"Ohne Sozialstaat funktionieren moderne Gesellschaften nicht"
Staatliche Sozialpolitik ist marktwirtschaftlichen Alternativen überlegen, schreibt der Gesundheitsökonom Hartmut Reiners. In seinem Buch „Die ökonomische Vernunft der Solidarität“ argumentiert er dafür, das öffentliche Sozialwesen wieder zu stärken. Doch der Weg ist steinig.
Das Budget für Sozialpolitik umfasst in Deutschland fast ein Drittel des BIP. Längst beschränkt sie sich nicht mehr nur auf Umverteilung, sondern steuert auch eine wachsende Branche von gesundheitlichen und sozialen Diensten.
Entsprechend argumentiert der Gesundheitsökonom Hartmut Reiners, dass das Sozialversicherungssystem trotz aller Reformbedürftigkeit in seinen Grundzügen eine hohe volkswirtschaftliche Vernunft aufweise. Die Privatisierung der von ihm abgesicherten sozialen Risiken sei nicht nur aus sozialer, sondern auch aus ökonomischer Perspektive gesellschaftlich schädlich. Die Rentenversicherung auf ein privates, kapitalgedecktes System umzustellen, mache die Alterssicherung von den Launen des Finanzmarktes abhängig und sei mit hohen Ausgaben verbunden, die nicht den Versicherten zugutekämen, sondern den Versicherungen und Kapitalfonds.
In seinem Buch „Die ökonomische Vernunft der Solidarität“, erschienen in der Edition MAKROSKOP, fordert Reiners daher ein Ende der Privatisierung in der Sozialpolitik und eine Demokratisierung des Sozialstaats. Mit ihm sprach Malte Kornfeld.
Zur Person
Hartmut Reiners ist Volkswirt, Gesundheitsökonomen und freier Publizist. Er übernahm viele Jahre verantwortliche Positionen im öffentlichen Gesundheitswesen – zunächst im nordrhein-westfälischen und dann im brandenburgischen Gesundheitsministerium. In diesen Funktionen hat er zwischen 1988 und 2009 an wesentlichen Reformen der gesetzlichen Krankenversicherung mitgewirkt.
Herr Reiners, was hat Sie dazu veranlasst, das Buch „Die ökonomische Vernunft der Solidarität“ zu schreiben?
Ich muss immer wieder feststellen, dass auch bei politisch gebildeten Leuten über die Strukturen, Aufgaben und Leistungen unseres Sozialstaats eine große Ahnungslosigkeit herrscht. Ich möchte zum Füllen dieser Wissenslücke beitragen. Daher habe ich bereits vor Jahren ein Buch über „Mythen der Gesundheitspolitik“ geschrieben, in dem populären Irrtümern Fakten gegenübergestellt werden. Diesen Ansatz übertrage ich in meinem neuen Buch auf das Sozialbudget insgesamt.
Was bemängeln Sie an der herrschenden Auseinandersetzung mit der Sozialpolitik?
Seit über vierzig Jahren wird der Sozialstaat sowohl in der öffentlichen Meinung als auch in der ökonomischen Lehre vorrangig durch die betriebswirtschaftliche Brille betrachtet. In dieser ist er vor allem ein Kostenfaktor. Seine Aufgaben werden auf die Versorgung von Schutzbedürftigen reduziert, die sich nicht selber helfen können. Aber darüber geht der moderne Sozialstaat weit hinaus. Er ist ein solidarisches System der Absicherung allgemeiner Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Alterung, Krankheit und Pflegebedürftigkeit.
Schwächt das nicht die Eigenverantwortung? Sollte für diese Risiken nicht jeder selbst vorsorgen?
Man hört und liest ständig Behauptungen, die unseren Sozialstaat diskreditieren. Er sei zu teuer, würde eine Hängemattenmentalität fördern, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beeinträchtigen und die nachwachsenden Generationen benachteiligen. Dafür gibt es keine belastbaren Belege. In meinem Buch zeige ich auf, dass genau das Gegenteil zutrifft. Die von Kritikern des Sozialstaats geforderte Privatisierung würde nicht nur die Spaltung der Gesellschaft vorantreiben, sondern auch die gesamte Wirtschaft teuer zu stehen kommen.
Sie schreiben in ihrem Buch, dass es keine privaten Dienstleister gibt, die Arbeitslosenversicherungen anbieten. Aber die gesetzliche Arbeitslosenversicherung ist Standard. Woher die Diskrepanz?
Arbeitslosigkeit ist ein privat nicht versicherbares Risiko. Seine Faktoren können von den Versicherungen nicht in Prämien kalkuliert werden. Jobs und Branchen, die heute als absolut sicher gelten, können irgendwann wegen neuer Technologien oder veränderter Bedarfe nicht mehr gefragt sein. Dafür gibt es jede Menge Beispiele. Diese Risiken sind mittel- bis langfristig nicht berechenbar. Deshalb bietet die Versicherungswirtschaft auch nur Berufsunfähigkeitsversicherungen an, die an enge Voraussetzungen gebunden sind und eher den Charakter einer Invaliditätsversicherung haben.
Überall hört man, dass die gesetzliche Rentenversicherung keine Zukunft hätte, weil die Altenlast für die Beitragszahler zu groß wird. Was erwidern Sie diesen Pessimisten?
Was ist denn die Alternative? Es ist absoluter Unsinn, dass man mit einer privaten Versicherung die zukünftige Rente bereits heute finanziert hätte und man daher nicht der nachwachsenden Generation zur Last falle. Jede Rentenversicherung, egal ob sie über ein Umlagesystem oder aus den Erträgen eines Kapitalstocks finanziert wird, bietet Anwartschaften auf eine Rente, die in Zukunft erwirtschaftet wird. Einen Geldspeicher gibt es nur in Entenhausen. Die entscheidende Frage ist: Wer kann eine Rentenversicherung für alle Bürgerinnen und Bürger besser gewährleisten, die Altersarmut vermeidet – die Gesetzliche Rentenversicherung oder private Kapitalfonds? Oder anders gefragt: Sollen wir die Renten von der heimischen Wirtschaftskraft abhängig machen oder von den Launen und Interessen der internationalen Finanzwirtschaft?
Die Sozialversicherungen haben einen großen Verwaltungsapparat. Haben private Versicherungen nicht höhere Anreize, dort Kosten zu sparen?
Das ist ein faktenfreie Legende. Die umlagefinanzierte Sozialrente hat einen deutlich geringeren Verwaltungsaufwand als private Fonds. Ein praktisches Beispiel: Der Apparat der Deutschen Rentenversicherung beansprucht 1,6 Prozent des Rentenbudgets. In den Niederlanden tragen kapitalgedeckte Betriebsrenten bei den meisten Rentnern mehr als die Hälfte ihrer Einkommen. Diese Fonds zahlen jährlich eine Rentensumme von über 30 Milliarden Euro aus, führen aber zugleich Provisionen von über acht Milliarden Euro an Finanzgiganten wie Blackrock oder Vanguard ab. Obendrein werden diese Vermögensverwalter kaum kontrolliert. Also landen über 20 Prozent der in den Fonds eingezahlten Gelder nicht bei den Rentnern, sondern auf den Konten der Finanzwirtschaft. Was soll daran ökonomisch vernünftig sein?
Die Leistungsausgaben für die Gesetzlichen Krankenversicherung sind in den letzten Jahren real angestiegen. Trotzdem halten Sie die Gesetzliche Krankenversicherung gegenüber der Privaten Krankenversicherung für überlegen. Warum das?
Die steigenden Kosten im Gesundheitswesen treffen die Private Krankenversicherung genauso wie die Gesetzliche. Beide zahlen für Krankenhausbehandlungen die gleichen Fallpauschalen. Auch die Arzneimittelausgaben unterscheiden sich kaum. Aber in der ambulanten ärztlichen Versorgung sind die Ausgaben der Privaten Krankenversicherung doppelt so hoch wie die der Gesetzlichen, obwohl die gleichen Leistungen erbracht werden. Als Privatpatient bekommt man zwar vor allem in der fachmedizinischen Versorgung meist schneller einen Termin, aber die Behandlung als solche ist nicht besser. Als pensionierter Beamter, der keinen Zugang zur Gesetzlichen Krankenversicherung hat und gezwungenermaßen privat versichert ist, weiß ich, wovon ich hier rede. Sogar die „Wirtschaftsweisen“ haben in einem ihrer Jahresgutachten festgestellt, dass sich unser duales System von Privater und Gesetzlicher Krankenversicherung ökonomisch nicht begründen lässt.
Die Private Pflegeversicherung hat aufgrund eines fehlenden Solidaritätsausgleiches große Rückstellungen akkumuliert. Warum ist die Anhäufung dieser Ersparnisse schlecht für die Wirtschaft?
Dabei handelt sich zwar richtigerweise um Ersparnisse. Doch sind dies gleichzeitig ungenutzte Ressourcen, die der Versorgung pflegebedürftiger Menschen vorenthalten werden. Die Private Pflegeversicherung darf sich nicht zu einem Kapitalfonds mit angeschlossener Pflege entwickeln. Die von den Versicherten gezahlten Beiträge müssen da ankommen, wo sie hingehören: in den Pflegediensten und Pflegeheimen.
Sie meinen, dass Sozialpolitik mehr als nur Politik für Schutzbedürftige und Benachteiligte ist, sondern die ganze Bevölkerung betrifft. Warum ist das so?
Früher waren für alte und kranke Menschen ihre Familien, die Kommunen oder Selbsthilfevereine zuständig. Dieser lokalen Idylle wurde jedoch zunehmend der Boden entzogen. Verantwortlich dafür ist das enorme Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahrzehnte, in dessen Zuge die Mobilität ebenfalls zugenommen hat. Moderne Gesellschaften sind auf allgemeine Sicherungssysteme für die gesamte Erwerbsbevölkerung angewiesen. Seit den 1950er Jahren hat sich der Anteil des Sozialbudgets am Bruttoinlandsprodukt, also an unserer Wirtschaftskraft, von 16 auf über 30 Prozent fast verdoppelt. Der Sozialstaat wird mit zunehmendem Wohlstand nicht überflüssig, sondern wächst.
Welchen Reformbedarf sehen sie bei der öffentlichen Sozialpolitik?
Das lässt sich in der hier gebotenen Kürze eigentlich nicht beantworten. Es gibt zwei große Reformebenen, die abermals zahlreiche Baustellen mit komplexen Problemlagen haben. Zum einen muss die Finanzierung der einzelnen Zweige der Sozialversicherung sichergestellt werden. Dazu müssen alle Erwerbstätigen gemäß ihrer Leistungsfähigkeit beitragen. Wie das geht, zeigt unser Nachbar Österreich, wo auch Beamte und Selbständige sozialversichert sind. Die zweite Ebene ist der Aufbau einer integrierten gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung. Verbesserungen können nur schrittweise implementiert werden.
Warum sind sozialpolitische Reformen denn so kompliziert?
Wer auch immer behauptet, man könne die sozialpolitischen Probleme mit einer großen Reform lösen, hat keine Ahnung von den komplizierten Strukturen unseres Gesundheits- und Sozialwesens. Es hat sich zu einem riesigen Wirtschaftszweig entwickelt, in dem sich sehr schnell Abwehrkoalitionen bilden. Diese Interessengruppen haben ein wesentliches Ziel: Die Verhinderung von Reformen. Deshalb muss man schrittweise vorgehen und effektive politische Reformkoalitionen bilden. Dafür braucht man einen langen Atem. Öffentliche Ankündigungen von Reformen sind eine Sache, ihre Durchführung eine andere. Wir dürfen nicht als Tiger springen und als Bettvorleger landen.
In einem Karnevalslied von 1949 stellen sich Jupp Schmitz und Kurt Feltz die Frage „Wer soll das bezahlen? […] Wer hat so viel Geld?“ Hintergrund waren Preissteigerungen in Folge der Währungsreform. Haben Sie eine Idee, wie die öffentliche Sozialpolitik weiterhin bezahlbar bleibt?
Die habe ich eben skizziert, wenn auch nur sehr grob. Moderne Gesellschaften können ohne ein allgemeines soziales Sicherungssystem nicht wirklich gut funktionieren. Daher braucht es ein Sicherungssystem für die gesamte Gesellschaft, in das alle einzahlen. Zudem ist wachsende soziale Ungleichheit ebenfalls ein großes ökonomisches Risiko. Das belegen Daten der internationalen Wirtschaftsorganisation OECD, die Ländern mit einem umfassenden Sozialstaat eine besonders hohe Lebenszufriedenheit und ökonomische Krisenresilienz bescheinigen.
Reiners, Hartmut: Die ökonomische Vernunft der Solidarität. Perspektiven einer demokratischen Sozialpolitik. Promedia 2023. 272 Seiten.