Editorial

Merz: Der Richtige zur richtigen Zeit?

| 27. Februar 2025
IMAGO / photothek

Lieber Leserinnen und Leser,

seit Sonntagabend wissen wir: der neue Bundeskanzler heißt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Friedrich Merz. Sein Wahlsieg fällt in eine Zeit, die für einen deutschen Regierungschef undankbarer nicht sein könnte. Die Brandmauer und eine zugleich immer kompliziertere politische Arithmetik zwingen Merz und die Union in eine gar nicht mehr so große GroKo mit der SPD. Dass Merz auf die Sozialdemokraten als einzig möglichen Koalitionspartner angewiesen ist, werden sich letztere angesichts der tiefen Gräben, die das Land durchziehen, teuer bezahlen lassen.

Dennoch bleibt kaum Zeit für Sondierungen. Die drängende Migrationskrise, ein fast verlorener Ukraine-Krieg, die schwierige Lage der deutschen Wirtschaft und zu allem Überfluss die zerrütteten Beziehungen zu den USA erwarten Antworten einer handlungsfähigen Regierung.

Trotz dieser denkbar schlechten Startbedingungen wird Merz von der europäischen Presse bereits zum „Leader“ oder „Retter“ einer seit der Machtübernahme von US-Präsident Donald Trump in einer tiefen Sinnkrise steckenden EU erklärt. Das „European Council on Foreign Relations“ in Berlin erhofft sich von dem CDU-Chef, dass er nach der amerikanischen Kehrtwende in der Ukraine-Politik den Weg für ein „wahrhaft unabhängiges Europa“ ebnet.

Die große Frage also ist: Kann Merz ein Kanzler der Krise sein? Oder versagt er schon bei den ersten kleinen Bewährungsproben?

Wie wird Merz, selbst schon immer ein überzeugter Transatlantiker und eng mit US-Unternehmen vernetzt, damit umgehen, dass es diesen seit Ende des Zweiten Weltkriegs harten Kern des politischen Westens so nicht mehr gibt? Wie flexibel kann jemand, der stets „mehr ein Mann der Privatwirtschaft als der Politik“ war (Thomas Fazi) und noch nicht einmal ein Ministeramt bekleidete (Eric Bonse), auf diese fundamental veränderten geopolitischen Rahmenbedingungen reagieren? Und kann die marktliberale Agenda des BlackRock-Manns der deutschen Wirtschaft wirklich aus der Krise helfen?

Alle Artikel und Themen dieser Ausgabe:

  • Gibt es eine Wirtschaftskrise in China? Deflation, Immobilienkrise, fallende Börsenkurse – Analysten sehen China in der Krise. Doch der Asien-Experte Stephen Roach konstatierte bereits 2021 zu Chinas dunkler Seite: „Das hatten wir schon mehrmals.“ Rainer Land
  • American Exceptionalism: Vermögenspreisblase im Politikchaos Noch lieben die Finanzmärkte Donald Trump. Doch der Aktienboom ist auch mit erheblichen Risiken verbunden. Jörg Bibow
  • Der Kahlschlag des Javier Milei Javier Mileis Präsidentschaft ist kaum mehr als ein Jahr alt. Doch sie spaltet Argentinien politisch und ökonomisch. Könnte eine Volkfront unter Einschluss moderater Zentristen das Projekt Milei beenden? Pablo Pryluka
  • Kann Friedrich Merz die EU retten? Viele EU-Politiker und Experten setzen große Hoffnungen in den künftigen Kanzler. Er soll den Weg für ein „wahrhaft unabhängiges Europa“ ebnen - dabei versagt er schon bei der ersten kleinen Bewährungsprobe. Eric Bonse
  • Trump verstehen? Die Verhandlungen zwischen Moskau und Washington sowie die Konfrontation zwischen EU und USA sind ein dramatischer Umschwung im internationalen System. Der Westen ist jetzt gespalten. Die globalen Kräfteverhältnisse sortieren sich neu. Peter Wahl
  • Der Standortwettbewerb schadet mehr als er nutzt Seit dem Wirtschaftswunder der 1960er-Jahre hat sich das BIP verdreifacht. Dennoch leben immer mehr Menschen in Armut. Woher kommt das? Werner Vontobel
  • Kann Deutschland Friedrich Merz trauen? Der Millionär Friedrich Merz ist ein Konzernkönig in konservativem Gewand. Sein Werdegang weckt Zweifel, ob er wirklich die Interessen seines Landes verfolgen wird. Thomas Fazi
  • Europas Zukunft: Mehr Allgemeinwohl wagen Jahrzehntelang galten die „westlichen Werte“ als moralischer Kit der westlichen Staaten. Doch längst stehen sie durch innere und äußere Erosionsprozesse auf dem Spiel. Joseph Kuhn