Brüsseler Spitzen

Beschleunigter Zerfall

| 17. März 2021
Rahulla Torabi

Eine Art Götterdämmerung ist möglicherweise nicht so weit entfernt, wie man vor einem Jahr noch gedacht haben mag.

Frühling liegt in der Luft, und in Brüssel sollte jetzt reges Treiben herrschen. Man erinnert sich an von der Leyens Next Generation EU, kurz NGEU, den 750 Milliarden Corona Recovery Fund, aufgeteilt nach einer unverständlichen Formel zwischen den Mitgliedstaaten, allen 27 und zu borgen beim Kapital.

Vereinbart wurde er im Juli letzten Jahres, und man könnte denken, dass die EU inzwischen voll damit beschäftigt sein müsste, Schuldscheine an ihre Lieblingsbanken zu verkaufen. Die würden diese dann mit einem kleinen, aber feinen Gewinn an die Europäische Zentralbank weiterverkaufen, dadurch ihre Aktionäre glücklich machen und gleichzeitig die quantitative Lockerung vorantreiben, was helfen würden, die Vermögenspreise weiter hoch zu halten und so ihre Aktionäre noch ein bisschen glücklicher zu machen („Stabilisierung der Finanzmärkte“ ist der politisch korrekte Begriff).

Nun, wir sind keine Banker, also müssen wir es nicht wirklich wissen, und sollten so sensible Geschäfte nicht sowieso besser hinter verschlossenen Türen abgewickelt werden?

Aber warte. Hätten wir nicht auch schon von mindestens einigen der 27 nationalen Parlamente hören sollen, die dem in den Verträgen der alten Generation nicht vorgesehenen Geldproduktionsprogramm der nächsten Generation den erforderlichen Segen geben müssen? Und sollten wir nicht vor allem zusehen können, wie die Mitgliedstaaten die Projekte zusammenstellen, die mit dem Next Generation-Geld finanziert werden sollen? Nach Maßgabe der NGEU sind diese dann an die Kommission weiterzuleiten, die, wie es hieß, prüfen wird, ob das Geld für Investitionen, und zwar zusätzliche, und nicht für Konsum oder für Steuererleichterung verwendet werden soll.

Man erinnert sich: Die Idee war, das frische Corona-Geld für etwas zu verwenden, das mit Corona zu tun hat und gleichzeitig die Länder „wettbewerbsfähiger“ macht, was auch immer das bedeutet, bis es (nach 2027, so hieß es) zurückgezahlt werden soll. Bisher haben wir nur von Italien gehört, dem Hauptnutznießer, der 209 Milliarden zugeteilt bekommen hat (gefolgt von Spanien mit 140 Milliarden), wo der Corona-Windfall die Regierung Conte wegpustete, weil sie sich als unfähig erwies, ein für alle Interessengruppen und Parteifamilien akzeptables Projektportfolio zusammenzustellen.

Contes Platz wird seit kurzem von dem unverzichtbaren Mario Draghi eingenommen, mit einer Allparteienkoalition, die die nationale Wiederherstellungsplanung sofort an McKinsey übergab, für eine, wie man annehmen kann, entsprechende Gebühr; so bleibt die Sache jedenfalls in der globalen Finanzfamilie. Und wer in den Ausschüssen in Brüssel sitzen wird, die entscheiden sollen, welche Projekte der Mitgliedstaaten es wert sind, finanziert zu werden, und welche nicht, wissen wir auch nicht.

Natürlich müssen wir, wie gesagt, nicht alles wissen, und die EU, einschließlich ihrer Next Generation, sollte ja sowieso keine Demokratie sein. In der Zwischenzeit können wir uns mit der EU-Impfstatistik beschäftigen. Mitte März sah sie seltsamerweise ganz ähnlich aus wie Mitte Februar: Deutschland 7,4 Prozent gegenüber 5,0 Prozent; Italien 7,5 nach 4,9, Frankreich 6,8 nach 4,3 und Spanien 8,1 nach 5,2.

Zum Vergleich: In Großbritannien war die Impfquote im selben Zeitraum von 23,0 auf 35 und die USA von 15,9 auf 20 Prozent gestiegen, während Israel bereits mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung geimpft hat, nämlich 58 Prozent. Selbst in Deutschland, wo Regierungskritiker Gefahr laufen, als AfD-Sympathisanten aus dem Verfassungsbogen ausgeschlossen zu werden, vergleichen immer mehr Menschen die Impfraten in der EU neidisch mit denen in Post-Brexit-Großbritannien, und sogar mit denen in den USA.

Andernorts geht die Geduld bereits zur Neige. Dänemark und Österreich gründen ein Joint Venture mit Israel, um zu lernen, wie man Impfstoffe beschafft und abgibt. Italien verhängt ein Exportverbot für den Versand von AstraZeneca-Impfstoff nach Australien, nur um von deutschen Freihändlern belehrt zu werden, dass wir uns alle an die EU-Handelsabkommen halten müssen. Der französische Präsident fordert "europäische Solidarität", während er sich weigert, den ausländischen AstraZeneca-Impfstoff zu verwenden, unterstützt von Merkel, die die Deutschen wissen ließ, dass sie mit ihren 66 Jahren sich niemals mit AstraZeneca impfen lassen würde, da dies nur für Menschen unter 65 funktioniert. Warten auf Sanofi? Wenig später kündigt AstraZeneca an, die Lieferungen nach Deutschland aufgrund von "Exportbeschränkungen" unspezifischer Art um die Hälfte zu reduzieren, nachdem Biden, der nette „America second“- Präsident, angekündigt hatte, dass es keine Impfstoffexporte aus den USA geben werde, bis alle Amerikaner geimpft sind.  

Mittlerweile sind Ungarn und andere dabei, Impfstoffe aus Russland und China zu kaufen. Victor Orban, der ungarische Strongman, scheint Brüssel ganz abgeschrieben zu haben und versucht, sich mit seinem russischen Seelenverwandten Putin zusammenzuschließen. Österreich und vier weitere Mitgliedsländer fordern eine Untersuchung des von der Leyen‘schen „Impfstoffbasars“, aber weil die Verträge mit den Herstellern geheim sind und bleiben, ist da nicht viel zu untersuchen. Und Deutschland, zusammen mit ein paar anderen Ländern, setzt über Nacht die Verwendung von AstraSeneca aus, vermutlich als Vergeltung oder in Vorbereitung des nächsten Lockdowns. Irgendwann wird jemand die Zahl der Toten berechnen, die auf das Konto der Verlangsamung der Impfungen gehen. Zwischendurch beschränkt sich die EU darauf, die Mitgliedstaaten zu ermahnen, ihre gegenseitigen Grenzen offen zu halten, unabhängig von unterschiedlichen Infektionsraten in grenznahen Gebieten.

Nicht, dass es keine guten Nachrichten gäbe, wenn auch nicht über die EU. Die Demokratie kehrt dahin zurück, wo sie hingehört, indem die nationalen Regierungen auf die harte Tour lernen, dass das Virus zu wichtig ist, um es den Virologen zu überlassen – und dass sie ihren Wählern mehr schulden, als sie einzusperren, bis die Virologen sagen, es ist genug, ein Zeitpunkt, den viele nicht mehr erleben werden.

Angela Merkel, die sich irgendwann in die Hände einer Gruppe von ZeroCovid-Fanatikern begeben zu haben schien, die sich aus Virologen, theoretischen Physikern und Philosophieprofessoren zusammensetzte, machte eine ihrer unnachahmlichen Kehrtwenden, um trotz einer steigenden sogenannten „Sieben-Tage-Inzidenz“ und angesichts jenes mysteriösen Biests, das in Deutschland als „britische Mutante“ bezeichnet wird, soziales Leben wieder zuzulassen. Das kann sich aber auch wieder ändern: Vermehrtes Testen erhöht die gemessene Sieben-Tages-Inzidenz, und die AstraZeneca-Sperre tut das Ihre.

Ohnehin ist abzuwarten, ob die Regierungen in der Lage sein werden, die anspruchsvolleren gezielten Maßnahmen zu entwickeln, die erforderlich sind, um das Virus so in Schach zu halten, dass man in einer komplexen städtischen Gesellschaft mit ihm leben kann. Derzeit können sie im Bann von Brüssel nicht einmal eine Impfkampagne organisieren.

Ansonsten sind die Nachrichten schlecht; hier eine kleine Auswahl. Die nächste Migrantenwelle wartet darauf, an Bord zu gehen, ohne dass die EU den Winter zur Vorbereitung genutzt hätte. Die deutsche politische Klasse ist begeistert, dass Biden die amerikanischen Truppen in Afghanistan belässt; so kann Deutschland dasselbe tun, in der Hoffnung, dass solange die Taliban nicht offiziell die Macht übernommen haben, weniger afghanische Flüchtlinge nach Europa, und das heißt: nach Deutschland, kommen. Mit dem nach Corona geschrumpften BIP wird es etwas einfacher sein, Biden seinen Herzenswunsch – zwei Prozent des BIP für Rüstung – zu erfüllen. Allerdings will Biden auch mehr Feindseligkeit gegenüber Russland und mehr Unterstützung für die Ukraine. Mittlerweile scheint Putin die Hoffnung aufgegeben zu haben, dass die amerikanischen und europäischen Sanktionen jemals aufgehoben werden; das ist besonders für Deutschland ein Problem, das, wenn es einmal darauf ankommen sollte, nicht nur die Bodentruppen liefern muss, sondern auch die Ziele für russische Atomraketen.

Und im Hintergrund wartet Nord Stream 2, die Gaspipeline durch die Ostsee von Russland nach Deutschland, bekämpft von den USA, die Deutschland ihr Flüssiggas verkaufen wollen, ebenso wie von Frankreich, das Deutschland stattdessen seinen Nuklearstrom verkaufen will, und gehasst von Polen und natürlich der Ukraine. Alles, was Merkel hier verlangen kann, ist, dass ihre Freunde, einschließlich von der Leyen, ihrer Pipeline erst nach ihrer Pensionierung im Herbst den Rücken brechen und es ihren Nachfolgern überlassen, mit den Folgen für Merkels Energiewende zurechtzukommen. Fügt man die Anti-Brexit-Fanatiker in Brüssel und Paris hinzu, die mit Eifer an der irischen Grenze zündeln, dann ist eine Art Götterdämmerung möglicherweise nicht so weit entfernt, wie man vor einem Jahr vielleicht noch gedacht haben mag.