Über Raubtiere
Liebe Leserinnen und Leser,
auf die Frage, ob die Geldmenge heute nicht eine geringere Bedeutung habe als früher, antwortet der Sachverständige Volker Wieland in der FAZ: „Wenn die Wirtschaft mehrere Jahre nicht wächst, aber die Geldmenge jährlich um 10 Prozent zulegt, wären Preisanstiege nicht vermeidbar.“
Damit hole Wieland mit leichter Hand ein Argument aus der Versenkung, das immer wieder herhalten muss, obwohl es überhaupt nicht trägt, schreibt Heiner Flassbeck. Den Ökonomen sei es aber gelungen, der großen Mehrheit der Bürger weiszumachen, man müsse einfach mehr Geld ins System geben, und schon spränge die Inflation hinter dem nächsten Busch hervor.
Eine Warnung, die Wieland fast gleichlautend schon 2014 abgegeben hat , die aber unbegründet ist. Denn alle Inflationsprozesse nehmen den Weg über höhere Löhne. Es gäbe keine Inflation, die plötzlich und unvorhersehbar vom Himmel fällt, weil vorher irgendeine Geldmenge gestiegen ist, so Flassbeck. Deswegen sei der Zeitaspekt bei der Beurteilung der Inflationsgefahr absolut entscheidend.
Ökonomie der Leoparden
Im vergangenen Monat erschien ein Forschungsbericht der Weltbank mit dem Titel "Führt die Unabhängigkeit der Zentralbank zu mehr Ungleichheit bei der Einkommensverteilung?“ Das Spannende an diesem Bericht ist weniger der Inhalt, sondern dass er überhaupt erschienen ist.
Die Antwort auf die rhetorische Frage der Weltbank lautet schlicht ja, und zwar in dreifacher Hinsicht. „Unabhängige" Zentralbanken drängen stets darauf, die Staatsausgaben zu begrenzen, die Finanzmärkte zu deregulieren und die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer zu untergraben. Schließlich ist das Lohnwachstum der entscheidende Faktor für Preissteigerungen. Die EZB spielte eine führende Rolle beim Zusammenbruch der Tarifverhandlungen in Griechenland, und der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi setzte sich hartnäckig für flexiblere Arbeitsmärkte in Frankreich ein.
Was Dirk Bezemer schon lange gewusst hat, darf jetzt also auch die Weltbank sagen. Ist das ein Paradigmenwechsel? Oder es ist das, was der Ökonom Thomas Palley als „gattopardo economics“ (Leoparden-Ökonomie) bezeichnete. Alles muss sich ändern, damit alles beim Alten bleiben kann, so die These, die von in Guiseppe Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“ von 1958 inspiriert ist. Herrschaft wird erhalten, indem man sich scheinbar im Einklang mit den Herausforderern der Herrschenden bewegt.
Übersetzt in die Wirtschaftswissenschaft: Argumente, die seit Jahrzehnten bekannt waren, aber ignoriert wurden, werden plötzlich – wenn das nicht länger funktioniert – zu Tode umarmt.
Feldzug der Falken
Der britische Finanzminister Rishi Sunak behauptete kürzlich, die öffentlichen Finanzen Großbritanniens seien "exponiert" und stünden vor "enormen Belastungen". Viele Kommentatoren verstanden die Aussage Sunaks so, dass die Regierung ab dem nächsten Jahr ihr Haushaltsdefizit deutlich reduzieren will. Sunak selbst begründete die Notwendigkeit einer Haushaltskonsolidierung mit den staatlichen Unterstützungsmaßnahmen, die eine "enorme Herausforderung“ für die öffentlichen Finanzen darstellten.
Doch die staatliche Unterstützung zurückzuziehen, bevor die Narben der Corona-Krise vollständig verheilt sind, wäre fatal, und gänzlich unnötig, wie Thomas Fazi argumentiert. Ein Staat nämlich muss seine Ausgaben nämlich gar nicht finanzieren, weil er Geld aus dem Nichts schaffen kann. Man könne fast meinen, dass Regierungen nur aus einem Grund komplexe Buchhaltungsstrukturen verwenden: um die Art und Weise, wie Staatsausgaben tatsächlich funktionieren, zu verschleiern, um so eine neoliberale Wirtschaftspolitik rechtfertigen zu können.
Schlacht der Datenkraken
Alle Blicke richten sich auf Brüssel. Die EU-Kommission hat ein Digitalpaket vorgelegt, das es in sich hat. An den „Digital Services Act“ (DSA) und den „Digital Markets Act“ (DMA) knüpfen sich riesige Erwartungen. Sie reichen vom Ende der „Gesetzlosigkeit“ im Internet bis hin zur Rettung der deutschen Presseverlage. Es geht es um gesellschaftliche Fragen und Haftungsregeln, um Wettbewerb und das internationale Geschäft. Die EU-Kommission zielt vor allem auf so genannte Gatekeeper – also Plattformen, die so groß und mächtig geworden sind, dass sie über den Zugang zu wichtigen neuen Märkten entscheiden können. Diese „Torwächter“ sollen an die Leine gelegt werden.
Das klingt vielversprechend, ist aber nicht frei von Hintergedanken, wie Eric Bonse weiß. Das Ziel ist ein „wirklicher Binnenmarkt für Daten“ – der erste und größte seiner Art auf der Welt. Ausgerechnet die EU, die die Datenschutzgrundverordnung auf den Weg gebracht hat, sucht nach Wegen, das „digitale Gold“ selbst gewinnbringend auszubeuten. Auf der anderen Seite lauert eine Heerschar vornehmlich amerikanischer Lobbyisten, die versuchen, das Digitalpaket aufzuschnüren und zu verwässern. An vorderster Front marschieren die „Big Five“ – Amazon, Apple, Facebook, Google und Microsoft. In Brüssel tobt eine Schlacht der Lobbyisten.
Gleichgewicht in der Raubtierökonomie?
Jeder VWL-Student im ersten Semester kennt Paul A. Samuelson oder Robert Solow. Joan Robinsons Name hingegen ist im Kanon der Literatur vergilbt. Zu Unrecht, wie Sebastian Müller meint. Denn die Tochter eines Generals, die als Frau jahrzehntelang keine Professorenstelle erlangte, veränderte den Blick auf die Wirtschaft. Vor allem initiierte sie mit ihrer Erweiterung der Theorie von John Maynard Keynes die postkeynesianische Rekonstruktion der Politischen Ökonomie.
Schon mit ihrer ersten großen Veröffentlichung „The Economics of Imperfect Competition“ im Frühjahr 1933 erntete sie breite Anerkennung. Denn das Buch revolutionierte die Vorstellungen über Wettbewerb und Preisbildung in einer Zeit, als Ökonomen die vollständige Konkurrenz als Normalfall lehrten. Ein Angriff auf die innere Logik des statischen Gleichgewichtsmodells, dem das Weltgeschehen mit der Weltwirtschaftskrise zusätzliche Wucht verlieh. „So etwas wie eine normale Zeit in der Geschichte gibt es nicht“, schrieb Robinson später einmal. „Normalität ist eine Fiktion der Ökonomie-Lehrbücher.“