Ein Ökonom, der Keynes verstand
Für Hajo Riese war die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen ökonomischen Paradigmen ein Kernpunkt der Erkenntnisgewinnung. Ein Nachruf.
Hajo Riese lehrte und forschte an der Freien Universität Berlin von 1970 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2001. Von 1973 bis 1975 war er Vizepräsident der Freien Universität. Auch nach seiner Pensionierung arbeitete er – vor allem in der Forschung – weiter. Er starb am 25. Januar in diesem Jahr im Alter von 88 Jahren.
Bei Hajo Riese habe ich an der Freien Universität Berlin in den 1970er Jahren Volkswirtschaft studiert und wurde dann bei ihm wissenschaftlicher Mitarbeiter. An meinem ersten Arbeitstag gab mir Barbara Utrecht, seine Sekretärin, den Rat: »Biedere Dich Riese nicht an, das mag er nicht.« Dieser Rat war wichtig, denn Hajo Riese achtete es, wenn man eine eigene Position vertreten hat, wenn man nicht einfach etwas nachplapperte. Dies galt bei gemeinsamen Lehrveranstaltungen ebenso wie bei Diskussionen und Publikationen.
Hajo Riese war erfrischend provokativ und herrlich respektlos auch gegenüber etablierten und etwas arroganten Kollegen. So stellte ihm einmal ein bekannter deutscher Professor in einer Konferenz zweimal die gleiche Frage. Darauf antworte er, es täte ihm leid, aber er könne nicht auf jeden Grenzhörer Rücksicht nehmen. Darauf war der Frager ruhig. Hajo Riese war eine Belebung für jede Konferenz. Er hat nicht nur theoretische Debatten angestoßen, er war auch ein äußerst belebender Gesprächspartner bei Essen oder anderen Gelegenheiten.
Seine Studierenden und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat Hajo Riese immer gefordert, aber auch gefördert. Er war dabei äußerst fair, persönliche Schwächen anderer hat er niemals ausgenutzt. Viele Generationen von Studierenden haben ihn geschätzt und bewundert. Seine Vorlesungen waren voll, in vielen Fällen wurden sie nicht nur von Studierenden besucht, sondern von Forschern aller Art.
Wir verlieren mit Hajo Riese einen Ökonomen, der in theoretischen Debatten, bei der Lehre und auch in seinem persönlichen Umfeld sehr bereichernd war. Er hat viele Menschen entscheidend geprägt, so auch mich. Als er mir nach einer Konferenz, ich war schon über 40 Jahre alt, das "Du" anbot, zusammen mit Albrecht Sommer, einem anderen seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter, erfüllte uns das mit Stolz.
Vor seiner Berufung nach Berlin arbeitete Hajo Riese an bildungsökonomischen Themen. Aber er publizierte auch im Bereich der Entwicklungsökonomie und der Transformation der ehemaligen Planwirtschaften in Marktwirtschaften. Den Prozess der deutschen Vereinigung und der Schaffung der Europäischen Währungsunion begleitete er kritisch und hat jeweils auf die potenziellen ökonomischen Probleme hingewiesen, die sich mit diesen Strukturbrüchen verbanden.
Seine wichtigsten theoretischen Beiträge liegen jedoch im Bereich der Makroökonomie. In diesem Kernbereich der ökonomischen Wissenschaften arbeitete er an der Entwicklung eines neuen ökonomischen Paradigmas in der Tradition von John Maynard Keynes. Er wurde Gründer der »Berliner Schule«, einer monetären Interpretation der Makroökonomie.
Für Hajo Riese war die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen ökonomischen Paradigmen ein Kernpunkt der Erkenntnisgewinnung. Dazu gehörte, so seine Meinung, auch ein tiefes Verständnis der jeweiligen Paradigmen. Die Auseinandersetzung mit dem herrschenden neoklassischen Paradigma in seinen verschiedenen Varianten und die Entwicklung einer grundlegenden Alternative lagen ihm besonders am Herzen. Aber er hatte auch keine Berührungsängste sich mit Marxisten auseinanderzusetzen. Ich erinnere mich an lebhafte Diskussion mit Elmar Altvater, der damals Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität war.
Ein umfassendes Verständnis von Geld und dessen Rolle in einer kapitalistischen Ökonomie gehörte für Hajo Riese zu den Kernelementen einer monetären Makroökonomie. Rigoros abgelehnt wurde von ihm die Neoklassik einschließlich der neoklassischen Interpretation von John Maynard Keynes im Rahmen der sogenannten Neoklassischen Synthese. Alle diese Modelle nehmen eine analytische Zweiteilung in eine reale und monetäre Sphäre vor. In den verschiedenen Varianten wird dann eine langfristige (etwa bei Milton Friedman) oder gar kurzfristige (etwa bei Robert Lucas) Neutralität des Geldes unterstellt. Letztlich bleibt in diesen Modellen Geld ein Schleier, den man wegziehen muss, um die Realökonomie zu erkennen.
Dem neoklassischen Ansatz setzte Hajo Riese den Ansatz einer monetären makroökonomischen Budgetrestriktion gegenüber. Prozesse auf dem Vermögensmarkt beschränken Produktion und Beschäftigung, nicht der Bestand an physischen Ressourcen wie Arbeitskräfte, Hämmer oder Computerkapazitäten. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit war für Hajo Riese, wie für John Maynard Keynes, ein normales Phänomen einer kapitalistischen Ökonomie. Stoßen Produktion und Beschäftigung an physische Kapazitäten, denn gibt es die Gefahr von Inflation. Hajo Riese hat sich nicht gescheut, daraus zu schließen, dass die Zentralbank bei inflationären Entwicklungen die monetäre Budgetrestriktion wieder herstellen muss.
Inflation und Deflation waren für Hajo Riese gefährliche Prozesse der Destabilisierung von Ökonomien. Er war nach dem Zweiten Weltkrieg einer der wenigen Ökonomen, welche das bekannteste Werk von John Maynard Keynes, die Allgemeinen Theorie (1936), als Einheit mit Keynes‘ erstem großen Werk Vom Gelde (1930) begriffen. Dies eröffnete ihm sehr früh ein tiefes Verständnis inflationärer und deflationärer Prozesse und der Rolle von Löhnen in der Ökonomie, die nicht die Beschäftigung zentral bestimmen, sondern das Preisniveau. Er erkannte früh, dass die Geldmenge nicht der Bestimmungsfaktor für Preisniveauänderungen ist, eine Position, die heute fast alle Zentralbanken teilen.
Hajo Riese betonte die Vermögenssicherungsqualität des Geldes, welche für Vermögensbesitzer bei der Entscheidung des Haltens von Geldvermögen von zentraler Bedeutung ist. Für ihn war es selbstverständlich, dass die Wirtschaftspolitik für eine ausreichende Vermögenssicherungsqualität des Geldes sorgen sollte. Anderenfalls droht die Erosion des Geldsystems. Durch diesen Ansatz eröffnet sich der Zugang zur Analyse einer Hierarchie der Währungen und Folgen dieser Hierarchie beispielsweise für Entwicklungsländer mit schwachen Währungen.
Es könnten noch viele andere theoretische Erkenntnisse von Hajo Riese erwähnt werden, jedoch können uns sollten diese in seinen Publikationen gelesen werden.
Ich glaube ich kann für alle seine ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sprechen: Wir verdanken ihm viele wichtige berufliche wie auch private Erfahrungen und wir werden sein Werk und seine Person in guter Erinnerung halten.