Die Ukraine vor dem Ausverkauf
Was nach dem Krieg folgt, dürfte für die Ukraine nicht weniger zerstörerisch sein als der Krieg selbst.
Bei Geld hört die Freundschaft bekanntlich auf. Zwar ist die vielgepriesene Solidarität mit der Ukraine ungebrochen. Aber Investoren haben der Ukraine große Summen als Kredite gegeben. Und die Abrechnung, die nach dem Krieg folgt, dürfte für die Ukraine nicht weniger zerstörerisch sein als der Krieg selbst.
In den Gesprächen, die die Ukraine zwischen dem 3. und 14. Juni 2024 mit internationalen Investoren führte, ging es unter anderem um die Rückzahlungen jener Kredite, die der Ukraine seit dem Jahr 2022 gewährt wurden. Die ukrainische Regierung bat um einen Aufschub der Rückzahlung und einen Schuldenschnitt in Höhe von 60 Prozent. Black Rock und Co lehnten ab. Am 1. August endete die Tilgungsfrist für ein über 20 Milliarden Dollar schweres Paket und die Gläubiger wollten sich maximal auf einen Erlass von 20 Prozent der Schulden einlassen. Die Investoren verwiesen darauf, dass sie einen höheren Schuldenerlass nicht hinnehmen können, weil dies dem Vertrauen künftiger Investoren schaden würde.
Zwar konnte sich die Ukraine in letzter Minute mit ihren Gläubigern einigen: der Schuldenschnitt beträgt jetzt 37 Prozent und die übrigen Altschulden werden mit neuen, wiederum verzinsten Anleihen ausgetauscht. Doch am grundlegenden Problem ändert auch die Umschuldung nichts. De facto fällt der Schuldenschnitt deutlich geringer aus, da sich die Gläubiger der Ukraine in Form von Zinsen entlohnen lassen. Nach Berechnungen des Bündnis Erlassjahr beträgt der tatsächliche Schuldenschnitt gerade einmal rund 25 Prozent. Dazu kommt, dass die Vereinbarung zusätzliche Tilgungszahlen vorsieht, sollte sich die ukrainische Wirtschaft bis 2028 positiver entwickeln als bisher angenommen. Die Einigung ist also keinesfalls eine Lösung des Problems. Sie verschiebt es nur.
Und um den Krieg weiterführen und die Milliarden für Waffen, Munition, Wiederaufbau und Rückzahlungen aufbringen zu können, wird die Ukraine weiter auf Kredite angewiesen sein. Der Internationale Währungsfonds (IWF) gewährte der Ukraine im März vergangenen Jahres ein Hilfspaket in Höhe von 15,6 Milliarden Euro, das in mehreren Tranchen, nach jeweiliger Überprüfung, ausgezahlt werden kann. Im März 2024 wurde ein Kredit in Höhe von 880 Millionen Euro aus diesem Paket genehmigt.
Doch im Gegenzug muss die Ukraine ihre Schuldenquote bis zum Jahr 2033 auf 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts senken. Ende 2024 dürfte sie voraussichtlich bei etwa 94-95 Prozent liegen.
Was bedeutet das? Sollte der Krieg zum Jahresende enden und die Schuldenquote nicht noch weiter anwachsen, müsste die Ukraine ihre Schuldenquote zwischen 2025 und 2033 jährlich um rund 4,3 Prozentpunkte reduzieren. Gemessen am ukrainischen BIP entspräche das in etwa 6,8 Milliarden Euro pro Jahr. Um das ganze ins Verhältnis der Wirtschaftsleistung zu setzen: Für Deutschland würde das jährliche Kürzungen in Höhe von etwa 163,8 Milliarden Euro bedeuten. Mit anderen Worten, der Ukraine stehen dramatische Einschnitte bevor.
Um die Forderungen erfüllen und ihre Gläubiger bedienen zu können, muss die Ukraine öffentliche Unternehmen, öffentliche Infrastruktur und öffentliches Eigentum privatisieren. Sie muss massive Einschnitte im Sozialen, dem Gesundheitsbereich, der Bildung oder der Wirtschaftsförderung vornehmen. Unter einer derartigen Schocktherapie ist der Wiederaufbau der Ukraine und der Weg zu einer funktionieren Demokratie zum Scheitern verurteilt.
Die EU als Totengräberin?
Ohnehin ist die Ukraine weit davon entfernt, die politischen oder ökonomischen Voraussetzungen für einen EU-Beitritt erfüllen zu können. Auf dem Korruptionsindex von Transpacy International liegt im europäischen Vergleich nur noch Russland hinter der Ukraine. Und Bulgarien hatte 2021 als wirtschaftlich schwächstes Land der EU ein knapp doppelt so hohes BIP pro Kopf wie die Ukraine – wohlgemerkt noch vor dem Krieg.
Die dennoch Ende Juni 2024 begonnenen Beitrittsgespräche sollen also vor allem ein symbolisches Zeichen eines geeinten Europas sein, das fest an der Seite der angegriffenen Ukraine steht. Doch unter den gegebenen Voraussetzungen könnte der EU-Beitritt – sprich die Unterwerfung unter die Maastricht-Kriterien und die Aufgabe der Währungs-Souveränität – alles noch schlimmer machen.
Als Teil der Europäischen Union müssten ukrainische Unternehmen im gemeinsamen Binnenmarkt mit französischen und deutschen Unternehmen konkurrieren. Dabei, die eigene Wirtschaft zu stützen, wären der Ukraine weitgehend die Hände gebunden. Direkte Subventionen würden durch das EU-Beihilferecht verhindert und auch der Wechselkurs der Währung könnte nicht mehr so angepasst werden, dass ausländische Dienstleistungen und Produkte teurer würden als inländische. In dieser Situation bliebe ukrainischen Unternehmen nur die interne Abwertung, um die geringere Produktivität und Qualität auszugleichen.
Der technische Begriff interne Abwertung meint aber nichts anderes als massive Lohnsenkungen: Wenn die eigene Wirtschaft nicht durch Subventionen gefördert und der Wechselkurs der eigenen Währung nicht angepasst werden kann, dann müssen die Lohnstückkosten (Lohnkosten pro produzierter Einheit) so weit nach unten gedrückt werden, dass ukrainische Betriebe irgendwie ansatzweise wettbewerbsfähig bleiben. Daraus folgt aber direkt das nächste Problem.
Wird der Preis für die Ware Arbeit (also Löhne) gesenkt, dann lässt sich zwar billiger produzieren, gleichzeitig aber werden auch die Einkommen der Ukrainer beschnitten. Mit weniger Geld in der Tasche können sie weniger kaufen. Die Politik der internen Abwertung schwächt also die Nachfrage und schadet der Wirtschaft somit langfristig stark – einmal davon abgesehen, dass sie viele Menschen an den Rand des Existenzminimums drängen wird.
Die Integration der Ukraine in den europäischen Binnenmarkt mit dem Euro als gemeinsamer Währung dürfte die ukrainische Wirtschaft erdrosseln. Gleichzeitig steht ein Braindrain zu erwarten: qualifizierte Ukrainer, die das Land verlassen und von der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch machen, um in anderen europäischen Staaten mehr zu verdienen. Dieses „mehr“ dürfte in einigen Fällen jedoch immer noch weniger sein als branchenüblich in Deutschland oder Frankreich gezahlt wird, was auch in diesen Ländern Druck auf das Lohnniveau ausübt.
Gleichzeitig droht der Ukraine eine ähnliche Situation, wie sie in anderen Ost-Europäischen Staaten wie Rumänien, Bulgarien oder Kroatien zu beobachten ist. In solchen Niedriglohnländern ist es für ein deutsches oder französisches Unternehmen mit kräftigen Gewinnmargen im Zweifelsfall einfacher, im Werben um Arbeitskräfte auch mal kräftige Nominal-Lohnzuwächse von 10-15 Prozent zuzugestehen. Damit bewegen sie sich noch immer deutlich unterhalb des deutschen Lohnniveaus. Für ein unproduktiveres ukrainisches Unternehmen sind solche Lohnzuwächse nicht so leicht zu schultern. Das kann zu einer paradoxen Situation führen: Zwar bedeuten diese (im Durchschnitt) hohen Lohnzuwächse eine massive Steigerung der Kaufkraft. Allerdings dürften die Produktivitätszuwächse der ukrainischen Wirtschaft weiter hinter diesen Lohnzuwächsen zurückbleiben. Steigen die Lohnstückkosten stark an, wächst auch der Inflationsdruck. Die ukrainische Wirtschaft droht damit zwischen der direkten Konkurrenz zu ausländischen Unternehmen und dem Druck zur internen Abwertung für die eigene Wettbewerbsfähigkeit vollständig zerrieben zu werden.
Auch was die Staatsschulden betrifft, darf sich die Ukraine von einem EU-Beitritt keinen Vorteil versprechen. Es reicht ein Blick auf die Indikatoren eines anderen europäischen Staates, der in der Vergangenheit aufgrund seiner Staatsfinanzen in das Fadenkreuz der Europäischen Union geraten ist: Griechenland. Fas 15 Jahre nach der Eurokrise hat das Land noch immer eine Arbeitslosenquote von fast 10 Prozent und eine Jugendarbeitslosigkeit von rund 24 Prozent. Arbeitsproduktivität, Reallöhne und Renten liegen nach wie vor deutlich unter dem Niveau von 2010. Die öffentliche Infrastruktur wurde im großen Stil privatisiert, die Gehälter im öffentlichen Dienst massiv gekürzt und das Gesundheitssystem an den Rand des vollständigen Kollaps getrieben.
Mit anderen Worten: Den Griechen bescherte die Europäische Union mehr als ein Jahrzehnt lang Armut, Siechtum, Unsicherheit und Tod. Es ist kein Zufall, dass im Zuge der drakonischen Spar-Maßnahmen während der Eurokrise allein zwischen 2011 und 2015 die Zahl der Selbstmorde in Griechenland um 36 Prozent anstieg.
Zum Leidwesen der Ukraine deutet nur wenig darauf hin, dass die Europäische Union aus ihren Fehlern in der Eurokrise gelernt hat.