Das Sozialgesetz neu schreiben – oder weiter drauf los regulieren?
Wir brauchen ein gemeinverständliches Gesundheitsrecht statt überbordender Gesetzestexte, die nur noch ein paar Experten verstehen. Hartmut Reiners Gedanken helfen bei einer Reform des Gesundheitswesens.
Dieser Artikel erscheint zu Ehren unseres Autors und Gesundheitsexperten Hartmut Reiners, der in dieser Woche seinen 80. Geburtstag feiert.
Der MAKROSKOP-Autor Hartmut Reiners und ich hatten uns 2015 auf Bitten eines renommierten Verlags bereitgefunden, ein Buch über Geschichte, Intentionen und Konfliktlinien der Gesundheitsreformen in Deutschland zu schreiben. In diesem Buch entlarven wir die Illusion von der einen großen Gesundheitsreform, die ein- und für allemal sämtliche Probleme des deutschen Gesundheitswesens löst.
Hingegen bedarf das komplizierte und bisweilen auch komplexe Gesundheitssystem einer permanenten Anpassung an sozio-ökonomische Veränderungen und neue medizinisch-technologischen Möglichkeiten. Schritt für Schritt sollten die wichtigsten Baustellen bei Versicherung und Versorgung abgearbeitet werden.
Priorität hatte und hat die Überwindung der weltweit ziemlich einmaligen Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung. Statt einer intransparenten Vielzahl von Sonderregelungen zwischen den Versorgungssilos sollte es eine generelle, integrierte Versorgungssteuerung geben. Hierzu haben wir eine übergreifende Planung der Kapazitäten über Versorgungsaufträge, die Schaffung eines einheitlichen Vergütungssystems für fachärztliche Leistungen unabhängig vom Ort der Versorgung und eine einheitliche Qualitätssicherung als Basis eines Value based Care-Konzepts vorgeschlagen – also ein neuer Ansatz, der Nutzen und Wert einer Leistung angemessen berücksichtigt.
Wir haben aufgezeigt, warum wir die Existenz von gesetzlicher und privater Krankenversicherung nicht für die Grundlage eines effizienz- und qualitätssteigernden Systemwettbewerbs halten, aber uns keine Illusionen machen, dass auf absehbare Zeit politische Mehrheiten für die Einführung einer Bürgerversicherung zu erwarten seien. Aber auch hier sind praktische Schritte – wie die Einführung der Wahlfreiheit zwischen Beihilfe und Arbeitgeberzuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung für Beamte – denkbar, wie sie schon in mehreren Bundesländern vollzogen wurden.
Ein halbes Jahrzehnt später hatten wir die Gelegenheit, in einer Expertengruppe der Robert Bosch Stiftung mitzuarbeiten. Diese Arbeitsgruppe hat unter großer Beachtung der Öffentlichkeit einen „Neustart für das Gesundheitsrecht“ gefordert und einen mehr als hundert Seiten starken Handlungskatalog für Politik sowie Selbstverwaltung von Krankenkasse, Ärzten Zahnärzten, Psychotherapeuten und Krankenhäusern arbeitet.
Dieser Neustart sollte dem Gesundheitsrecht eine neue Werte- und Zielorientierung geben, die Patienten in den Mittelpunkt der Versorgung rückt und internationale Entwicklungen und Verpflichtungen berücksichtigt. Besonderen Augenmerk richtete die Arbeitsgruppe bisher auf weniger beachteten Themen wie die regionale Steuerung des Versorgungsgeschehens, die digitale Transformation des Gesundheitswesens oder die nachhaltige Absicherung des Risikos Pflegebedürftigkeit.
Erst in der letzten Woche griff der Dachverband der Betrieblichen Krankenkassen in seinem gesundheitspolitischen Aufgabenheft die Themen für die nächste Legislaturperiode „Neu machen! #reboot GKV“ auf. Seine Forderung lautet: Das Sozialgesetzbuch muss neu geschrieben werden. Die bisherigen Reformen doktorten nur an Symptomen herum.
Das Sozialgesetzbuch (SGB) werde immer detaillierter und komplizierter. Allein das SGB V - Gesetzliche Krankenversicherung ist heute dreimal so dick wie bei seinem Inkrafttreten am 1. Januar 1989. Nur noch wenige Spezialisten könnten dieses Recht verstehen. Die unendliche Regelungswut ersticke jeder Verbesserung im Keim.
Gesetzgebung auf dem Flur
Ja, was denn nun? fragen kritische Wegbegleiter. Verlassen die Expertengruppen der Robert Bosch Stiftung und andere den pragmatischen Weg über inkrementelle Reformschritte? Wollen sie jetzt doch die eine allumfassende Lösung?
Ja und nein. Das Sozialgesetzbuch mit 13 Einzelgesetzen und speziell die fünf für die Kranken- und Pflegeversicherung relevanten Bücher (SGB I, IV, V, IX und XI) erscheint als antiquiert, bürokratisch und intransparent. Sie enthalten krasse Beispiele für Überregulierung, die fast zwangsläufig zu Fehlsteuerungen führen. Wer sich in den Irrsinn des Gesundheitswesens begeben möchte, dem empfehle ich die Lektüre der §§ 85 ff. SGB V, die die Einzelheiten der Honorierung ambulanter ärztlicher Leistungen regulieren. Diese Vorschriften versteht fast niemand mehr.
Das gilt auch für die Neuregelung der Vergütung stationärer Leistungen im Krankenhausversorgungsgesetz und erst recht für das „Gute Herz-Gesetz“, dem der vorzeitige Koalitionsbruch glücklicherweise den Garaus gemacht hat. Schon der Name des Gesetzes bestätigt den Satz von Karl Kraus „Krause Sprache verrät krause Gedanken“.
Doch weder Zeit noch Ressourcen sind vorhanden, ein gewaltiges Projekt zur Modernisierung des Sozialrechts zu starten. Der Verfasser dieses Textes hat selbst Mitte der achtziger Jahre aktiv im damaligen Bundesministerium für Arbeit an den Vorarbeiten für das SGB V mitgewirkt und kennt die Mühen sorgfältiger Gesetzesvorbereitung. Große Gesetze in der deutschen Rechtsgeschichte wie das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1900, die legendäre Reichsversicherungsordnung (RVO) aus dem Jahr 1911 – sie hat fast 90 Jahre über Kriege und Revolutionen hinweg gegolten – oder eben das sukzessiv seit 1976 in Kraft getretene Sozialgesetzbuch, sind das Ergebnis jahrelanger Arbeiten und der kontroversen Diskussion von Vorentwürfen.
Von der heutigen Praxis, Entwürfe nach den Tweets von Ministern oder Verlautbarungen von Abgeordneten fast über Nacht zu fertigen und mehr Änderungsanträge als Gesetzesbestimmungen in hektischen Tagen im zuständigen Bundestagsausschuss zu beschließen, darf man kaum erwarten, dass daraus eine verständliche, bürgernahe Regulierung entsteht, die frei von oder zumindest arm an Regelungslücken und Widersprüchen ist. Eine solche „Gesetzgebung auf dem Flur“ erodiert das Vertrauen in die Berechenbarkeit der Politik und in die Verbindlichkeit der Gesetze. Kein Wunder, dass einzelne Akteure Gesetze für „unverbindliche Empfehlungen des Ministers“ halten.
Hartmut Reiners und mein Anliegen ist es deshalb, einen spürbaren Kurswechsel bei der Regulierung zu bewirken. Der künftige Kurs sollte in eine regulatorische Zurückhaltung und legislative Selbstbeschränkung führen. Gute Gesetze sollten keine Details regeln, sondern generell-abstrakt Spielräume für Rechtssicherheit auch unter sich ändernden Bedingungen schaffen.
Wo bleibt der Einfluss des Justizministeriums, um qualitativ hochwertige Gesetze zu gewährleisten? Warum wird die Bundestagspräsidentin nicht noch deutlicher, um eine ausreichende Beratung im Plenum und in den Ausschüssen zu gewährleisten? Minister bedienen sich zunehmend der Tonnenideologie[1], um die Arbeitsergebnisse in positivem Licht scheinen zu lassen. Dabei werden die besten Gesetze ohne Lärmen verabschiedet, von den Akteuren positiv und im Konsens umgesetzt und weisen möglichst objektiv messbare Ergebnisse auf.
Reiners Wert für eine Reform des Gesundheitswesens
Konkret heißt das für das Gesundheitswesen: Der Gesetzgeber sollte mehr ordnungspolitische Klarheit schaffen. Es ist das bleibende Verdienst von Hartmut Reiners, schon 1987 die Ausrichtung der „Ordnungspolitik im Gesundheitswesen“ untersucht zu haben.
Reiners unterscheidet grundsätzlich die Steuerung über staatliche Vorgaben und administrative Direktive, über Selbstverwaltung und Kollektivverträge sowie über Markt und Wettbewerb. In keinem Gesundheitssystem findet sich die eine spezifische Ausgestaltung, sondern ein ordnungspolitischer Mix aus unterschiedlichen Ansätzen. Die Kunst kluger Gesetzgebung besteht darin, die Kombination widerspruchsarm und in sich kohärent auszugestalten. Vor allem kommt es darauf an, dass Aufgabenübertragung und (finanzielle) Verantwortung übereinstimmen.
In einem System von Wahlfreiheit und Wettbewerb müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen Anreize zu Risikoselektion[2] und Ressourcenverschwendung minimieren. Daher ist es wenig verwunderlich, dass Reiners sich stets für einen kassenartenübergreifenden Risikostrukturausgleich ausgesprochen hat und gegenüber Vertragswettbewerb zwischen Krankenkassen sehr skeptisch ist. Dazu hat sicherlich auch beigetragen, dass Reiners seine letzte Arbeitsphase im strukturschwachen Brandenburg erlebt hat. Dort gebe es weder auf der Kassenseite noch auf der Seite der Leistungserbringer eine relevante Zahl an geeigneten Wettbewerbern.
Zeit seines Berufslebens hat sich Hartmut Reiners besonders für eine funktionsfähige Selbstverwaltung eingesetzt. Das gilt sowohl für die soziale Selbstverwaltung von Versicherten und Arbeitgebern als auch für die sogenannte gemeinsame Selbstverwaltung von Krankenkassen und Leistungserbringern. Er steht der Entkernung dieser Selbstverwaltung durch Überregulierung sehr skeptisch gegenüber.
Trotz oder gerade wegen seiner Beamtentätigkeit in den Gesundheitsministerien von Nordrhein-Westfalen und Brandenburg lehnt er es ab, die Krankenkassen, Ärztliche Vereinigungen, Krankenhäuser, Kammern und Verbände durch eine Überdehnung der Rechtsaufsicht zu gängeln. Wenn der Staat direkte administrative Verantwortung – wie bei der Krankenhausplanung und der daraus abgeleiteten Sicherung der Investitionsfinanzierung – übernehmen (müsse), dann müsse er auch für ausreichend Personal und Finanzmittel sorgen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass dies heute flächendeckend nicht der Fall ist.
Reiners ist sich bewusst, dass ökonomische Anreize zur Steuerung des Gesundheitswesens begrenzt sind. Er misst den sozialen Werten, den Zielen und der kulturellen Einbindung des Gesundheitswesens eine ebenso große Bedeutung zu, wie der professionellen Ethik von Gesundheitsberufen. Diese haben beträchtliche Auswirkungen auf einen patientenzentrierten Umbau der Versorgungsstrukturen und einen ressourcenschonenden Umgang mit finanziellen Mitteln.
In jüngster Zeit beschäftigt sich Reiners mit dem Einfluss der sozialen Ideengeschichte und speziell der Idee des Sozialstaats, die Helmut Schmidt einmal „den größten Beitrag Deutschlands zur Geschichte des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat. Daher drehen sich unsere Diskussionen im Berliner Traditionslokal Zwiebelfisch immer wieder um die Rolle des Rechts im Gesundheitswesen.
Wir sind uns einig, dass das Gesundheitsrecht immer stärker vom sozialen Ausgleichsinstrument zum lenkenden Instrument einer umfassenden Daseinsvorsorge wird. Der Kölner Verfassungsrechtler Stephan Rixen hat die Debatte in seiner Habilitation aus dem Jahr 2004 mit der Darstellung von „Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht“ angestoßen. Wir sollten sie jetzt weiterführen.
Mehr Demokratie wagen – auch im Sozialrecht
Last but not least ist es für die positive Erneuerung des Gesundheitswesens wichtig, der Kultur des tiefen Misstrauens gegenüber allen Akteuren des Gesundheitswesens – die speziell der gegenwärtige Bundesgesundheitsminister immer wieder zum gegenüber den Institutionen des Gesundheitsweisen zum Ausdruck bringt – eine des bewussten Ermöglichens entgegensetzen. Das heißt: weniger Aufsicht, größere Handlungsspielräume, mehr Differenzierung und mehr Diversität. Dann ließen sich viele Detailregelungen streichen oder vereinfachen.
So könnte man das SGB wieder auf ein verständliches Taschenbuchformat reduzieren und gleichzeitig dem zentralen Ziel des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt gerecht werden, wie er es in seiner berühmten Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 äußerte: „Mehr Demokratie wagen“. In seinem Sinne wäre es, ein für alle Bürgerinnen und Bürger transparentes und verständliches Sozialrecht zu schaffen.
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