Kapitalerträge für Krankenkassen: „Griff in die Taschen der Menschen“?
Als Robert Habeck im Wahlkampf vorschlug, auch mit Kapitalerträgen das Gesundheitssystem zu finanzieren, monierte die Union einen „Griff in die Taschen der Menschen“. Doch stellt sich weniger die Frage, wer finanziell belastet wird, sondern, ob es sozial gerecht und ökonomisch vernünftig ist.
Dieser Artikel erscheint zu Ehren unseres Autors und Gesundheitsexperten Hartmut Reiners, der in dieser Woche seinen 80. Geburtstag feiert.
Demografischer Wandel, medizinischer Fortschritt, versicherungsfremde Leistungen, kostenträchtige Reformvorhaben wie die Krankenhausreform – alle diese Faktoren verursachen steigende Ausgaben der Kranken- und Pflegeversicherung. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes fielen 2023 für die gesetzliche Krankenversicherung und die soziale Pflegeversicherung 337,2 Milliarden Euro an Gesundheitsausgaben an. Für die private Krankenversicherung einschließlich der privaten Pflegeversicherung waren es 41,8 Milliarden Euro. Damit lagen die Ausgaben etwa ein Fünftel über denen des Vor-Coronajahrs 2019.
Zwar kann man auch im Gesundheitswesen Strukturen und Prozesse effizienter gestalten, relevante Rationalisierungsgewinne sind aufgrund des hohen Dienstleistungsanteils dagegen nicht zu erwarten. Daher ist es absehbar, die Kranken- und Pflegeversicherung auch in Zukunft teurer wird. Das Berliner IGES-Institut geht in einer aktuellen Analyse davon aus, dass die Beitragssätze für die gesetzliche Krankenversicherung ohne Eingriffe bis 2035 auf 20 Prozent, die der sozialen Pflegeversicherung auf 4,5 Prozent steigen werden. Zudem fallen in der stationären Pflege derzeit hohe Eigenbeteiligungen an, während pflegende Angehörige einen erheblichen Teil der Pflegekosten auffangen.
Wahlkampf um Gesundheitsausgaben
Angesichts dieser düsteren Aussichten verwundert es nicht, dass sich die Entwicklung der Gesundheitsausgaben – insbesondere die Finanzierungsprobleme in der Kranken- und Pflegeversicherung – in den Bundestagswahlprogrammen praktisch aller Parteien niedergeschlagen hat.
Die Union schreibt beispielsweise zum Ziel „Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung zukunftsfest aufstellen“:
„Dazu streben wir mehr Effizienz beim Einsatz von Beitragsgeldern an und stärken den Wettbewerb der Krankenkassen.“
Die SPD spricht erwartungsgemäß das Thema Gerechtigkeit an:
„Eine gute und sichere gesundheitliche Versorgung darf nicht vom Geldbeutel der Patientinnen und Patienten abhängen, und sie darf die Menschen nicht finanziell überfordern. Wir kämpfen für ein Gesundheitssystem, das gerecht ist – für alle, überall im Land.“
Und weiter:
„Der Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen soll dabei gerechter ausgestaltet werden, und auch die privaten Versicherungen sollen zum Risikostrukturausgleich beitragen. (…) Krankenkassen und private Krankenversicherungen bilden so ein System einer solidarischen Bürgerversicherung aus.“
Die Grünen haben einen Vorschlag in ihrem Wahlprogramm formuliert, wie man die Beitragsbasis durch Heranziehen von Kapitalerträgen und anderen Einkommensarten verbreitern kann:
„Die Beitragsbemessung werden wir reformieren und beispielsweise auch Kapitaleinnahmen zur Finanzierung unseres Gesundheits- und Pflegesystems heranziehen. Damit schützen wir auch Löhne und Gehälter vor höheren Beitragsabgaben.“
Der Passus steht seit Mitte Dezember 2024 im Wahlprogramm der Grünen und findet sich auch in früheren Wahlprogrammen der Partei – bis vor kurzem weitestgehend unbeachtet. CDU-Politiker wie Kai Whittaker oder Markus Reichel haben ebenfalls darüber nachgedacht.
Ungeachtet dessen äußerten Politik, Verbände und Medien umfassende Kritik, als Robert Habeck Mitte Januar dieses Jahres das Thema in der ARD-Sendung Bericht aus Berlin ansprach. In der Union war die Rede von einem „Griff in die Taschen der Menschen“, der designierte FDP-Generalsekretär Buschmann sprach im Bildzeitungsjargon vom „großen Habeck-Klau“ und selbst die SPD hat den Vorschlag als „völlig unausgegoren“ zurückgewiesen. Friedrich Merz warf Habeck zudem vor, er verstehe „volkswirtschaftliche Zusammenhänge“ nicht. Des Weiteren haben viele Seiten moniert, dass Habeck „keine Zahlen“ zu den Details seines Vorschlags lieferte.
Die Kritik bewegt sich damit auf drei Ebenen: Moralisch – Gerechtigkeitsfragen adressierend, ökonomisch – Effizienzfragen adressierend, und organisatorisch – die Ausgestaltung des Vorschlags betreffend.
In der Tat ist unklar, wie die Grünen ihren Vorschlag konkret umsetzen wollen, wer in welcher Weise mit welchen Einkommensarten betroffen sein soll und wie das Zusammenspiel mit anderen Stellschrauben des Systems aussehen soll – etwa mit Freibeträgen, der Beitragsbemessungsgrenze oder dem dualen Versicherungssystem. Ob der Vorschlag der Grünen in relevantem Maße zur Stabilisierung der Finanzen der Krankenkassen beitragen kann, ist ebenfalls unklar. Folglich ist auch offen, inwiefern die moralischen und wirtschaftspolitischen Vorwürfe überhaupt zutreffen – aber im Wahlkampf wird eben erst geschossen und dann gefragt.
Wohlgemerkt richtet sich die Kritik am Grünen Vorschlag nicht per se gegen eine Nutzung der Kapitalmärkte für die Absicherung gesundheitlicher und sozialer Risiken. Das wollen Union und FDP bekanntlich auch – nur ganz anders, nicht zur Unterstützung der gesetzlichen Krankenversicherung und auf keinen Fall durch eine stärkere Belastung der Vermögenden.
Zur Verteidigung gegen die vehemente Kritik haben sich die Grünen vorerst hinter der Grundidee ihres Vorschlags verschanzt und verweisen darauf, dass ein Wahlprogramm kein ausgearbeiteter Gesetzentwurf ist und auch sonst Vorschläge in Wahlprogrammen oft nicht detailliert ausgeführt sind.
Aber sie sind sichtlich in einen kommunikativen Hinterhalt geraten, in dem die offenen Fragen gegen sie gewendet wurden, um jede Form der Umverteilung von Reich zu Arm frühzeitig zu tabuisieren. Ihr Vorschlag kam nicht als „Griff in die Taschen reicher Menschen“ an, sondern konnte als Anschlag auf die Ersparnisse kleiner Leute für die Altersvorsorge dargestellt werden – obwohl Nichtstun bei steigenden Beitragsätzen zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) insbesondere „kleine Leute“ trifft.
Teilweise fiel die Kritik absurd aus, etwa wenn der bayerische Ministerpräsident Markus Söder meinte feststellen zu müssen: „Auf schon einmal versteuertes Geld dürfen keine zusätzlichen Beiträge und Steuern erhoben werden“. Als ob man im Supermarkt – Stichwort Mehrwertsteuer – oder an der Tankstelle – Stichwort Mineralölsteuer – nur mit unversteuertem Schwarzgeld bezahlen würde. Ganz davon abgesehen wäre dann auch die bisherige Praxis rechtswidrig, dass bei freiwillig in der GKV Versicherten heute schon Kapitalerträge und andere Einkunftsarten beitragsrelevant sind. Rechtsgrundlage dafür ist § 240 SGB V – Im Jahr 2008 hat der GKV-Spitzenverband die Details in „Einheitlichen Grundsätzen zur Beitragsbemessung“ geregelt.
Anders als im Umlageverfahren der GKV spielen die Kapitalmärkte im Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherung (PKV) schon immer eine wichtige Rolle. Die PKV stellt jedoch ein privilegiertes Reservat dar, das zudem eine Zweiklassenmedizin verschärft. Die Sozialversicherung soll soziale Ungerechtigkeit nicht verstärken, inwiefern sie allerdings soziale Gerechtigkeit aktiv herstellen soll, ist strittig – im Grunde ist die Aufgabe des Steuersystems.
Perspektive Bürgerversicherung?
Hartmut Reiners hat in seinem letzten Buch Die ökonomische Vernunft der Solidarität (erschienen in der Edition MAKROSKOP) nicht moralisch, sondern ökonomisch für eine solidarische Finanzierung der Sozialversicherung und insbesondere auch der Kranken- und Pflegeversicherung argumentiert.
Im Gesundheitswesen sind die Leistungen im Idealfall durch Krankheit und Pflegebedürftigkeit bestimmt – nicht durch freie Kundenpräferenzen oder unternehmerische Angebote. Das spricht für einen medizinisch definierten Leistungskatalog, der möglichst effizient erbracht wird. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) soll dies befördern.
Die private Krankenversicherung hat keinen solchen Leistungskatalog beziehungsweise lehnt sich weitgehend an die Leistungen der GKV an. Die mit dem dualen System einhergehende Risikoselektion, also die nach Gesundheit und Finanzkraft ungleiche Verteilung der Versicherten zwischen GKV und PKV, trägt zu den Finanzierungsproblemen der GKV bei, zugleich bestehen Anreize für medizinisch nicht notwendige Leistungen in der PKV, die deklariert als „Innovationen“ mitunter eher dem Marketing dienen. Zudem fallen in der PKV, so Reiners, höhere Verwaltungsausgaben als in der GKV an und sie muss Gewinne für die Versicherungsunternehmen erwirtschaften.
Einen Risikostrukturausgleich gibt es bisher nur zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, ebenso einen echten Wettbewerb untereinander, weil der Wechsel zwischen den privaten Versicherungsunternehmen durch Hürden bei der Mitnahme der Altersrückstellungen erschwert ist. Einem versorgungsorientierten Kassenwettbewerb stünde die Bürgerversicherung ohnehin nicht im Wege, solange es mehrere Krankenkassen gibt. Eine Bürgerversicherung könnte, verbunden mit einer Reform der Beitragsbemessungsgrenze, die Beitragssätze um mehr als drei Prozentpunkte senken, woran Hartmut Reiners erst kürzlich auf MAKROSKOP erinnert hat. Für die Betriebe würde das eine Senkung der Lohnkosten für die überwiegende Zahl der Beschäftigten bedeuten.
Vernünftige ökonomische Gründe gibt nicht, das duale Versicherungssystem aufrechtzuerhalten und es ist kein Zufall, dass es eine solche Konstruktion sonst kaum auf der Welt gibt. Noch weniger plausibel ist das duale System bei der Pflegeversicherung, weil hier die Leistungen beider Zweige identisch sind und die oben genannten Selektionseffekte umso deutlicher auf die Finanzbasis der sozialen Pflegeversicherung durchschlagen. Das heißt konkret: Weil sich vorrangig Versicherte in der PKV sammeln, die seltener und weniger umfangreich pflegebedürftig sind, ist die PKV besser finanziell aufgestellt als die die GKV.
So wichtig die Analyse und Beseitigung von Unter-, Über- und Fehlversorgung im Gesundheitswesen ist, so überfällig die bedarfsgerechte Weiterentwicklung der ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen auch unter ökonomischen Gesichtspunkten ist, so wünschenswert der Rückbau kleinteiliger Bürokratie, so unumgänglich der weitere Ausbau der bisher mit vier Prozent Anteil an den Gesundheitsausgaben eher randständigen Prävention: Wer mehr Effizienz bei den Gesundheitsausgaben fordert, sollte der Ineffizienz des dualen Systems nicht ausweichen.
Dass eine Bürgerversicherung kein einfach per Knopfdruck umzusetzendes Projekt wäre, gesteht auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags zu. Ebenso hat die Bürgerversicherung unter den aktuellen politischen Rahmenbedingungen keine Realisierungschance. Die Union lehnt sie strikt ab.
Gefangen im Paradigma der schwäbischen Hausfrau
Der „Griff in die Taschen der Menschen“ wird daher auf absehbare Zeit auch weiter gleichermaßen soziale Ungerechtigkeit verursachen und ökonomisch unvernünftig sein. Deutschland leistet sich Ideologiekosten in erheblichem Umfang.
Der ökonomische Blickwinkel lässt sich noch erweitern, wenn über die Kostenseite hinaus auch die Reproduktionsseite betrachtet wird. Auch hierzu sei Hartmut Reiners mit einem Passus aus seinem oben genannten Buch zitiert:
„Der moderne Sozialstaat ist keine Institution zur Verteilung von Wohltaten, sondern wie das Bildungssystem und das Verkehrswesen eine unverzichtbare Grundlage der ökonomischen Reproduktion. Deshalb kann man seine Leistungen nicht nach dem Rasenmäherprinzip (…) begrenzen, ohne damit den Zusammenhalt der Gesellschaft und die ökonomische Entwicklung zu gefährden. Wir werden uns wegen seiner besonderen Dynamik auf eine weiter wachsende Sozialleistungsquote des BIP einstellen müssen.“
Der Sozialstaat ist ökonomisch gesehen keine Fessel, die zur Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte abzusprengen wäre – „disruptiv“, wie es neuerdings heißt – sondern integraler Teil des volkswirtschaftlichen Reproduktionszusammenhangs. Gesundheitsausgaben können nicht einseitig auf ihren Aufwandscharakter reduziert werden – sie sind grundsätzlich auch wertschöpfend.
Insofern verläuft die aktuelle Diskussion um die Finanzierung des Gesundheitswesens nicht nur moralisch, sondern auch ökonomisch unterkomplex, gefangen im Paradigma der „schwäbischen Hausfrau“, das Angela Merkel einst zur fiskalpolitischen Tugend erhoben hatte – obwohl es volkswirtschaftlich eher ein Symbol ökonomischer Einfalt ist.