Gesundheit, Gini-Koeffizient und Globalisierung
Die soziale Ungleichheit in Deutschland nimmt zu, sagt Karl Lauterbach. Besser hätte der Gesundheitsminister darüber gesprochen, warum die Politik im Kampf gegen die soziale Ungleichheit nicht wirklich vorankommt.
Auf dem Kongress Armut und Gesundheit an der Freien Universität Berlin, der am 5. März begann, sagte Gesundheitsminister Karl Lauterbach in seiner Eröffnungsrede unter anderem, die soziale Ungleichheit in Deutschland nehme zu. Gefühlt ist das sicher so – und je nachdem, wie man die soziale Ungleichheit misst und welche Daten man dazu heranzieht, kommt man auch zu unterschiedlichen Ergebnissen. Insofern muss man diese Bemerkung nicht auf die Goldwaage legen. Hätte er die Datenlage gekannt, hätte er den zuletzt gemessenen kleinen Rückgang womöglich als Erfolg der Bundesregierung verkauft, das hätte die Sache nicht besser gemacht.
Ein gängiges Maß für soziale Ungleichheit ist der „Gini-Koeffizient“, benannt nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini. Er nimmt Werte zwischen 1 (maximale Ungleichheit) und 0 (Gleichverteilung) an. Der Gini-Koeffizient misst also nicht das Wohlstandsniveau: er ist in Ostdeutschland deutlich niedriger als in Westdeutschland, obwohl die Einkommen im Westen im Durchschnitt höher sind. Bei Wikipedia wird die Grundidee des Gini-Koeffizienten anschaulich erklärt, auf die Feinheiten kommt es hier nicht an.
Legt man die Daten der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung zugrunde, wie sie das Statistische Bundesamt ausweist, so zeigt sich in den letzten Jahren weder beim Einkommen noch beim Vermögen eine Zunahme sozialer Ungleichheit. Allerdings gilt es zu bedenken, dass die zeitweise horrende Inflation einkommensschwächere Gruppen erheblich in Bedrängnis gebracht hat, was sich so nicht im Gini-Koeffizienten niederschlägt.
Die Ungleichheit der Markteinkommen
Des Weiteren gib die folgende Grafik die Einkommensverteilung nach Sozialtransfers wieder, nicht die Ungleichheit der Markteinkommen. Im zeitlichen Trend der letzten Jahre gibt es bei den Gini-Koeffizienten vor und nach Sozialtransfer zwar keine relevanten Unterschiede, aber für die psychologische Wahrnehmung sozialer Ungleichheit ist es sicher nicht folgenlos, ob man sein Geld durch seine eigene Arbeit verdient oder auf Sozialleistungen angewiesen ist. Vor Sozialtransfers lag der Gini-Koeffizient in Deutschland 2022 bei 0,353, nach Sozialtransfers bei 0,288.
Dieser Sachverhalt wiegt in einer Gesellschaft, die das Versprechen „Wohlstand für alle“ bemüht, besonders. Ungleichheit einerseits als Motivation für mehr Anstrengung in der Arbeitswelt zu legitimieren und andererseits dann, wenn das Wohlstandsversprechen für die sozial Benachteiligten brüchig wird, von „Sozialneid“ zu sprechen, ist für die politische Kommunikation ein schmaler Grat.
Das wird deutlicher, geht man in der Zeit etwas länger zurück. In den 1990er Jahren war die Einkommensungleichheit deutlich niedriger als heute, wie zum Beispiel der WSI-Verteilungsmonitor dokumentiert. Den niedrigsten Wert in den letzten 30 Jahren das Jahr 1999 mit einem Gini-Koeffizienten von 0,248 auf.
Bei der Vermögensverteilung in Deutschland ist zwar den Daten des Statistischen Bundesamtes zufolge ebenfalls kein Anstieg festzustellen, sie ist aber mit einem Gini-Koeffizienten von 0,727 im Jahr 2022 viel ausgeprägter als die Ungleichheit der Einkommen:
Dabei konzentrieren sich nicht nur die ganz großen Vermögen in Deutschland auf einen kleinen Kreis reicher Leute. Eine wichtige Rolle spielt hier auch, dass Deutschland eine der niedrigsten Wohneigentumsquoten in Europa hat, etwa 20 Prozent unter dem europäischen Durchschnitt. Die sogenannten „vermögenswirksamen Leistungen“, mit denen die Bundesregierung die Vermögensbildung der Beschäftigten fördern will, werden daran gewiss nichts ändern. Sie belaufen sich derzeit auf 40 Euro im Monat. Damit hat man ein Reihenhaus im Münchner Umland in ca. 2.000 Jahren angespart. Das erleben die Wenigsten.
Umverteilung hat in Deutschland keinen guten Ruf
Doch gegen eine Korrektur der am Markt entstandenen Ungleichheit gibt es großen Widerstand. Der Mindestlohn beispielsweise wurde lange mit dem Argument bekämpft, er schade der Wirtschaft und vernichte Arbeitsplätze, bei der Vermögens- und Erbschaftssteuer wird mit der gleichen Gefahr gedroht. Bei der Erbschaftssteuer kommt oft noch das das eigenartige Argument dazu, dieses Vermögen sei doch schon vom Erblasser versteuert worden und dürfe nicht noch ein zweites Mal versteuert werden. Würde man, wenn man von seinem bereits versteuerten Einkommen Lebensmittel kauft oder Benzin tankt, fragen, warum man hier über Verbrauchssteuern erneut zur Kasse gebeten wird, würde das als Argument vermutlich kaum verfangen. Ist halt so.
Darüber, dass soziale Ungleichheit zu gesundheitlicher Ungleichheit führt, muss man eigentlich keine Worte mehr verlieren. Es gibt vermutlich keinen epidemiologischen Befund, der durch mehr Studien belegt ist. Von daher wäre es interessanter gewesen, Karl Lauterbach hätte bei seiner Rede mehr darüber gesprochen, warum die Politik bei der Bekämpfung sozialer Ungleichheit nicht wirklich vorankommt, was das mit Machtverhältnissen zu tun hat, mit der Globalisierung, veränderten Arbeitsmärkten, schwächelnden Gewerkschaften, vielleicht auch mit Ideologie und fehlender Aufklärung außerhalb der Medizin, statt nur einmal mehr die Erwartungshaltung des Publikums zu bedienen, dass soziale Ungleichheit krank macht.