Alters- und alternsgerechtes Arbeiten
Immer wieder kommt in der Sozialpolitik zu kurz, dass ein spezifisches Alter auch altersspezifische Maßnahmen erfordert. Die Folge: verhängnisvolle „Kunstfehler“. Wie es anders gehen kann, zeigt eine lebenslaufbegleitende Sozialpolitik.
Dieser Artikel erscheint zu Ehren unseres Autors und Gesundheitsexperten Hartmut Reiners, der in dieser Woche seinen 80. Geburtstag feiert.
Die Versicherung allgemeiner Lebensrisiken, die Gewährleistung sozialer Teilhabe oder die Bereitstellung und der Unterhalt sozialer Infrastrukturen: Diese Bereiche der sozialen Sicherung sind ebenso zentral wie umstritten. Verteilungskämpfe dominieren die Debatten um Sozialpolitik. Wer hat welche Lasten zu tragen und wer kommt im Genuss wie vieler Ressourcen? Mit anderen Worten: Welche Verteilung ist fair beziehungsweise angemessen?
Typische Konfliktlinien verlaufen dabei zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, wie etwa zwischen Einkommensklassen, Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte oder (vermeintliche) Generationenkonflikte. So werden immer wieder generationelle Unterschiede bei der Arbeitsleistung oder im Krankheits- beziehungsweise Gesundheitsverhalten behauptet, die das deutsche Sozialmodell gefährden sollen. Dieser Mythos schürt Ressentiments gegen spezifische Altersgruppen, zum Beispiel gegen die Generation Z.
Entsprechende Debatten greifen insofern regelmäßig zu kurz, werden politisch instrumentalisiert und tendieren dazu, vulnerable Gruppen gegeneinander auszuspielen, ohne dass tatsächliche Fragen der Verteilung substanziell beantwortet würden. Die Ursache dafür wiederum: sozialpolitische Sachverhalte werden verkürzt oder sogar irreführend dargestellt und wissenschaftliche Fakten, die für eine evidenzbasierte Sozialpolitik wichtig wären, fehlinterpretiert oder gar absichtlich beiseitegelassen. Der Gegenentwurf dazu besteht in einer alters- und alternsgerechten Politik sozialer Sicherung, die im Folgenden kurz illustriert werden soll.
Soziale Sicherung muss alters- und alternsgerecht sein
„Alter“ spielt für die Sozialpolitik in Deutschland in mehrfacher Hinsicht eine entscheidende Rolle:
- Erstens sind Risiken des Älterwerdens versichert (Alterssicherung durch Rente, aber auch Versicherung gegen Krankheits-, Pflege-, Unfallrisiken).
- Zweitens basieren Sozialleistungen auf dem sogenannten Generationenvertrag (mittelalte Erwerbstätige erwirtschaften Ressourcen unter anderem für Ruheständler und minderjährige Personen).
- Drittens orientiert sich Sozialpolitik dezidiert am institutionalisierten Standard-Normallebenslauf und honoriert, wenn dieser regelrecht durchlaufen wird (zum Beispiel werden Anwartschaften sozialer Sicherung durch Erwerbsarbeit erworben) beziehungsweise glättet Übergänge und Passagen (etwa bei Übergangsproblemen an der Schnittstelle Ausbildung – Beruf etc.).
- Viertens orientiert sich Sozialpolitik dezidiert an spezifischen Lebensphasen beziehungsweise Lebensbereichen, wie sich etwa in den spezifischen Teil- und Trägersystemen der Kinder- und Jugendhilfe, der Arbeitslosenhilfe, der Alterssicherung etc. zeigt.
Alter, Altern und Lebensphasen spielen insofern eine zentrale Rolle im System sozialer Sicherung. Dabei gilt, dass alle Menschen (üblicherweise) irgendwann in ihrem Leben einmal zu jeder Altersgruppe gehören beziehungsweise jede Lebensphase durchlaufen – und damit prinzipiell sowohl Leistungen sozialer Sicherung erwirtschaften als auch davon profitieren.
Vor diesem Hintergrund ist für die Gestaltung von Sozialpolitik (als Governance sozialer Sicherungssysteme) bedeutsam, in Rechnung zu stellen, dass sich Menschen in Abhängigkeit von ihrem Lebensalter sowie durch Sachzwänge und äußere Umstände verändern – so etwa in Bezug auf Einstellungen oder die Verfügbarkeit von Ressourcen. Das sind sogenannte Alters- und Periodeneffekte. Berücksichtigt Sozialpolitik solche Effekte, gelingt sie und ist dann vor allem lebensphasenübergreifend und lebenslaufbegleitend – und nicht ausschließlich lebensphasen- beziehungsweise altersgruppenzentriert, wie die Volkswirtin Ute Klammer und der Sozialwissenschaftler Antonio Brettschneider herausstellen.
Zwar versichert die Soziale Sicherung gesellschaftliche Risiken und besitzt üblicherweise ausgleichenden Charakter. Ein idealerweise alters- und alternsgerechtes Sicherungssystem würde jedoch nicht nur den Bedarfen (Nach-)Sorge tragen, die mit ihrem realen Alter verknüpft sind. Vielmehr bedeutet es, Ressourcen bereitzustellen, die es erlauben, dass Menschen in Lebenswelten[1] altern können, mithin: Vorsorge darüber getroffen wird, dass bestimmte Risiken vermieden werden.
Illustrieren lässt sich das zum Beispiel anhand der Lebenswelt im Betrieb.
Alternsgerechte Arbeitsgestaltung & Prävention im Betrieb
Die Soziale Sicherung in Deutschland ist vor allem an Erwerbstätigkeit geknüpft. Regelrechte Maßgaben gewährleisten die Teilhabe an Erwerbsarbeit sowie die (Wieder-)Eingliederung, um die Existenz selbstständig zu sichern. Erwerbsarbeit ist üblicherweise nicht-selbstständig und wird üblicherweise in Betrieben verrichtet. Damit ist in hohem Maße von sozialpolitischer Bedeutung, wie Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen vor Ort gestaltet werden.
So ist etwa für den Erhalt von Beschäftigungsfähigkeit entscheidend, ob und wie stark Menschen in Arbeit belastet werden, welche Möglichkeiten der Einflussnahme und Mitsprache bestehen oder auch in welcher Weise Sinn in Arbeit erfahren wird. Je besser die Beschäftigungsfähigkeit aller erhalten werden kann, desto stabiler sind Erwerbsteilhabe und damit die Aufrechterhaltung der Systeme sozialer Sicherung gewährleistet.
Dafür bedarf es einer alters- und alternsgerechte Arbeitsgestaltung, die wiederum auf gut belegten Befunden und empirischer Evidenz der Arbeits- und Gesundheitsforschung basiert. Diese hat unter anderem zutage gefördert, dass
- Leistungskurven nach Alter schwanken können. Wie belastbar Menschen sind, hängt nicht nur von der individuellen Disposition ab, sondern auch von der bisherigen Belastung im Erwerbsverlauf: Mit fortschreitendem Alter summieren sich arbeitsbedingte Belastungen, gegebenenfalls auch Schlafdefizite etc. auf und münden in einer verminderten Widerstandskraft im Alter. Das weist darum hin, dass es einen Bedarf nach Prävention und Reduktion arbeitsbezogener Belastungen von Beginn an gibt, wofür etwa Ernst Kistler, Markus Holler und Daniela Schneider vom Internationalen Institut für Empirische Sozialökonomie plädieren.
- Zeitpräferenzen und -verfügbarkeiten nach Alter variieren. Typisch ist, dass Zeitbedarfe für häusliche Sorgearbeit und die Betreuung von Familienmitgliedern in einem mittleren Lebensalter zunehmen, weil in diesem Abschnitt typischerweise Familien gegründet werden. Zugleich nehmen historisch bedingt durch technischen Fortschritt die Möglichkeiten der Arbeitszeitverkürzung zu. Das weist auf soziale Bedarfe nach Zeitautonomie und Flexibilität in der Arbeitszeitgestaltung hin, wie die Arbeitszeitbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin nahelegt.
- sich Fähigkeiten mit dem Alter verändern. Gut belegt ist etwa, dass sich mit fortschreitendem Alter Erfahrungswissen und arbeitsspezifisches Know-how anreichern, während die Fähigkeit, schnell auf neue Situationen zu reagieren und sich daran anzupassen, tendenziell abnimmt. Das weist unter anderem auf den Bedarf hin, Aufgaben in der Arbeitsgestaltung adäquat zu verteilen, so an anderer Stelle ebenfalls die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
Diese exemplarische Auswahl zeigt, wie fundamental wichtig es ist, die empirische Evidenz zu berücksichtigen, will man die soziale Sicherung fundiert und differenziert gestalten. Das betrifft die Arbeitsgestaltung, die Ergonomie und auch die Prävention im Betrieb. Alters- und alternsgerechte Arbeitsbedingungen eignen sich insofern, um die Beschäftigungsfähigkeit lebenslaufbegleitend zu erhalten und Überlastungsrisiken zu reduzieren.
Gänzlich ungeeignet hingegen sind Pauschallösungen, wie zum Beispiel eine Ausweitung und Verlängerung von Arbeitszeiten. So sind (über-)lange Arbeitszeiten hoch problematisch, weil sie zu verminderter Produktivität und Konzentration führen, das Risiko für Unfälle am Arbeitsplatz oder auf dem Weg nach Hause erhöhen, höhere und längere Krankenstände bedingen, die Aufteilung von Sorgearbeiten und die Geschlechtergleichstellung erschweren und nicht zuletzt unattraktiv auf Fachkräfte wirken.
Bereits in jungen Jahren können überlange Arbeitszeiten die Leistungsfähigkeit nachhaltig beschädigen und im Alter erst recht zu einem belastungsinduzierten Drop-Out von Arbeitskraft führen. Das heißt: Durch die jahrelange Anhäufung von Belastungen fallen Beschäftigte aus, werden frühverrentet oder landen in der Erwerbsminderungsrente. Drop-Outs wirken der beschäftigungspolitischen Strategie entgegen, die Erwerbsbeteiligung im Alter zu erhöhen, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Entsprechend legen wissenschaftliche Befunde regelmäßig nahe, die Tages- bzw. Wochenarbeitszeit zu reduzieren – oder aber zumindest Arbeitszeitmodelle einzuführen, die individuelle Wahl- und Mitsprachemöglichkeiten eröffnen. Das würde nicht nur bedeuten, dass Beschäftigte je nach individueller Lebensphase und den darin zur Verfügung stehenden Ressourcen tätig sein könnten. Eine entsprechende Arbeitszeitgestaltung ist auch ein wichtiger Beitrag zur Prävention im Betrieb: Beschäftigte müssten nicht vorzeitig – etwa bedingt durch körperlichen Verschleiß oder kumulierte Belastungen – aus dem Erwerbsleben austreten.
Insofern ist die präventive Sozialpolitik in der Lebenswelt „Betrieb“ lebenslaufbegleitend, weil jüngere Beschäftigte ebenso gesunder Arbeitsbedingungen bedürfen. Auch wenn sie zunächst (noch) belastbarer erscheinen als ältere Beschäftigte und vermeintlich höhere Belastungen aushalten können, zeigen sich dysfunktionale Effekte spätestens im Alter. Das bedeutet auch, dass finanzielle Anreize für hoch belastende Tätigkeiten – wie etwa im Schicht- oder Nachtdienst – nicht die Prävention ersetzen dürfen.
Sozialversicherungsträger aus der Renten-, Kranken- und Unfallversicherung sind schon heute dazu angehalten – auch auf Basis des Präventionsgesetzes – Präventionsmaßnahmen in Betrieben zu stärken und zu begleiten beziehungsweise diese zu überwachen und dazu zu beraten. Insgesamt sind die Gesundheitskonzepte im betrieblichen Alltag jedoch noch immer nur unzureichend umgesetzt – angefangen bei Gefährdungsbeurteilungen bis hin zu Konzepten gesundheitsförderlicher Führung. Entsprechende Beratungs- und Vorsorgeleistungen der Kassen müssen weiter ausgebaut und auch in Anspruch genommen werden.
Untersuchungen des Spitzenverbandes der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung zeigen, wie sinnvoll die Prävention allein aus betrieblichem Interesse ist. Investitionen in Prävention zahlen sich mehr als doppelt aus. Das betrifft etwa die Wiedereingliederung, um einmal erkrankte Beschäftigte gewinnbringend in Erwerbsarbeit sowie den Arbeitsplatz vor Ort zu reintegrieren. Auf diese Weise lassen sich nicht nur Beschäftigungspotenziale heben, sondern auch Wissensabfluss und das Abwandern von Fachkräften vermeiden.
Wissenschaftliche Evidenz statt sozialpolitischer Mythen
Die Alter, Alters- und Alternsgerechtigkeit der Sozialpolitik ist von großer Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft. Sie kann funktionieren, wenn man zum Beispiel die gut belegten Befunde der Arbeits- und Gesundheitsforschung berücksichtigt. Eine solchermaßen „vorbeugende Sozialpolitik“ stellt keine punktuelle, sondern eine kontinuierliche und lebenslaufbegleitende soziale Sicherung in den Mittelpunkt. Das Beispiel der alters- und alternsgerechten Arbeitsgestaltung verdeutlicht, wie relevant die Vorsorge und wie groß das Potenzial ist, soziale Sicherungssysteme zu gestalten – das gilt sogar auf einer sehr nachgeordneten Ebene wie des Betriebs oder Arbeitsplatzes.
Problematisch demgegenüber ist, wenn einfache Mythen zur Basis sozialpolitischer Entscheidungen werden und bestenfalls in substanzlosen, schlimmstenfalls in gefährlichen Schlussfolgerungen münden. Auf lange Sicht kann die Ignoranz gegenüber Alters- und Periodeneffekten in der Arbeitsgestaltung – mit ursächlich für hohe Krankenstände und eine beeinträchtigte Beschäftigungsfähigkeit – die Sozialsysteme über Gebühren belasten und sie nachhaltig ins Wanken bringen.
Es hilft daher, über Mythen der Sozialpolitik mithilfe wissenschaftlicher Evidenzen aufzuklären, um die soziale Sicherung klüger zu gestalten. Die Daten und Befunde dafür sind vorhanden.
-------------