Nahost-Konflikt

Ein Zwei-Staaten-Lösungs-Mittel

| 16. April 2024
IMAGO / ZUMA Wire

Seit langem fordern die westlichen Länder einen eigenständigen palästinensischen Staat. Das scheiterte bisher an der Blockade Israels. Mit dem blutigen Konflikt in Gaza besteht eine neue Dringlichkeit. Für eine Erfolgschance müsste die EU ihre wirtschaftliche Stärke einsetzen.

Selten war bei einem Großthema der internationalen Politik mehr Heuchelei. Als Forderung wird die Zwei-Staaten-Lösung für den Israel-Palästina-Konflikt von westlichen Regierungen seit gefühlten Ewigkeiten vorgetragen. Aber wenn Israel einfach nicht mitspielte, gab es als Reaktion darauf nicht mehr als freundliches Achselzucken. Denn die fast bedingungslose Unterstützung des Landes gilt in Deutschland als feierlich vorgetragene ‚Staatsräson‘ – ein eigentlich historisch vor-demokratischer, nicht-justiziabler und deshalb in den Folgen völlig unbestimmter Begriff. Ähnliches lässt sich bei der Weltmacht USA beobachten, die das Land als ihren unter allen Bedingungen zu sichernden Vorposten in Nahost verstehen.

Die darin liegende Schizophrenie verdeutlicht nichts besser als das Geschehen im Frühjahr 2024. Unten schießt Israels Armee mit amerikanischer Ausrüstung auf die Bevölkerung im Gaza, oben werfen US-Flugzeuge per Fallschirm ein paar Lebensmittel für diese ab. Denn die Regierung Biden sieht sich über Monate hinweg politisch nicht in der Lage, die militärisch wie finanziell völlig von ihr abhängige Regierung Israels zu einem Mindestmaß an Menschlichkeit trotz klarer völkerrechtlicher Verpflichtung zu bewegen, also ausreichend Wasser, Nahrung, Medikamente für die Zivilbevölkerung bereitzustellen. Das wird auch in der amerikanischen Öffentlichkeit zunehmend als verstörend empfunden.

Die deutsche Bundesregierung nutzt ihre Eingriffsmöglichkeiten ebenfalls nicht. Schon im November 2023 hieß es, man habe seine Rüstungsexporte dorthin gut verzehnfacht. Von etwaigen Bedingungen dafür oder bei folgenden Lieferungen wird nicht berichtet. Obwohl Deutschland hinter den USA Israels zweitwichtigster Waffenlieferant ist. Dafür beteiligt sich Deutschland jetzt an Luft- und Seebrücken, während Israels Regierung den viel besser geeigneten Landweg zur Versorgung des Gaza-Streifens größtenteils blockiert. Wie will man eine zukünftige Zwei-Staaten-Lösung befördern, wenn man nicht einmal die jetzigen Völkerrechtsverletzungen Israels verhindern kann oder will?

Auf Einsicht dort zu hoffen, ist wenig erfolgversprechend. Das liegt nicht nur an der sehr rechten Regierung Netanjahu, wie gerne zur eigenen Beruhigung unterstellt wird: immerhin 68 Prozent aller jüdischen Israelis finden es laut einer Umfrage richtig, der Zivilbevölkerung in Gaza jegliche humanitäre Hilfe zu verweigern.

Anderswo in Nordamerika und Europa ist man mit seinen allgemeinen Prinzipien in größerer Übereinstimmung als hierzulande. Das kanadische Parlament hat mit überwältigender Mehrheit für einen Stopp der Waffenexporte gestimmt und die dafür zuständige Regierung zugesagt, das auch umzusetzen. Auf Antrag von renommierten NGOs wie Oxfam entschied ein niederländisches Berufungsgericht, dass Ersatzteile für Kampfflugzeuge nicht mehr an Israel geliefert werden dürfen, wegen der hohen Wahrscheinlichkeit, dass damit Verstöße gegen das humanitäre Kriegsrecht unterstützt werden würden. Irland ist dem von Südafrika initiierten Verfahren vor dem ICJ zur Feststellung und Unterbindung israelischer Völkerrechtsverletzungen beigetreten.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrel erklärt mit Verbitterung, dass vor dem Krieg Gaza das größte Freiluftgefängnis gewesen sein, nun aber der größte Freiluftfriedhof. Borrel hält Israel auch in der Zukunft für innenpolitisch unfähig, eine Zwei-Staaten-Lösung umzusetzen. Er will deshalb diese notfalls gegen dessen Willen „von außen aufzuzwingen“. Und die Premierminister von Irland und Spanien haben dazu auch eine Umsetzungsidee. Sie verlangen von der EU eine Überprüfung der Handelsbeziehungen. Damit wird ein interessanter Hebel angesprochen, der hier im Folgenden diskutiert und wo auch eine mögliche Ausgestaltung vorgestellt werden soll.

Die wirtschaftlichen EU-Israel-Beziehungen

Die erste dabei zu stellende Frage ist, ob der Handel zwischen der EU und Israel ausreichend groß genug wäre, um über veränderte Bedingungen einen Einfluss ausüben zu können. Das ist zu bejahen. Aktuell hat die EU einen Anteil an den israelischen Ausfuhren von 24,8 Prozent. Sie ist damit Handelspartner Nummer eins, knapp vor den USA mit 24,6 Prozent. Würde die Europäische Union mit diesem Hebel tätig werden, wäre weiter zu erwarten, dass viele andere Länder – wenn auch vermutlich nicht die USA, zumindest nicht zunächst – nachziehen würden. Der Anteil von China ist zum Beispiel 6,1 Prozent, von Indien 4,4 Prozent, des Vereinigten Königreichs 4,1 Prozent, der Türkei 3,1 Prozent, von Brasilien 2,6 Prozent etc. Und das Level an Exporten aufrechtzuhalten, ist für Israel von hoher wirtschaftlicher Bedeutung, hat es doch heute schon ein erhebliches Außenhandelsdefizit aufzuweisen.

Die zweite Frage ist, auf welcher Basis finden die Handelsbeziehungen zwischen Israel und der EU heute statt? Rechtliche Grundlage ist das Assoziationsabkommen von 2000. Es sieht den Wegfall aller Zölle und Maßnahmen mit ähnlicher Wirkung vor, mit den üblichen Sonderregelungen, wenn Teile oder Vorprodukte aus Drittländern darin mitenthalten sind. Eigenartigerweise findet sich in dem gesamten Dokument keine Erwähnung der besetzen Gebiete oder der Rechte der Palästinenser oder der Zwei-Staaten-Lösung. Erst langsam hat die EU wenigstens eine Position entwickelt, dass Produkte von Siedlern aus den besetzten Gebieten besonders gekennzeichnet werden müssen. Die Legitimität dieses Vorgehens wurde vom EuGh abschließend bestätigt.

Drittens wird in dem Abkommen neben den ökonomischen Regelungen auch der ‚politische Dialog‘ festgeschrieben. Deshalb findet sich darin dieser Artikel 2:

„Die Beziehungen zwischen den Vertragsparteien ebenso wie alle Bestimmungen des Abkommens beruhen auf der Achtung der Menschenrechte und der Grundsätze der Demokratie, von denen die Vertragsparteien sich bei ihrer Innen- und Außenpolitik leiten lassen und die ein wesentliches Element dieses Abkommens sind.“  

Mit Bezugnahme darauf könnte das Assoziationsabkommen von Seiten der EU also problemlos ausgesetzt werden. Die Menschenrechte der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und ihr Recht auf politische Mitwirkung werden eklatant verletzt, bisher ohne Konsequenzen für den Verursacher.

Einer eventuellen Klage Israels vor dem Europäischen Gerichtshof gegen eine Aussetzung des Abkommens kann man dabei sehr gefasst entgegensehen. Denn es gibt bereits einen interessanten Präzedenzfall. Die Europäische Union wollte mit Marokko Verträge schließen, die die von dort gegen internationales Recht besetzte Westsahara miteinschließen sollte. Die Befreiungsbewegung Frente Polisario klagte dagegen und wurde vom EuGH mit der Begründung bestätigt: ‚Die Zustimmung der Bewohner der Westsahara sei zu Unrecht nicht eingeholt worden‘.

Konkrete Umsetzung

Handelsbeschränkungen mit dem Ziel, dadurch einen politischen Druck auszuüben, sind gerade in neuerer Zeit nicht selten. Das aktuell bedeutendste Beispiel sind die des Westens gegen Russland wegen des Ukraine-Kriegs. Sanktionen sind bei Erfüllung der folgenden Bedingungen besonders wirkungsvoll:

  • Das zu sanktionierende Land ist nicht allzu groß.
  • Viele relevante Staaten machen bei den Sanktionen mit.
  • Das Sanktionsregime ist möglichst umfassend.

Israel ist bevölkerungsmäßig ein vergleichsweises kleines Land und eine breite weltweite Beteiligung wahrscheinlich, sollte die EU den Mut haben vorzulegen. Um auch die dritte Bedingung zu erfüllen, wird im Folgenden sinnvollerweise davon ausgegangen, dass alle Exportprodukte ausnahmslos erfasst werden, von der Landwirtschaft über die Industrie samt den begehrten Rüstungsgütern, bis hin zu Dienstleistungen.

An breiten Sanktionen stehen bei Importen vor allem zwei Varianten zur Verfügung, Importstopps oder Zölle. Letztere sind hier aus mehreren Gründen zu bevorzugen.

Erstens laufen Importstopps bei der gegenwärtigen Anti-BDS-Positionierung in mehreren westlichen Staaten Gefahr, in der veröffentlichten Meinung darunter subsumiert zu werden. Das kann man vermeiden. Was man sicher nicht vermeiden kann, wird eine heftige israelische Kritik gegenüber jeder Form von politischem oder ökonomischem Druck sein. Schon der in der quantitativen Wirkung höchst bescheidene EU-Beschluss, Produkte von den völkerrechtlich als illegal anzusehenden Siedlungen in den besetzten Gebieten auch nur zu kennzeichnen, wurde von Israels Regierung als „extrem und diskriminierend“ bezeichnet. Und ein früherer Außenminister verlautbarte, fast schon erwartungsgemäß: „die Vorschrift erinnere ihn an den gelben Stern, den Juden zur Zwangskennzeichnung im Nationalsozialismus tragen mussten.“

Zweitens sind Importstopps von der Anlage her eine überwiegend binäre Strategie, während Zölle eine mehr graduelle darstellen (für das Protokoll: man kann natürlich auch Importe nur beschränken statt verbieten und Zölle prohibitiv hoch ansetzen). Damit lassen Einfuhrabgaben dem zu sanktionierenden Land zeitlichen Spielraum, seine bisherige politische Positionierung angesichts der dann damit einhergehenden Kosten zu überdenken.

Drittens und damit zusammenhängend, bleiben Handelsbeschränkungen immer eine zweitschneidige Sache, da auch die importierende Seite sich neu orientieren muss, etwa alternative Zulieferer zu suchen hat.

Viertens schließlich kann man Zollsätze sehr einfach variieren und wenn man etwaige Steigerungen vorher als geplant ankündigt, werden nicht nur die Erschwernisse für die sanktionierte Volkswirtschaft jetzt, sondern auch die dann gestiegenen in der baldigen Zukunft sofort transparent.

Konkret wird deshalb folgendes Verfahren mit diesen fünf Details vorgeschlagen:

  • Zu einem nächstmöglichen Zeitpunkt wie etwa den 1. Januar 2025 erhebt die EU einen spürbaren, aber nicht prohibitiven Zoll auf alle israelischen Produkte und Dienstleistungen von (zum Beispiel) 10 Prozent. Das Zollregime hat ein einziges Ziel, nämlich eine Zwei-Staaten-Lösung im weiten Sinne für Israel-Palästina durchzusetzen.
  • Mit Beginn dieses Regimes wird zugleich angekündigt, dass der Zollsatz mit jedem Jahr, wo das Ziel nicht erreicht ist, signifikant steigen wird, also zum Beispiel jeweils um wieder 10 Prozent. Das erhöht den Druck auf Israel, Verhandlungen dazu nicht wie bisher ewig hinauszuzögern.
  • Um zu verhindern, dass die Gegenseite, die Vertreter von Palästina – wer immer das dann konkret sein wird –, die Situation ausnutzt, um ihrerseits durch eine Verzögerungstaktik Verhandlungen nicht rasch zu einem positiven Ende kommen zu lassen, wird ein Höchstsatz definiert. Der könnte dann etwa bei 50 Prozent liegen und würde bei Beginn 2025 im Jahr 2029 eintreten.
  • Solche Verhandlungen können sich lange hinziehen, so dass auch positive Entwicklungen darin trotzdem parallel mit Zollsteigerungen einhergingen. Um deren Ernsthaftigkeit zu befördern und zu belohnen, sollte das Europaparlament deshalb die Chance haben, bei sichtbaren Fortschritten die nächste Zollsteigerung per Mehrheitsbeschluss für jeweils ein Jahr auszusetzen.
  • Sind die Verhandlungen für beide Seiten zufriedenstellend beendet und wird das Ergebnis umgesetzt, endet das Zollregime. Das alte Assoziationsabkommen mit Israel tritt wieder in Kraft und ein ähnliches wird mit dem neuen palästinensischen Staat, so er denn eigenständig existieren wird, abgeschlossen.

Ergebnisoffenheit bei Positionsfestigkeit

Ein solches Zoll-Regime der EU plus vermutlich vieler weiterer Länder ist prozessorientiert und nicht ergebnisfixiert gedacht. Zu welchem Ergebnis mit welchen Details die beiden Konfliktparteien kommen, muss letztlich ihnen überlassen werden. Ob es eine klassische Zwei-Staaten-Lösung mit festen Grenzen wird oder eine Konföderation in einem gemeinsamen Staat, wie auch schon viel diskutiert wurde, kann unbestimmt bleiben. Ebenso, ob man für die Verhandlungen neutrale Moderatoren benötigt und welche diese sein könnten. Schließlich, eine Erfolgsgarantie ist natürlich nicht gegeben. Hoffnung gibt, dass auch andere kaum lösbar scheinende Großkonflikte wie der 30jährige Krieg oder der Vietnam-Krieg nach mehrjährigen Verhandlungen doch beendet werden konnten.

Fixiert ist nur, was die geographische Ausgangslage für die Verhandlungen ist: die international anerkannten völkerrechtlichen Grenzen. Auch im Koalitionsvertrag der Ampel wird das anerkannt und nochmal bestätigt: „Wir werden uns weiter für eine verhandelte Zweistaatenlösung auf der Grundlage der Grenzen von 1967 einsetzen.“ Von Israel prinzipiell zurückzugeben sind also: der Gazastreifen, das Westjordanland, Ost-Jerusalem und die Golanhöhen. Die Grenzziehungen der Vergangenheit können im Verhandlungsprozess verändert werden, aber nur im Konsens.

Dass mittlerweile Hunderttausende von israelischen Siedlern zumeist durch nicht-akzeptable Mittel wie Zwangsenteignungen, Vertreibungen und ähnliche Maßnahmen in den besetzen Gebieten leben, ist juristisch irrelevant, weil von Anfang an gegen das internationale Recht verstoßend. Dies ist in zahlreichen UN-Resolutionen dazu ausgedrückt, sowohl von der Vollversammlung wie vom hierin wichtigeren Sicherheitsrat. Auch in dieser Frage ist der Koalitionsvertrag eindeutig: „Wir fordern den Stopp des völkerrechtswidrigen Siedlungsbaus.“

Ähnliche Positionierungen finden sich in Erklärungen der EU. Jetzt fehlt nur noch der Mut Europas, den Lippenbekenntnissen auch Taten folgen zu lassen. Und wer mit den Vorschlägen nicht einverstanden ist, ist aufgefordert einen besseren Plan mit Umsetzungschance entwickeln. Nur, ein weiteres Auseinanderfallen von Wort und Tat ist keine Option mehr. Es sei denn, die Europäische Union will sehenden Auges riskieren, den Rest ihres wegen der einseitigen Unterstützung Israels bereits sehr ramponierten Rufs im Globalen Süden als Vertreter völkerrechtlicher Prinzipien vollständig zu verlieren.