Wieso die Abschaltung der letzten Kernkraftwerke richtig war
Friedrich Merz fordert ein „Rückbau-Moratorium“ für die abgeschalteten Kernkraftwerke. Doch Risiken und Kosten stehen gegen eine Rückkehr der Kernkraft.
Fast zwei Jahre nachdem mit Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 die letzten deutschen Kernkraftwerke abgeschaltet wurden, wird der Atomausstieg noch immer kontrovers debattiert. CDU und CSU forderten in einem Positionspapier vom November 2024 die Prüfung, ob man die zuletzt abgeschalteten Kernkraftwerke wieder in Betrieb nehmen kann. Und der designierte Kanzler Friedrich Merz sprach in seiner ersten Pressekonferenz nach der Wahl von einem „Rückbau-Moratorium“ für die abgeschalteten Kraftwerke.
Bei der Atomdebatte tritt – ähnlich wie bei der Debatte um die Kipppunkte der Erderwärmung – die Frage auf, welche Risiken eine Gesellschaft eingehen kann und sollte. Und wenn man von einer vernünftigen Risikopräferenz ausgeht, bei der die schlimmste Möglichkeit um jeden Preis vermieden werden soll, dann wird klar, dass die Entscheidung von Robert Habeck, die Druckwasserreaktoren auszuschalten, richtig war.
Die Maximin-Regel
Der spieltheoretische Fachbegriff, um ein risikobehaftetes Entscheidungskalkül zu beschreiben, ist die Maximin-Regel. Die Konsequenzen beim Eintritt eines bestimmten Ereignisses sind so katastrophal, dass auch eine nur geringe Wahrscheinlichkeit, dass dieses Ereignis eintritt, nicht akzeptabel ist.
Der Begriff wurde – genauso wie das bekanntere Konzept des Gefangenendilemmas – durch die 1957 erschiene Einführung Games and Decision von Duncan Luce und Howard Raiffa popularisiert und dann 1971 von John Rawls in der Theorie der Gerechtigkeit im Rahmen eines kontraktualistischen Gedankenexperiments verwendet; er benutzt die Maximin-Regel, um die Entscheidung der Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens in einem hypothetischen Urzustand zu beschreiben.
Rawls‘ Verwendung der Maximin-Regel wurde insbesondere von John Harsanyi kritisiert, aber Harsanyis Kritik überzeugt bestenfalls teilweise.
Harsanyis argumentiert, dass eine Person, welche der Maximin-Regel folgt, etwa aus Angst vor einem Flugzeugabsturz nicht von New York nach Chicago fliegen würde, um dort eine besser bezahlte Stelle anzunehmen. Bei einer sehr konsequenten Anwendung der Maximin-Regel träfe das sicherlich zu, in dem Fall dürfte man aber, wegen des Risikos eines Verkehrsunfalls, nicht einmal mehr vor die Haustür treten.
Der Grund dafür, dass Flugzeugabstürze mehr Medienaufmerksamkeit erfahren als Verkehrsunfälle, ist, dass bei einem Flugzeugabsturz meistens mehr Menschen sterben. Während die Gesellschaft die Toten bei Verkehrsunfällen mit Autos weitgehend toleriert, sind Verkehrsflugzeuge stärker reguliert. Die Boing 737 Max wurde zum Beispiel nach mehreren Abstürzen zeitweilige aus dem Verkehr gezogen. Für die Beurteilung von Gefahren wie dem von Flugzeugabstürzen oder dem Kippen des Weltklimas ergibt die Maximin-Regel Sinn.
Das gefährliche Restrisiko der Kernkraft
Bei Kernkraftwerken sind die Konsequenzen eines schlimmen Unfalls sehr extrem, und deswegen sollte auch hier die Maximin-Regel angewendet werden. Die Zahl der Toten, welche der Supergau in Tschernobyl gefordert hat, ist kontrovers; die bekannte Miniserie von HBO gibt im Abspann Schätzungen von 4.000 bis 93.000 Todesopfern an. Allgemein anerkannt ist jedoch die Tatsache, dass nach der Katastrophe mindestens 200.000 Menschen umgesiedelt wurden, und eine Sperrzone mit einem Radius von 30 km eingerichtet wurde (Angaben der IAEA).
Selbst wenn man annehmen will, dass es bei einem schweren Zwischenfall in einem Reaktor durch rechtzeitige Evakuierungen nur wenige Todesfälle gibt (bei den Arbeitern, die den havarierten Reaktor sichern müssen), wäre der Sachschaden extrem. In einer noch vor dem Super-Gau in Fukushima beauftragten Studie hatten die Versicherungsforen Leipzig 2011 ausgerechnet, wie hoch eine Versicherungsprämie für Kernreaktoren sein müsste. Dabei sind sie von einem Maximalschaden von 6 Billionen Euro ausgegangen. Wenn man die 2011 noch laufenden Kernkraftwerke hätte versichern wollen, so wäre zur Finanzierung der Versicherungsprämie ein Strompreis von 4 Euro pro Kilowattstunde erforderlich gewesen (anstatt 20 Cent).
Deswegen hat das Konzept des ‚Restrisikos‘ den Befürwortern der Atomkraft auch nicht geholfen. Der Begriff geht auf eine Debatte um ein von BASF geplantes Kernkraftwerk bei Ludwigshafen zurück, und sollte vorgaukeln, die Gefahr eines nicht mehr beherrschbaren Unfalls in einem AKW mit massiver Freisetzung von Strahlung sei wegen seiner geringen Wahrscheinlichkeit tolerabel. Nachdem in der Öffentlichkeit das Szenario eines Supergaus in der Nähe einer Großstadt bekannt wurde – „bis zu 100.000 Menschen auf der Stelle tot, weitere Opfer durch die freigesetzte Radioaktivität noch 20 Jahre später“ – wurde der Plan von BASF aufgegeben.
Die Begriffe ‚Größter anzunehmender Unfall‘ (GAU) und Supergau werden von den Kerningenieuren schon lange nicht mehr verwendet; stattdessen spricht man von einen „Auslegungsstörfall“ und einem „auslegungsüberschreitenden Störfall“. Wenn ein neues Risiko von Störfällen, das bislang nicht bekannt war, erkannt wird, dann lassen sich ältere Reaktoren grundsätzlich zwar nachrüsten, dies gilt aber nicht für alle Arten von Störfällen. Insbesondere stellte sich 2013 heraus, dass kein deutsches Kernkraftwerk einen gezielten Flugzeugabsturz durch Terroristen aushalten würde, und die Möglichkeiten, sie zum Schutz dagegen nachzurüsten, „außerordentlich begrenzt“ waren.
Sicherlich lässt sich eingestehen, dass es bei den Reaktoren der dritten Generation, wie Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2, ein geringeres Risiko für einen auslegungsüberschreitenden Störfall gibt, als bei Reaktoren der zweiten Generation. Der Katastrophen-Reaktor von Tschernobyl hatte keinen Sicherheitsbehälter, die Reaktoren in Fukushima hatten nur das in den 1960er von General Electric entwickelte Mark I Containment, welches in den Reaktorblöcken Fukushima I-III beschädigt wurde, so dass kontaminierter Dampf und Kühlwasser entwichen.
Aber das Risiko war auch bei den als letzte abgeschalteten Reaktoren nicht null. Ein Ereignis wie ein gezielter Flugzeugabsturz ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber die Störfälle in diesen Reaktoren verweisen auf ein grundsätzliches Problem dieses Reaktortyps.
Druckwasserreaktoren: technologische Fehlentwicklung
Betriebswirtschaftlich kann es Sinn ergeben, Kapitalgüter, die finanziell abgeschrieben sind, weiter zu nutzen. So lange ein Fahrzeug noch durch den TÜV kommt, kann man es weiter fahren, und es braucht erst dann ausrangiert werden, wenn die Kosten für eine Reparatur unverhältnismäßig hoch sind. Bei Kernkraftwerken lässt sich diese betriebswirtschaftliche Logik nicht anwenden, weil die Kosten bei einem durch unzureichende Wartung verursachten Unfall viel zu groß wären.
Bei drei der als letztes abgeschalteten Reaktoren traten Probleme auf, die eine intensive Wartung erforderten: Isar 2 war wegen einem Ventilschaden bereits 2022 zeitweilig abgeschaltet, Neckarwestheim 2 und Emsland hatten Probleme mit loch- und rissbildender Korrosion in den Dampferzeugerheizrohren, wie die Bundesregierung auf einer Anfrage der LINKEN hin bestätigt hatte (Drucksache 19/31989).
Dabei handelt es sich um ein grundsätzliches Problem des Druckwasserreaktors. Dieser war in den USA unter Admiral H.G. Rickover und Alvin Weinberg als Antrieb für Atom-U-Boote entwickelt worden. Wie Weinberg selbst in seiner Autobiographie schreibt: Der Druckwasserreaktor entstand nicht zu kommerziellen Erzeugung von Elektrizität, und ist nicht preisgünstiger oder inhärent sicherer als andere Reaktortypen, sondern wurde entwickelt, weil er kompakt und einfach ist und sich damit als Antrieb für Schiffe eignet. Wegen der Gefahren der Radioaktivität stellte sich die Stromerzeugung in einem Druckwasserreaktor als viel teurer heraus, als zunächst angenommen; ein Ventil kann fünf Mal so viel kosten, wie bei einem gewöhnlichen Kraftwerk, und die Wartung der Pumpen, Wärmetauscher und ähnlicher Komponenten, die der Strahlung ausgesetzt sind, ist wesentlich zeitintensiver.
Alvin Weinberg verfolgte später das Projekt eines Thorium-Flüssigsalzreaktors; es scheiterte jedoch Anfang der 1970er Jahre aus politischen Gründen. Die US-Regierung unter Nixon setzte stattdessen auf den mit Natrium gekühlten Schnellen Brüter. Weinberg verlor in diesem Zusammenhang 1973 seine Stelle als Leiter des Oak Ridge National Laboratory, auch weil er die Sicherheitsprobleme des Druckwasserreaktors deutlich angesprochen hatte.
Die Einstellung, bei der Risikobeurteilung von dem maximal hypothetischen Unfall auszugehen, teilte Weinberg zwar nicht, sondern plädierte für eine probabilistische Risikobewertung, bei der Beurteilung der Konsequenzen eines schlimmen Unfalls im Zusammenhang mit ihrer geringen Wahrscheinlichkeit gesehen werden sollte. Für Weinberg sollte diese Frage jedoch nicht von Ingenieuren entschieden werden, sondern nur durch die Öffentlichkeit.
Der wirtschaftliche Unsinn einer Wiederinbetriebnahme
Angesichts der teuren Bauteile eines Druckwasserreaktors wird klar, wieso die Energiekonzerne in Deutschland auch gar kein Interesse haben, die Druckwasserreaktoren wieder in Betrieb zu nehmen. Die Süddeutsche Zeitung zitiert EnBW-Chef Georg Stamatelopoulos: Der Primärkreislauf von Neckarwestheim 2 ist bereits dekontaminiert, der Einbau eines neuen Dampferzeugers würde 7 Jahre dauern. Es handelt sich um spezialisierte Bauteile, die, weil sie radioaktivem Dampf ausgesetzt sind, höchsten Materialanforderungen genügen müssen.
Ähnlich beim Kraftwerk Isar 2. Das Handelsblatt zitiert den Chef von Eon, Leonhard Birnbaum: er habe „überhaupt keine Lust“ auf Merz' Atomkraft-Plan. Da Merz nicht die Absicht hat, sich mit den Stimmen der AfD zum Kanzler wählen zu lassen, wird aus dieser Idee ohnehin nichts werden – die SPD hält am Atomausstieg fest.
Immerhin hatte der bayrische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) die Kosten für eine Wiederinbetriebnahme von Isar 2 mit „mehreren Milliarden Euro“ angegeben (die Tagessschau konnte diese Zahlen nicht verifizieren). Die Vermutung liegt nahe, dass die Atombefürworter von CDU und CSU deswegen keine genauen Zahlen für die Reaktivierung nennen, weil jede Kostenprognose so hoch ist, als der wirtschaftliche Unsinn der Wiederinbetriebnahme offenkundig wird.
Spätestens seit den Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima ist sich die Öffentlichkeit der Gefahren der Kernkraft bewusst, und daher haben große Teile dieser Öffentlichkeit konsequent die Abschaltung der Kernkraftwerke gefordert. Die Befürworter der Kernkraft hingegen gefallen sich oft in der Pose einer wissenschaftlichen Rationalität. Doch selbst wenn die Risiken der Kernkraft beherrschbar sind und man von den Kosten der Entsorgung des hochradioaktiven Atommülls absieht: es bleibt die Frage, wie hoch die Kosten für Wartung und Instandsetzung bei Druckwasserreaktoren sind, wenn die geforderten höchsten Sicherheitsstandards eingehalten werden müssen.
Bei den zu erwartenden Wartungskosten war es richtig, die Druckwasserreaktoren abzuschalten, bevor man aus Kostengründen Kompromisse bei der Sicherheit eingeht.
Mit den Fortschritten bei Solar- und Windstrom, und der Batterietechnologie, ist Ökostrom deutlich kostengünstiger geworden. Deswegen ist es Blödsinn, wenn CDU und CSU jetzt über eine Wiederinbetriebnahme der Kernkraftwerke diskutieren.