Internationale Politik – 15

Vernünftige Parteilichkeit gegenüber Landsleuten

| 20. März 2024
IMAGO / ZUMA Press

Gibt es eine globale Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit? Im Unterschied zu globalen Hilfspflichten lehnen dies Partikularisten wie David Miller ab.

Nach einer Einführung zu Charles Beitz´ Kosmopolitismus erklärt Sophie Lukas heute den Partikularismus nach David Miller.

„Mit Charles Beitz sind wir die Frage angegangen: Haben wohlhabende Staaten gegenüber armen Ländern nicht nur Hilfspflichten, sondern auch Pflichten sozialer Gerechtigkeit? Solche Pflichten könnten beinhalten, dass der Wohlstand weltweit umverteilt werden müsste. Beispielsweise müssten reiche Länder mit vielen natürlichen Bodenschätzen, rohstoffarmen Ländern, einen Teil ihrer Rohstoffe wie Öl oder Metalle abgeben.

Charles Beitz ist wie Iris Marion Young ein Vertreter des Kosmopolitismus. Im Kosmopolitismus sind Staatsgrenzen, Völker und Nationen von untergeordneter moralischer Bedeutung, von entscheidender Bedeutung ist jeder einzelne Mensch und seine Rechte. Wenn soziale Gerechtigkeit moralisch wichtig ist, dann sollte sie zwischen allen Menschen auf der Erde bestehen, nicht nur innerhalb von Staaten. Ressourcen sollten dann weltweit umverteilt werden.

Partikularisten lehnen dies ab. Sie bezweifeln zwar nicht, dass wir anderen Staaten nicht schaden dürfen und dass es Hilfspflichten gegenüber Menschen anderer Staaten gibt, aber Forderungen sozialer Gerechtigkeit bestehen nur innerhalb von Staaten. Einer der führenden Partikularisten ist der britische Philosoph David Miller, der in Oxford lehrt. Mindestens ebenso wichtig für den Partikularismus sind die Philosophen John Rawls und Thomas Nagel.“

„David Miller haben wir bereits zur Frage globaler Hilfspflichten besprochen. Wie begründet Miller seine Position zur sozialen Gerechtigkeit?“

„Wir beschränken uns hier auf seine Argumentation in seinem Aufsatz Vernünftige Parteilichkeit gegenüber Landsleuten. Angenommen, du hast ein Kind, bei dem sich eine starke musikalische Begabung bemerkbar macht und das großes Interesse hat, Klavier spielen zu lernen. Du kannst es dir ohne weiteres leisten, deinem Kind den Klavierunterricht zu bezahlen. Würdest du dein Kind unterstützen?“

„Es käme mir falsch vor, es nicht zu tun.“

„Angenommen weiter, du liest in der Zeitung, dass es Kinder in deiner Stadt gibt, die eine hohe musikalische Begabung haben, deren Eltern sich aber den Unterricht nicht leisten können. Würdest du sagen, dass die Verpflichtung, eines dieser Kinder zu unterstützen gleich groß ist wie bei deinem eigenen Kind?“

„Ich denke nicht. Ich würde mir auch die Frage stellen, ob ich überhaupt die Verpflichtung hätte, eines dieser Kinder zu unterstützten. Vielleicht wäre das eher ein Fall von Wohltätigkeit. Es wäre lobenswert, wenn ich es tun würde, aber niemand kann mich dafür tadeln, wenn ich es nicht tue.“

„Aber beide Kinder haben doch das gleiche Bedürfnis.“

„Mag sein, aber wenn es um die eigenen Kinder geht, ist das nun mal etwas anders. Es macht eben einen Unterschied ob jemand zu meiner Familie gehört oder nicht.“

„Gut, das ist der entscheidende Punkt, auf den Miller seine Argumentation aufbaut: Die Arten von Beziehungen von Menschen begründen unterschiedliche Verpflichtungen. Stärkere Beziehungen begründen andere Verpflichtungen als schwache oder nicht vorhandene Beziehungen. Die Frage ist nun, welche Art von Beziehungen eine Nation begründet und ob diese Beziehungen so beschaffen sind, dass sie eine Bevorzugung der eigenen Nation rechtfertigen. Um diese Frage zu klären, untersucht Miller zunächst, was Freundschaft ausmacht. Freundschaft ist wie die Familie eine Art von Beziehung, die im Allgemeinen als besonders wertvoll gilt.“

„Da würde ich ihm Recht geben.“

„Schauen wir uns aber zuerst einen Typ von Beziehungen an, der nicht als wertvoll gilt: Die Beziehungen von Mitgliedern der Mafia. Nehmen wir einzelnes Mitglied der Mafia und nennen ihn Giovanni. Giovanni hat den Auftrag, in einem Bezirk in Neapel Schutzgelder einzutreiben und hin und wieder einen widerspenstigen Menschen zu ermorden. Da Giovanni kaum Skrupel hat, mit seinen Mafiosi ein freundschaftliches Verhältnis pflegt und in relativem Wohlstand lebt, mit dem er seine Familie ernähren kann, ist er mit seinem Leben zufrieden. Aber würden wir deshalb sagen, dass es die Mafia ist, die Menschen das Leben lebenswert macht?“

„Sicher nicht.“

„Warum Giovanni mit seinem Leben zufrieden ist, liegt daran, dass er genug Geld und nicht zuletzt Freunde und Familie hat. Die Mafia verschafft seinem Leben keinen besonderen Wert. Wir können uns vorstellen, hätte Giovanni einen anderen Lebensweg gehabt, eine andere Arbeitsstelle, hätte ihm nichts Grundlegendes gefehlt. Er hätte andere Freunde gehabt und sein Einkommen auf andere Weise verdient. Es ist im Gegenteil sogar wahrscheinlich, dass er mit seinem Leben ohne Mafia wesentlich zufriedener gewesen wäre. Außer vielleicht, er ist Sadist, aber diese Haltung ist ohne moralischen Wert und selbst dafür ist die Mafia nicht essentiell. Die Beziehung zur Mafia war ein Mittel an Geld zu kommen, sie hat nur einen instrumentellen Wert und kann durch etwas anderes ersetzt werden.

Anders ist es mit Freundschaft. Für Miller hat Freundschaft einen Eigenwert, einen sogenannten intrinsischen Wert. Wenn wir Freundschaft aus dem Leben von Menschen streichen, fehlt etwas Grundlegendes. Vielleicht kann ein Mensch diesen Mangel durch beruflichen Erfolg oder durch Drogen ausgleichen, aber ein Leben ohne Freundschaft erscheint uns doch als ein Leben, das mit einem Mangel behaftet ist.“

„Da würde ich ihm sofort Recht geben.“

„Ein zweiter Unterschied ist die Rolle von Pflichten. Auch in der Mafia gibt es Pflichten, zum Beispiel muss Giovanni verschwiegen sein und darf die kriminellen Aktivitäten nicht der Polizei verraten, wenn er nicht gerade lebensmüde ist. Auch in einer Freundschaft gibt es Pflichten: Freunde sollten Zeit füreinander haben und einander helfen.

Der Unterschied zwischen den Pflichten in der Mafia und in einer Freundschaft liegt darin, dass die Pflichten für eine Freundschaft essenziell sind, während sie dies für die Mafia nicht sind. Eine Mafia könnte so mächtig werden und so mit dem Staat und der Polizei verwoben sein, dass keine Notwendigkeit für Verschwiegenheit mehr bestünde und ein Verrat folgenlos bliebe. Verschwiegenheit hat einen instrumentellen Charakter, die dem Ziel dient, kriminelle Geschäfte machen zu können. Bei einer Freundschaft ist dies jedoch anders. Wenn sich Freunde keine Zeit mehr füreinander nehmen und sich in Notlagen im Stich lassen, verliert ihre Beziehung den Charakter der Freundschaft. Diese Pflichten sind für eine Freundschaft essenziell.“

„Auch einverstanden.“

„Der dritte Unterschied ist der Umgang mit Außenstehenden. Die Mafia beruht auf der Ungerechtigkeit gegenüber Nichtmitgliedern, da sie eine kriminelle Organisation ist. Die Mafia unterdrückt und bedroht Bürger eines Staates, missachtet deren Gesetze oder vergeht sich an labilen Menschen, die sie in die Drogensucht treibt. Es mag Freundschaften geben, in denen der Hass auf andere gepflegt wird, aber unfaires Verhalten gegenüber anderen Menschen ist natürlich kein essentieller Bestandteil einer Freundschaft.“

„Keine Frage.“

„Fassen wir zusammen: Eine Freundschaft hat einen intrinsischen Wert, in einer Freundschaft gibt es essenzielle Pflichten und Freundschaften sind an sich nicht unmoralisch gegenüber Außenstehenden. Diese drei Merkmale einer Freundschaft sind für Miller ausschlaggebend dafür, ob eine Beziehung besondere Pflichten begründet, die andere Formen einer Beziehung nicht haben. Gegenüber Freunden aber auch der eigenen Familie hat man besondere Verpflichtungen, die gegenüber einem beliebigen Mitbürger oder Menschen einer anderen Nation nicht bestehen. Die entscheidende Frage ist nun: Erfüllen auch die Beziehungen unter den Mitgliedern einer Nation diese drei Merkmale? Wäre dies der Fall hätten wir Gründe, unsere eigene Nation gegenüber anderen bevorzugt zu behandeln.“

„Schwer zu sagen.“

„Miller meint ja. Nationen haben für ihre Mitglieder einen intrinsischen Wert. Dieser intrinsische Wert ist für Miller eine Voraussetzung dafür, dass Nationen als Demokratien funktionieren und ihren Mitgliedern Schutz und soziale Unterstützung gewähren können. Er schreibt: ‚Landsleute müssen davon überzeugt sein, dass ihre Vereinigung an sich wertvoll ist, und sich darauf festlegen, sie über die Zeit hin zu erhalten, um die anderen Vorteile, die die nationale Solidarität mit sich bringt, genießen zu können.‘ Auch Pflichten sieht Miller als ‚integralen Bestandteil der Idee der Nation‘ an. Während eine Gruppe von Musikfreunden keine besonderen Verpflichtungen untereinander hätten, sei die nationale Identität mit Verantwortung verbunden. Ansonsten ‚könnte [die nationale Identität] nicht politische Werte wie soziale Gerechtigkeit oder deliberative Demokratie festigen oder Personen innerhalb eines generationenübergreifenden Projekts integrieren.‘ Miller schreibt:

‚Diese Wirkungsweisen setzen voraus, dass Nationen ethische Gemeinschaften sind, deren Mitglieder eine besondere Verantwortung haben, sowohl einander zu unterstützen wie auch ihre Gemeinschaft zu erhalten.‘

Wie sieht es mit der Ungerechtigkeit aus? Bedeuten die Beziehungen in einer Nation zwangsläufig Ungerechtigkeit gegenüber Außenstehenden? Miller weist darauf hin, dass wir es nicht als unmoralisch ansehen, wenn wir Familienmitgliedern Vorteile gewähren. Allerdings gibt es auch Bevorzugungen von Familienmitgliedern, die moralisch nicht akzeptabel sind, wie Vetternwirtschaft. Eine bevorzugte Behandlung von Mitgliedern der eigenen Nation ist also in einem (freilich nicht leicht zu bestimmenden) Rahmen moralisch zulässig.

Zu Handelsbeziehungen schreibt Miller, dass diese ‚potenziell ungerecht sind, aber nicht notwendigerweise.‘ Damit erfüllen nach Miller Nationen auch die dritte Bedingung. Es ist somit berechtigt zu sagen, dass Nationen besondere Pflichten begründen. Damit ist aber noch nicht geklärt, wie wir uns bei konkurrierenden Pflichten gegenüber anderen Staaten verhalten sollen.

Bedeuten besondere Pflichten gegenüber den Landsleuten, dass diese immer den Vorrang vor Pflichten gegenüber anderen Nationen haben?“

„Wahrscheinlich nicht. Denn mein Vater darf meinen Lehrer ja auch nicht bestechen, damit ich eine bessere Note in Englisch bekomme.“

„Richtig. Dies würde unter anderem bedeuten, dass man, um beispielsweise den Wohnungsbau oder das Bildungssystem zu fördern, andere Nationen ausbeuten darf. Die Pflicht, anderen Nationen nicht zu schaden, hat Vorrang vor der Pflicht, soziale Gerechtigkeit in der eigenen Nation zu fördern. Wie wir schon gesehen hatten, gilt das auch für die Hilfe für Menschen anderer Nationen, die ohne eigenes Verschulden in einer existentiellen Notlage sind, wie etwa durch eine Naturkatastrophe. Auch hier hat die Hilfe für andere Vorrang vor Pflichten gegenüber der eigenen Nation. Ähnliches gilt für Menschen, die unter schweren Menschenrechtsverletzungen leiden oder von diesen bedroht sind wie beispielsweise von einem Genozid.

Allerdings glaubt Miller, dass es hier eine Obergrenze gibt, ‚welche Opfer von Nationen […] verlangt werden können.‘ Wenn es aber darum geht, anderen Nationen zu helfen, die aus eigener Schuld in eine Notlage gekommen sind, dann ist es für Miller gerechtfertigt, Gerechtigkeitspflichten gegenüber der eigenen Nation die Priorität einzuräumen. Miller zieht also eine Grenze an der Stelle, an der andere Nationen wegen eigenem Verschulden in eine Notlage gekommen sind.

Auch gibt es für Miller keine globalen sozialen Gerechtigkeitspflichten, wie etwa die Pflicht, Bodenschätze an rohstoffarme Länder abzugeben. Gerade Letzteres ist typisch für den Partikularismus. Bei anderen Vertretern finden wir andere Begründungen als bei David Miller, für den soziale Bindungen und die politische Einheit der Nation entscheidend sind. So ist Gerechtigkeit für Thomas Nagel beispielsweise an die Durchsetzungsfähigkeit staatlicher Macht gekoppelt, die es auf globaler Ebene nicht gibt.“