Kommentar

Europas Zukunft: Mehr Allgemeinwohl wagen

| 25. Februar 2025
John Schnobrich / Unsplash

Jahrzehntelang galten die „westlichen Werte“ als moralischer Kit der westlichen Staaten. Doch längst stehen sie durch innere und äußere Erosionsprozesse auf dem Spiel.

Dass wir in unruhigen Zeiten leben, wird kaum mehr jemand bestreiten wollen. Die wilden Meere hupfen gerade von allen Seiten auf uns zu. Weitgehend Einigkeit besteht in der Politik darüber, dass mehr für die Verteidigung getan werden soll und die Migration zu begrenzen ist, wobei etwas unklar ist, ob inzwischen auch mehr für die Verteidigung gegen die bisherige Schutzmacht USA getan werden muss, die zunehmend zum Schutzgelderpresser mutiert.

Jahrzehntelang galten die „westlichen Werte“ als moralischer Kit der westlichen Staaten. So ganz genau wusste man nie, um was es dabei ging. Freie Wahlen, freie Presse, Rechtsstaatlichkeit auf jeden Fall, Menschenrechte immer mal wieder, aber immer mal wieder nicht ganz glaubwürdig, angesichts des Algerienkriegs, des Vietnamkriegs oder der unverhohlenen Sympathie des Westens für die mörderischen Diktaturen Südamerikas. Wie dem auch sei, die „westlichen Werte“ sind, während wir uns an immer tolleren Autos, Urlaubsreisen, Fußballevents und Gameshows im Fernsehen erfreut haben, irgendwie erodiert, sie haben an Marktwert verloren, als integrative Kraft nach innen, wie auch als „soft power“ nach außen.

Nach außen gab es immer wieder regelrechte Bruchpunkte. Zu den aktuelleren gehört der Irakkrieg, ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg des USA in einer Zeit, in denen der Westen nicht durch ein konkurrierendes System in seiner Existenz herausgefordert war. Er hat womöglich Billionen (!) Dollar gekostet, und eine Million Tote. Herausgekommen ist nicht zuletzt der IS und mehr Einfluss des Iran, aber keine bessere Welt in Nahost. Ein anderes Beispiel ist das Wegschauen des Westens beim Völkermord in Ruanda mit hunderttausenden Toten.

Nach innen dominieren eher die Erosionsprozesse. In vielen Ländern der „westlichen Wertegemeinschaft“ haben sich die sozialen Verhältnisse nach dem Zusammenbruch der Systemkonkurrenz mit dem „real existierenden Sozialismus“ und der weltweiten Hegemonie des Neoliberalismus desintegrativ entwickelt. Die Zukunft der einen ist immer prekärer geworden, mit Phasen stagnierender Reallöhne, aber steigenden Mieten und Pflegekosten. Gleichzeitig haben andere unermessliche Vermögen angesammelt und stellen sie immer ungenierter zur Schau.

Dazu haben in den mächtigsten Ländern der Welt, in Russland wie in den USA, Oligarchen und politische Macht eine toxische Nähe zueinander entwickelt, die der Demokratie die Luft abgeschnürt hat, bzw. in den USA gerade abzuschnüren droht. Und dass in Deutschland der Einfluss der Reichen auf die Politik zu klein ist, wird man angesichts einer unaufhaltsamen Reihe von Steuersenkungen für die mit viel Geld, der steuerlichen Ungleichbehandlung von Arbeits- und Kapitaleinkommen, der Zurückhaltung der Politik bei der Erbschafts- und Vermögenssteuer oder ihrer Nachlässigkeit bei der Verfolgung von Steuerhinterziehung oder der Verfolgung der CumEx-Straftaten auch nicht unbedingt gut begründen können.

Wie aus einer anderen Welt lesen sich dagegen unsere Verfassungstexte. Art. 151 der bayerischen Verfassung lautet beispielsweise:

„(1) Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesonders der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.“

(2) Innerhalb dieser Zwecke gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe der Gesetze. Die Freiheit der Entwicklung persönlicher Entschlußkraft und die Freiheit der selbständigen Betätigung des einzelnen in der Wirtschaft wird grundsätzlich anerkannt. Die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen findet ihre Grenze in der Rücksicht auf den Nächsten und auf die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls. Gemeinschädliche und unsittliche Rechtsgeschäfte, insbesonders alle wirtschaftlichen Ausbeutungsverträge sind rechtswidrig und nichtig.“

Oder Art. 156, der erste Satz lautet:

„Der Zusammenschluß von Unternehmungen zum Zwecke der Zusammenballung wirtschaftlicher Macht und der Monopolbildung ist unzulässig.“

Art. 157:

„(1) Kapitalbildung ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Entfaltung der Volkswirtschaft.

(2) Das Geld- und Kreditwesen dient der Werteschaffung und der Befriedigung der Bedürfnisse aller Bewohner.“

Es gibt ähnliche Formulierungen in anderen Landesverfassungen. Sie sind nicht nur durch das Bundesrecht oder das europäische Recht „überlagert“ worden, wie es im Juristenjargon so schön heißt. Die Werteorientierung, die in ihnen zum Ausdruck kommt, bestimmt sichtlich nicht mehr unseren Alltag. Manche Parteien fordern sogar bewusst eine „disruptive“ Abwendung davon in die entgegengesetzte Richtung, angeblich aus guter Absicht, um die Kräfte der Wirtschaft zu entfesseln.

Und wenn dabei die Kräfte der Menschen gefesselt werden? Wenn sich immer mehr für eine solche als „liberal“ deklarierte Gesellschaftsordnung nicht mehr erwärmen können und Sympathien für radikale Kräfte entwickeln? Sollte man nicht vielmehr die Kräfte der Menschen entfesseln, indem die Politik ihnen Chancen eröffnet, für die sich Anstrengung lohnt, im Betrieb, im Ehrenamt, im Falle des Falles auch bei der Verteidigung gegen äußere Aggression? Sollten wir nicht mehr Allgemeinwohl wagen, statt schon Kritik an der reinen „Profitorientierung“ als systemgefährdend wahrzunehmen? Ist der Papst etwa ein Umstürzler? Er fand deutlich härtere Worte, sprach von einer „Wirtschaft, die tötet“.

Wenn man den falschen Versprechen der Populisten etwas entgegensetzen will, wird es nicht reichen, diese Versprechen als falsch zu entlarven. Man wird ihnen mit glaubhaften Versprechen eines besseren Lebens und konkreten, spürbaren Schritten dorthin begegnen müssen, von den Mieten bis zu den Pflegekosten, und Fußballevents noch dazu. Wir müssen mehr Allgemeinwohl wagen, am besten, bevor es zu spät ist!

Der Text beruht auf einem Blogartikel des Autors.