Planen statt Schrumpfen
Ulrike Herrmann will mit radikalen Degrowth den Kapitalismus überwinden. Doch die Öko-Schocktherapie wird weder ökonomisch funktionieren noch das Klima retten.
„Das Ende des Kapitalismus“ bedeutet das Ende des Wachstums – so Ulrike Herrmann in ihrem jüngsten Bestseller, erschienen im September 2022. Der bekannten Wirtschaftsjournalistin der TAZ ist es mit radikalen Forderungen gelungen, eine wichtige strategische Debatte anzustoßen und zur ökonomischen Stimme der Degrowth-Bewegung zu werden. Doch ihre zentralen Aussagen sind fragwürdig. Denn wir, ein siebenköpfiges Autorenteam des Handbuchs Klimaschutz, sind bei unseren Analysen (insgesamt über 400 wissenschaftlichen Studien des letzten Jahrzehnts), wie Deutschland so schnell wie möglich klimaneutral werden kann, zu völlig anderen Ergebnissen gelangt.
Ulrike Herrmann will das Bruttoinlandsprodukt um mindestens ein Drittel, möglichst die Hälfte reduzieren. Um den Rebound-Effekt (mehr Verbrauch durch mehr Effizienz) zu brechen, dürften die Menschen nur noch halb so viel arbeiten, damit die Einkommen stark sinken und den Konsumenten das Geld fehlt, um neues Wachstum anzuschieben. Deswegen ist es für Ulrike Herrmann konsequent, dass die Degrowth-Bewegung die kommerzielle Lohnarbeit halbieren will.
Denn weder die Erneuerbaren Energien noch die Rohstoffe würden reichen und um eine Strategie des „grünen Wachstums“ verfolgen zu können – der Rebound-Effekt fresse alle Einsparungen an Energie und Emissionen durch das Wachstum wieder auf.
Eine Öko-Schocktherapie funktioniert nicht
Immerhin räumt Herrmann die Gefahren der geforderten Öko-Schocktherapie ein: Da der Kapitalismus auf Wachstum angewiesen ist, fürchtet sie, dass Degrowth zu einer Weltwirtschaftskrise führt. Deswegen schlägt sie als Modell für den Weg aus dem Kapitalismus vor, die Kriegswirtschaft in Großbritannien im zweiten Weltkrieg als Blaupause für die Klimapolitik zu nehmen.
Es ist erstaunlich, wieviel Zustimmung diese strategischen Vorschläge gefunden haben. Aber unsere Analysen ergeben: Erstens wird das, was sie vorschlägt, nicht reichen, um die Klimaerwärmung zu stoppen. Und zweitens kann diese Strategie ökonomisch nicht funktionieren. Sie führt die Klimabewegung leider in die Irre. Trotzdem kann drittens das Beispiel Großbritannien sehr hilfreich sein.
Zum Ersten: Das Degrowth wird nicht reichen, weil es nicht darum geht, die Treibhausgas-Emissionen zu halbieren. Das ist viel zu wenig. Nach unseren Rechnungen könnten und sollten wir sogar bis 2030 auf eine Reduzierung von 80 Prozent kommen und spätestens 2038 klimaneutral sein.
Um das zu erreichen, muss möglichst schon ab 2035 die Energie zu 100 Prozent erneuerbar erzeugt werden. Das ist möglich. Anders als Ulrike Herrmann behauptet, sind alle damit verbundenen Probleme seit Jahren in umfangreichen Studien analysiert und gelöst worden – von der Stromerzeugung, dem Leitungsbau, dem Import von grünen Rohstoffen bis hin zu den Speichern für Strom und Wasserstoff –, um auch im worst case, einer längeren kalten Dunkelflaute, die Stromversorgung zu sichern. Weiter sollten bis 2040 mindestens 80 Prozent der Häuser wärmetechnisch saniert und möglichst viele zu Nullemissionshäusern gemacht werden.
Auch die Rohstofffragen sind ausführlich untersucht worden. Im Handbuch Klimaschutz kommen wir zum Ergebnis, dass die Importe von Roh- und Brennstoffen um ca. 80 Prozent bis 2040 zurück gehen können. Entscheidend dafür ist der konsequente Übergang zur Recycling-Wirtschaft zu einer Quote von über 90 Prozent für Metalle und über 50 Prozent für Kunststoffe – und zwar reales Recycling, kein Downcycling oder Verbrennen. Weiter rechnen wir mit einer Verdreifachung des Bahnverkehrs und des Öffentlichen Nahverkehr sowie des Fahrradverkehrs. Und so weiter.
Die Transformation braucht mehr Arbeitsplätze, nicht weniger
Zum Zweiten: Das Degrowth kann auch ökonomisch gar nicht funktionieren. Da heute nur noch 20 Prozent der Beschäftigten in der Produktion tätig sind, würde die Zahl der Arbeitsplätze selbst dann nicht wesentlich zurückgehen, wenn die Produktion von Waren und zugleich die Zahl der Geschäfte halbiert wird. Denn über die Hälfte der Menschen arbeitet bereits in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Pflege, Kinderbetreuung und anderen sozialen und persönlichen Dienstleistungen. Dort werden in den kommenden Jahren noch viele neue Arbeitsplätze benötigt.
Aber auch für den Umbau zu einer klimagerechten Gesellschaft werden Millionen neuer Arbeitsplätze entstehen: Die Sanierung der Häuser, der Ausbau der erneuerbaren Energien, der Umbau der Städte, der Ausbau von Bahnen und Stadtbahnen, die Umstellung auf ökologische Landwirtschaft, die Aufforstung und Renaturierung von Wäldern und Mooren – das alles erfordert viel Arbeit. Ohne die dafür erforderlichen Menschen wird die Transformation nicht gelingen.
Ökonomisch bedeutet dies alles: Auch wenn wir die Emissionen von Klimagasen auf fast Null reduzieren, den Rohstoffbedarf um 80 Prozent senken und den Energieverbrauch halbieren, wird das Bruttoinlandsprodukt wachsen – so wie es auch heute schon wächst, wenn wir Naturschutzgebiete ausweisen oder neue Krankenpfleger einstellen – also scheinbar „unproduktive“ Bereiche ausweiten.
Auch wenn Ulrike Herrmann hier also irrt, ist gerade der dritte Teil ihres Buches für die aktuelle Diskussion von Bedeutung. Dort schlägt sie vor, die Kriegswirtschaft – sie nennt es „private Planwirtschaft“ – Großbritanniens im zweiten Weltkrieg als Blaupause für die Klimapolitik zu nehmen.
Eine in diesem Zusammenhang interessante Fußnote: Zur Steuerung dieser Politik wurde damals das BIP erfunden. Da die Arbeitskräfte knapp waren, wurde das „Manpower Budget“ das zentrale Steuerungsinstrument. Auch der Konsum wurde strikt geregelt: Milch und Eier nur für Kinder, Schwangere und stillende Mütter; Fleisch, Käse, Fett, Zucker, Tee und Seife wurden pro Kopf rationiert. Erstaunlicherweise war das System sehr beliebt, weil alle das gleiche bekamen und die Unterschicht besser versorgt war als in Friedenszeiten.
Klimapolitik gelingt nur, wenn sie gerecht ist
Nun werden wir hoffentlich nicht ganz so viel regeln müssen. Trotzdem kann man daraus tatsächlich einiges für heute lernen: Wir brauchen staatliche Planung und gesetzliche Regelungen, um den gewaltigen Umbau hinzubekommen. Ob dazu erst der Kapitalismus zu Ende gehen muss, wird sich herausstellen. Auf jeden Fall aber wird die Klimapolitik nur gelingen, wenn die Menschen fühlen, dass es gerecht zugeht. Soziale Gerechtigkeit und Klimapolitik müssen stets zusammen gedacht werden. Und das wird auch die Gesellschaft grundlegend verändern.
Wenn heute die Notmaßnahmen für die Transformation immer noch nicht energisch genug in Angriff genommen werden, dann liegt das nicht daran, dass es nicht machbar ist. Sondern an mangelnder Entschlossenheit großer Teile der Politik. Offensichtlich ist für viele die Not des Klimawandels und des Artensterbens noch nicht so akut, dass es Mehrheiten im Parlament gibt, die bereit sind, Notstandsmaßnahmen zu ergreifen.
Daran ist aber nicht der Kapitalismus schuld, sondern eine Mehrheit im Bundestag, die immer noch glaubt, freie Fahrt auf Autobahnen und billige Flüge seien wichtiger als das Klima.
Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus: Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden. 352 Seiten, 24 €.