Gerade könnte die NATO keinen Krieg gegen Russland gewinnen
Stärkt oder schwächt die NATO die Aussichten auf einen dauerhaften Frieden? Gedanken eines pensionierten Kommodores der britischen Royal Navy.
Im Jahr 2024 äußerte der ehemalige US-Verteidigungsminister Lloyd Austin in einer Rede einen im Westen weit verbreiteten Glauben: „Die NATO ist das mächtigste und erfolgreichste Bündnis der Geschichte.“ Doch nur zwei Jahre zuvor, 2022, wurde die NATO nach einem 15-jährigen Feldzug von den Taliban besiegt – einer zusammengewürfelten Gruppe schlecht bewaffneter Aufständischer.
Wie passen die demütigende Niederlage der NATO und Austins Ansicht zusammen?
Vorneweg: Natürlich war die NATO nie das mächtigste Militärbündnis der Geschichte. Diese Auszeichnung gebührt den Alliierten des zweiten Weltkrieges – den USA, Russland, Großbritannien und den Commonwealth-Staaten. Dennoch hat die NATO nach 1945 ihre Aufgaben erfüllt, und das gut. Diejenigen von uns, die ihr gedient haben, waren stolz darauf.
Seit dem Fall der Berliner Mauer ist ihre Bilanz jedoch getrübt. Befriedigend im Kosovo, erniedrigend in Afghanistan. Und in der Ukraine droht das strategische Scheitern. Wie sicher ist es, dass die NATO das demokratische Europa vor einem angeblich expansionistischen Russland verteidigen kann, und zwar im Weltuntergangsszenario eines konventionellen NATO-Russland-Krieges?
Dieses Szenario ist der beste Weg, um dieser Frage nachzugehen. „Amateure sprechen über Taktik, Profis studieren Logistik“, lautet ein berühmtes Zitat; deswegen muss unsere strategische Analyse ganz hinten in den logistischen Rückzugsgebieten der NATO beginnen und sich dann bis zu einer zukünftigen Kampflinie auf dem europäischen Kontinent vorarbeiten.
Keine größere NATO-Nation ist industriell für den Krieg mobilisiert
Erstens ist im Gegensatz zu Russland keine größere NATO-Nation industriell für den Krieg mobilisiert. So übertrifft Russland die NATO noch immer bei der Produktion von 155-mm-Granaten für die Ukraine. Dem wäre übrigens nicht so, würde die NATO wirklich glauben, dass Russland plant, sich weitere Teile Europas einzuverleiben. In diesem Fall würden wir alle schnell mobilisieren.
Aber noch wichtiger ist die Frage: Wäre die NATO überhaupt in der Lage, so schnell und in so großem Umfang zu mobilisieren, dass sie die nötige Ausrüstung, Munition und Truppen aufbringen könnte, um es mit Russland aufzunehmen? Das ist in der Tat fraglich. Und es ginge schon gar nicht ohne einen langfristigen Aufbau von Kapazitäten, der damit jedoch gleichzeitig die Absichten des Militärbündnisses signalisieren würde. Dabei geht es nicht nur um verlorenes industrielles Potenzial, sondern auch um die Finanzierung. Von den größten NATO-Staaten hat nur Deutschland eine Schuldenquote von unter 100 Prozent.
Zweitens müssten die US-Streitkräfte in einem großen Umfang in Kontinentaleuropa stationiert werden, um auch nur die geringste Chance auf Erfolg in diesem Weltuntergangsszenario zu haben. Selbst wenn die US-Armee in der erforderlichen Größe aufgestellt würde – mit einer Aufstellung von 473.000 Soldaten im Jahr 2023, was weniger als einem Drittel der derzeitigen russischen Armee entspricht, ist dies nicht der Fall – müsste der überwiegende Teil der amerikanischen Ausrüstung und Logistik auf dem Seeweg transportiert werden.
Dort wären sie russischen, von U-Booten abgefeuerte Torpedos und Minen ausgesetzt. Als ehemaliger Spezialist für Unterwasserkriegsführung glaube ich nicht, dass die NATO derzeit über die erforderlichen U-Boot-Abwehr- oder Minenkriegsführungskräfte verfügt, um die europäischen Seewege zu schützen.
In der Folge wären diese Streitkräfte auch nicht in der Lage, die Kohlenwasserstoffimporte Europas, insbesondere Öl und Flüssiggas, die für das wirtschaftliche Überleben Europas von entscheidender Bedeutung sind, erfolgreich zu schützen. Verluste aufgrund der Verwundbarkeit bei der Versorgung auf dem Seeweg würden nicht nur die militärische Produktion beeinträchtigen, sondern auch die Bürger innerhalb der NATO-Bündnisstaaten in immer größere wirtschaftliche Not bringen. Steigende Preise und Energieknappheit würden bei einem Kriegsausbruch den politischen Druck, sich zu einigen, rasch erhöhen.
Drittens wären unsere Flughäfen, Seehäfen, Ausbildungs- und Logistikstützpunkte Angriffen mit konventionellen ballistischen Raketen ausgesetzt, gegen die wir nur über äußerst begrenzte Verteidigungsmöglichkeiten verfügen. Tatsächlich gibt es gegen die Oreshnik-Raketen gar keine Verteidigung.
Eine Oreshnik-Rakete, die mit Mach 10+ eintrifft, würde eine NATO-Waffenfabrik oder einen Marine-, Armee- und Luftwaffenstützpunkt verwüsten. Wie in der Ukraine würde Russlands ballistische Kampagne auch unsere Transport-, Logistik- und Energieinfrastruktur ins Visier nehmen. Im Jahr 2003, als ich für die Planungsstäbe des britischen Verteidigungsministeriums arbeitete, deutete unsere Bedrohungsanalyse nach dem 11. September darauf hin, dass ein erfolgreicher Angriff auf ein Flüssiggasterminal wie Milford Haven, Rotterdam oder Barcelona ähnlich Desaströs wäre wie eine kleine Atombombe. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Schockwellen würden sich rasch über den europäischen Kontinent ausbreiten, der inzwischen zunehmend von Flüssiggas abhängig ist.
Viertens sind die Streitkräfte der NATO-Staaten im Gegensatz zu denen Russlands ein heterogener Haufen. Meine eigenen Erfahrungen, die ich bei der Leitung des Offshore-Trainings aller europäischen Kriegsschiffe beim Flag Officer Sea Training in Plymouth und später bei der Zusammenarbeit mit NATO-Streitkräften in Afghanistan gemacht habe: alle NATO-Streitkräfte waren zwar außergewöhnlich enthusiastisch, wiesen aber sehr unterschiedliche technologische Fortschritte und Ausbildungsniveaus auf.
In der heutigen Zeit vielleicht noch wichtiger ist, dass unsere Streitkräfte, abgesehen von einer Handvoll NATO-Ausbildern, die in der Ukraine stationiert sind, nach einer „Manöver-Doktrin“ vor dem Einsatz von Drohnen ausgebildet werden und keine praktische Erfahrung mit modernen Peer-to-Peer-Kämpfen haben. Die russische Armee hingegen verfügt inzwischen über fast drei Jahre Erfahrung und ist zweifellos die kampferprobteste der Welt.
Die NATO hat keine Strategie
Fünftens ist das Entscheidungssystem der NATO schwerfällig, da es durch die Notwendigkeit einer ständigen Kommunikation zwischen dem Obersten Hauptquartier der Alliierten Mächte Europa und den nationalen Hauptstädten behindert wird – eine Komplexität, die sich mit der Aufnahme jeder weiteren Nation verschlechtert.
Schlimmer noch, die NATO ist nicht in der Lage, eine Strategie zu entwickeln. Kurz nach meiner Ankunft in Afghanistan im Jahr 2007 stellte ich schockiert fest, dass eine Feldzugsstrategie völlig fehlte. Im Jahr 2022 war die Allianz trotz zahlreicher russischer Warnungen, dass die NATO-Ost-Erweiterung eine rote Linie darstelle, strategisch völlig unvorbereitet auf die offensichtliche Möglichkeit eines Kriegsausbruchs. Das zeigt sich erneut in unserer Unfähigkeit, mit der russischen 155-mm-Granatenproduktion mitzuhalten.
Selbst jetzt, im Jahr 2025, ist die Ukraine-Strategie der NATO undurchsichtig und lässt sich vielleicht am besten als „double-down and hope“ zusammenfassen.
Alles in allem lässt sich sagen, dass sich die NATO als Verteidiger Europas positioniert, jedoch nicht über die industrielle Kapazität verfügt, um einen Krieg gegen einen ebenbürtigen Gegner zu führen. Sie ist vollständig von den US-Streitkräften abhängig, um auch nur die geringste Erfolgschance zu haben. Sie ist nicht in der Lage ist, ihre Seewege gegen russische U-Boote oder ihre Ausbildungs- und Industrieinfrastruktur gegen strategische ballistische Bombardierungen zufriedenstellend zu verteidigen. Sie besteht aus einer bunten Mischung kampf-unerfahrener konventioneller Streitkräfte und verfügt nicht über die Kompetenz, strategisch zu denken und zu handeln.
Unsere größten strategischen Denker wurden ignoriert
Man kann also keineswegs von einem leichten Sieg der NATO ausgehen, und ich fürchte, dass das Gegenteil viel wahrscheinlicher ist.
Was folgt daraus? Konventionell könnten wir jetzt herausfinden, wie wir die offenkundigen Schwächen beheben können. Strategische Prüfungen zur Aufdeckung der Lücken in unserer Leistungsfähigkeit. Analysen, um herauszufinden, wie die Lücken geschlossen werden können. Konferenzen, um zu entscheiden, wer was tut und wo die Kosten gesenkt werden sollten. Währenddessen wurschteln wir weiter vor uns hin und hoffen, dass die NATO sich in der Ukraine letztendlich durchsetzen wird, trotz aller gegenteiligen Beweise.
Aber ohne die einstimmige Zustimmung der NATO-Staaten zu einer massiven Erhöhung der Militärausgaben können wir froh sein, wenn wir die Defizite innerhalb von zehn Jahren aufholen können, geschweige denn innerhalb von fünf.
Oder wir könnten endlich das Urteil vieler westlicher Realisten in Betracht ziehen, dass die NATO-Erweiterung der Zündstoff für den russisch-ukrainischen Krieg war. Die Russen haben uns immer wieder gewarnt, dass eine solche Erweiterung eine rote Linie darstellt. Dies taten auch einige unserer größten strategischen Denker, angefangen bei George Kennan im Jahr 1996, Henry Kissinger, Jack Matlock, sogar Bill Burns in seinem berühmten diplomatischen Telegramm „Nyet bedeutet Nyet“ und zuletzt John Mearsheimer mit seinen Prognosen aus dem Jahr 2014. Alle wurden ignoriert.
Die Wahrheit ist, dass die NATO heute existiert, um den Bedrohungen zu begegnen, die durch ihre fortgesetzte Existenz entstanden sind. Doch wie unser Szenario zeigt, ist die NATO nicht in der Lage, die primäre Bedrohung zu besiegen, die durch ihre fortgesetzte Existenz entstanden ist.
Vielleicht ist es also an der Zeit, ein ehrliches Gespräch über die Zukunft der NATO zu führen und zwei Fragen zu stellen. Wie kehren wir zu dem nachhaltigen Frieden in Europa zurück, den alle Konfliktparteien anstreben? Ist die NATO das Haupthindernis für diesen nachhaltigen Frieden?
Der Artikel ist eine Übersetzung und erschien zuerst auf responsiblestatecraft.org