Schuldenregeln

Die schwäbische Hausfrau kehrt in die EU zurück

| 28. Februar 2023
istock.com/Alexandros Michailidis

Nach fast vierjähriger Pause soll sie ab 2024 wieder greifen: die europäische Schuldenbremse. Noch streiten die finanzstärkeren und -schwächeren EU-Mitgliedsstaaten. Doch die Ideologie der schwäbischen Hausfrau scheint sich durchzusetzen.

Als Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel 2014 die schwäbische Hausfrau beim CDU-Parteitag zum Leitbild einer sparsamen Politik erklärte, traf sie den Kern ihrer austeritätspolitischen Ideologie. „Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.“ Das sei der „Kern der Krise“.

Schaut man sich an, wen die Kürzungsprogramme während der Eurokrise in erster Instanz getroffen haben, wird klar, wer angeblich über seine Verhältnisse gelebt hätte: der Staat, genauer gesagt, der Wohlfahrstaat. Wie katastrophal schief Merkel mit dieser Analyse und den daraus abgeleiteten politischen Maßnahmen lag, kann man an den Schäden sehen, welche die griechische Gesellschaft davongetragen hat. 2021 war die Arbeitslosenquote mit 15 Prozent fast doppelt so hoch wie vor der Krise. Die Wirtschaftsleistung und die Reallöhne brachen ebenfalls ein. Es gelang nicht einmal, die Staatsschuldenquote zu senken.

Davon gänzlich unbeeindruckt hat es die Schwäbische Hausfrau nicht nur in Form der Schuldenbremse in das Grundgesetz geschafft, sondern auch als Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) in die „Verfassung“ der Europäischen Union. Zusätzlich trieb die deutsche Regierung während der Eurokrise maßgeblich die Reform des SWP voran, woraufhin der noch restriktivere Europäische Fiskalpakt 2011 entstand.

Fiskalpakt, Schuldenbremse und der Krisenfall

In seiner Funktionsweise ist der Fiskalpakt der deutschen Schuldenbremse recht ähnlich. Die deutsche Schuldenbremse verbietet den Bundesländern eine Neuverschuldung und erlaubt dem Bund ein maximales Defizit in Höhe von 0,35 Prozent des nominellen Bruttonlandprodukts (BIP). Der Europäische Fiskalpakt sieht eine höchstmögliche Verschuldungsobergrenze von 60 Prozent des BIP und ein maximales jährliches Haushaltsdefizit von 3 Prozent in Relation zum BIP vor. Beim Verstoß gegen die Auflagen des Fiskalpakts sind Sanktionen in maximaler Höhe von 0,1 Prozent des BIP möglich, die sich in Form eines Pauschalbetrags oder einem Zwangsgeld äußern können.

Beide Schuldenbremsen beinhalten eine sogenannte Ausweichklausel, wodurch die restriktiven Fiskalregeln im Krisenfall vorübergehend ausgesetzt werden können. So ermöglicht der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in Artikel 107 Abs. 2 (b) die „Beihilfen zur Beseitigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen und sonstige außergewöhnliche Ereignisse entstanden sind“ (Europäische Union 2012: 91). Dieser Paragraf wurde kurz nach Ausbruch der Coronapandemie angewandt, um den EU-Mitgliedsstaaten durch die Emission von Staatsanleihen die Stützung ihrer taumelnden Wirtschaften zu ermöglichen.

Gleichzeitig mussten sich die Staaten keine Sorgen über steigende Risikoaufschläge für ihre Staatsanleihen machen, denn auf Grundlage des Pandemic emergency purchase programme (PEPP) kaufte die Europäische Zentralbank (EZB) den Haltern von Staatsanleihen die Wertpapiere ab und senkte so die Zinsen. Als Mitte 2022 die EZB verkündete, keine neuen Anleihen mehr anzukaufen, schnellten die Risikoaufschläge insbesondere für italienische Anleihen in die Höhe. Daher stellte die EZB wenig später ein neues Anleihekaufprogramm vor, das Transmission Protection Instrument (TPI). Dieses konnte erneut die Refinanzierungsbedingungen der EU-Staaten stabilisieren.

Fiskalregeln sollen ab 2024 wieder eingesetzt werden

Die umfangreiche Emission von Staatsanleihen durch die EU-Staaten führte zu einem Anstieg der Staatsverschuldung, dem ab 2024 mit der Wiedereinsetzung der Fiskalregeln entgegengewirkt werden soll. Im dritten Quartal 2022 lag die öffentliche Verschuldung der EU-Staaten durchschnittlich bei 85,1 Prozent des BIP und damit gut 25 Prozentpunkte oberhalb des 60%-Limits. Drei Jahre zuvor, im dritten Quartal 2019, betrug das Staatsdefizit noch durchschnittlich 79,1 Prozent. 12 der 27 Mitgliedsstaaten hatten im dritten Quartal 2022 mehr als 60% Staatsschulden. Nicht nur relativ finanzkräftige Staaten wie Deutschland (66,6 Prozent) und Frankreich (113,4 Prozent) übertrafen die Obergrenze. Besonders die in der Vergangenheit stark krisengebeutelte Südeuropäer Italien (147,3 Prozent), Griechenland (178,2 Prozent), Portugal (147,3 Prozent) und Spanien (115,6 Prozent) lagen stark über dem Schuldenlimit (Eurostat 2022).

Eine etwaige Differenz zwischen der erlaubten Schuldenobergrenze von 60 Prozent des BIP und einem höheren Verschuldungsgrad muss laut Fiskalpakt jährlich um einen Richtwert von 1/20 reduziert werden. Daher stellt die Wiedereinsetzung des Fiskalpakts gerade hochverschuldete Staaten vor große bis nicht zu leistende Herausforderungen. Die überschuldeten Länder werden gezwungen, mehr Geld aus ihrer Wirtschaft herauszuziehen, als sie in den Wirtschaftskreislauf injizieren.

Diese Problemlage war Anstoß für eine Auseinandersetzung zwischen den EU-Mitgliedsstaaten um die europäische Schuldenbremse, die sich Ende 2021 intensivierte. Vor allem von südeuropäischen Ländern unter der Führung von Frankreich wurden die EU-Fiskalregeln in der jetzigen Form in Frage gestellt. Überraschenderweise hat sogar der Vorsitzende des Europäischen ‚Stabilitätsmechanismus‘, Klaus Regling, in Übereinstimmung mit der französischen Regierung erklärt, dass die 60-Prozent-Marke nicht mehr anwendbar sei. Die Schuldenstände vieler EU-Staaten seien in der Coronapandemie schlicht zu stark gestiegen.

Was eine Rückkehr zu den bestehenden Regeln des SWP bedeuten würde, simulierte das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Es müssten erhebliche Kürzungen der öffentlichen Ausgaben vorgenommen werden, insbesondere dann, wenn die SWP-Regeln wie in der Vergangenheit interpretiert werden würden. Eine flexiblere Auslegung der Regeln würde die Belastung durch die Haushaltskonsolidierung nur geringfügig verringern.

Vorschlag zur Reform des SWP

Anfang Mai 2022 schwenkten angesichts des Ukrainekriegs und steigenden Energiepreisen manche Mitgliedsstaaten um. Beim EU-Finanzministertreffen in Luxemburg legte die niederländische Finanzministerin zusammen mit ihrer spanischen Amtskollegin einen Vorschlag zur Reform des SWP vor. Der Entwurf sieht vor, einerseits die Aussetzung der Fiskalregeln zu verlängern. Andererseits sollen die Verhandlungen um die Senkung des Staatsschuldenstands „dezentralisiert“ werden: Dem Vorschlag folgend, würden hochverschuldete Länder zukünftig zusammen mit der Kommission individuelle Pläne aufstellen, um die Verbindlichkeiten über die Jahre auf konjunkturfreundliche und realistische Weise zu senken.

Dass der Reformvorschlag zusammen von Spanien und die Niederlande vorgestellt wurde, ist insofern überraschend, als dass die beiden Staaten zuvor sich stark unterscheidende fiskalpolitische Strategien verfolgt haben. Während die ‚sparsame‘ Regierung der Niederlande auch noch während der Coronakrise viel Wert auf Haushaltsdisziplin gelegt hat (zum Beispiel im Kontext der Diskussion um die Wiederaufbaufonds), plädierte Spanien zusammen mit anderen südeuropäischen Staaten stets für eine Lockerung austeritätspolitischer Regeln. Eine Kooperation dieser ‚ungleichen Partner‘ macht den Ernst der Lage deutlich, welcher aus gestörten Lieferketten, dem Energiepreisanstieg und der Angst vor einer Ausweitung des Ukrainekriegs auf die EU-Mitgliedsstaaten resultierte.

Die spanisch-niederländische Initiative aufgreifend entwickelte die Europäische Kommission einen Vorschlag für die Reform der EU-Fiskalregeln. Diesen stellte die Kommission Anfang November 2022 vor. Die geforderte Dezentralisierung spiegelt sich in Form mittelfristiger Haushaltsstrukturpläne im Kommissionsentwurf wider, über die hochverschuldete Länder mit der Kommission bilateral verhandeln würden. Daneben enthält der Kommissionsvorschlag laut eines Kommentars des IMK folgende Kernpunkte:

  • Künftig soll die Entwicklung der nationalen Netto-Primärausgaben als einziger Indikator zur Anwendung gebracht werden, um die Einhaltung des Defizits- und Schuldenkriteriums zu bewerten. Davon werden Zinszahlungen, Zahlungen von Arbeitslosengeld und durch Steuereinnahmen gedeckte Mehrausgaben ausgenommen.
  • Staaten sollen künftig vier Jahre Zeit haben, um auf einen sinkenden Pfad der Schuldenquote zu kommen. Eine genauere Abstimmung über die Modalitäten erfolgt in Zusammenarbeit mit der Kommission. Dieser Abbaupfad soll die bereits erwähnte 1/20-Regel ersetzen.
  • Einen konkreten Zeitrahmen für die Rückkehr zum 60%-Verschuldungslimit gäbe es nicht mehr. Nichtsdestotrotz soll die 3%-Defizitregel wieder strikt eingehalten und die Nicht-Einhaltung sanktioniert werden.

Österreich und Deutschland lehnen Reformvorschlag ab

Inwieweit der Kommissions-Reformvorschlag ab 2024 umgesetzt wird, ist derzeit noch Bestandteil hitziger Debatten. Aussagen des österreichischen und des deutschen Finanzministers lassen jedoch wenig Verhandlungsbereitschaft erkennen. So verkündete Österreichs Finanzsekretär Florian Tursky bei einem Treffen der EU-Finanzminister Mitte Februar 2023 rigide:

„Es gibt keinen Grund, von der harten und klaren Position Österreichs, die von anderen Staaten mitgetragen wird, abzuweichen“.

Es dürfe „keine 150 Ausnahmen“ für die Länder geben. Finanzminister Christian Lindner sieht das ähnlich dogmatisch. In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung ließ er verlauten, dass die „60 Prozent des BIP beim Schuldenstand nicht zur Disposition“ stehen. „Sonderwege für einzelne Länder darf es nicht geben“. Nur den Zeitplan zum Schuldenbau könne man „flexibilisieren“ und den „fiskalischen Spielraum“ für Investitionen „erweitern“.

Heißt: Die beiden Finanzminister der finanzkräftigen EU-Mitgliedsstaaten Österreich und Deutschland lehnen das Kernstück des Kommissions-Reformvorschlags, eine Dezentralisierung der Verhandlungen, ab. Eine Anhebung der Schuldenstandsquote kommt für Lindner ebenfalls nicht in Frage.

Doch wie soll weiter mit den Verschuldungsregeln verfahren werden? Eine Erhöhung des Verschuldungsziels auf 90 Prozent des BIP, wie sie das IMK vorschlägt, könnte die Haushaltskonsolidierung auf wachstumsfreundlichere Weise erreichen. Wenn das IMK 90 Prozent fordert, warum nicht 120, 200 oder gleich ganz streichen? Laut einer Analyse des Ökonomen Jan Priewe ist das Schuldenlimit ohnehin „politisch willkürlich gesetzt“ und „ökonomisch wenig fundiert“.

Realwirtschaftliche Kennzahlen statt Schuldenquote

Wie es scheint, setzt weder das IMK noch setzen die EU-Finanzminister und die Kommission an der richtigen Stelle an. Anstatt etwaige Verschuldungsregeln zu diskutieren, wäre eine weitaus sinnvollere Maßnahme, zunächst realwirtschaftliche Kennzahlen unter die Lupe zu nehmen. Entwicklung von Arbeitslosigkeit, Teuerung und Produktivität geben eine bessere Auskunft über die ökonomische Entwicklung als die abstrakte Staatsverschuldungsquote.

Bei einer näheren Betrachtung makroökonomischer Ungleichgewichte müsse dann erst geschaut werden, ob es einen Kausalzusammenhang zwischen zunehmender Staatsverschuldung und den Ungleichgewichten gibt. Anschließend müssten die Ursachen identifiziert werden, die die Staatsverschuldung, die Inflation oder ähnliches antreiben. Erst auf Basis einer solchen Analyse würden zielführend Maßnahmen abgeleitet werden.