern soll, an dem es nicht mangelt.

Das Verdienst von Fabio de Masi und Dirk Ehnts ist es, die wenig beachtete Rolle des Staates für wichtige Nachfrageimpulse herauszustellen. Manchmal gesellt sich zu einem Elefanten im Raum eben noch ein zweiter.