Digitaler Kapitalismus im Gesundheitswesen
Der vielzitierte Spruch, Daten seien das Gold des 21. Jahrhunderts, gilt auch im Gesundheitswesen. Tech-Konzerne wie Meta und Google wittern bereits reiche Beute.
2019 ist das Buch „Digitaler Kapitalismus“ von Philipp Staab erschienen. Er beschreibt darin einen grundlegenden Wandel vom Neoliberalismus mit seiner Orientierung an Wettbewerb und freien Märkten hin zu einem System, bei dem die Märkte selbst zum Eigentum von Unternehmen werden. Die digitalen Plattformen kontrollieren den Zugang zu Produkten und Dienstleistungen, sie machen aus dem Marktzugang selbst ein knappes Gut. Sie binden die Kunden an ihre Plattformen und machen den Umstieg technisch aufwändig und wirtschaftlich teuer. Alternativen beispielsweise zu Microsoft sind oft nicht mehr praktikabel umsetzbar. Aus diesem Arrangement mit Infrastruktur und Zugangsmacht, nicht aus dem Besitz der eigentlichen Produktionsmittel für Kaffeemaschinen, Kleider oder Lebensmittel, ziehen sie den Gewinn:
„Ein wesentliches Merkmal der Plattformökonomie ist (…), dass die Gewinnerzielung vornehmlich auf Nutzungsgebühren von Märkten und der auf ihnen angebotenen Güter und Dienstleistungen sowie der Kommodifizierung persönlicher Daten basiert.
(…)
Die Plattform übernimmt also einerseits die Rolle des Händlers, der freilich nur begrenzt Güter lagern oder materiell distribuieren muss und dennoch der eigentliche Profiteur der Marktorganisation ist. Andererseits basieren die beschriebenen Prozesse eben gleichzeitig auf einer hochgradig proprietären Infrastruktur in Form des Cloud-Computing, wo wiederum die Leitunternehmen des kommerziellen Internets die entscheidenden Anbieter sind (insbesondere Amazon, Microsoft und Google).“[1]
Dass die Kontrolle von Märkten durch eine proprietäre Infrastruktur Einkommen generieren kann, ist dabei nichts grundsätzlich Neues. Auch der Viktualienmarkt in München beispielsweise funktioniert mit streng geregelten Zugängen und Handelsauflagen – gesetzt in diesem Fall durch eine Markt-Satzung seitens der Stadt als „Markteigentümerin“. In gewisser Weise kann man solche Märkte als analoge Modelle des Digitalen Kapitalismus betrachten. Die Differenz von Größe und Macht ist allerdings kein Zufall.
Im Gesundheitswesen erleben wir seit einigen Jahren, beflügelt auch durch die Coronakrise, in der Digitalisierung eine große Dynamik, nachdem vorher jahrzehntelang nicht einmal eine elektronische Gesundheitskarte auf den Weg gebracht werden konnte und später die Telematik-Infrastruktur nur im Schneckengang vorankam.
Jetzt geht alles Schlag auf Schlag, wenn auch über viele Schlaglöcher. Jens Spahn und Karl Lauterbach haben dabei nie ein Geheimnis daraus gemacht, warum sie das Gesundheitswesen möglichst umfassend digitalisieren wollen. Karl Lauterbach hat das Gesundheitsdatennutzungsgesetz ganz ausdrücklich auch als Instrument der Wirtschaftsförderung, vor allem der Pharmaindustrie, angepriesen, nachlesbar im Deutschen Ärzteblatt. Der Industrie sollen die Gesundheitsdaten als Rohstoff zur Generierung von neuen Arzneimitteln und Medizinprodukten und anderen Angeboten möglichst einfach verfügbar gemacht werden. Es heißt, dass am Ende davon natürlich die Patienten profitieren, eine in die Digitalisierung übertragene Variante der Trickle-Down-Theorie. Deshalb müssten Bedenken zu Datenschutz und Datensicherheit zurückstehen. Jens Spahn hatte die Prioritäten mit dem Satz „Datenschutz ist nur etwas für Gesunde“ auf den polemisch kürzesten Nenner gebracht.
Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich sollten Gesundheitsdaten im Interesse der Patienten besser als bisher genutzt werden, und natürlich sind dazu gute technische Tools nötig. Das gilt übrigens auch für die Gesundheitsdaten zum Beispiel der amtlichen Statistik, die bereits gut aufbereitet verfügbar sind, aber in der Politik wenig beachtet werden. Ohne gute Daten keine gute Forschung, keine gute Prävention und keine gute Versorgung. Der vielzitierte Spruch, Daten seien das Gold des 21. Jahrhunderts, gilt auch im Gesundheitswesen. Aber bekanntlich waren auch in der Vergangenheit nie die Wasserhähne des kleinen Mannes (oder der kleinen Frau) aus Gold, das war den Reichen, den wirklich Reichen vorbehalten. Heute haben sie Superyachten mit goldenem Inventar.
Nach Lauterbach schafft das Gesundheitsdatennutzungsgesetz zusammen mit der elektronischen Patientenakte den größten Gesundheitsdatenpool der Welt. Daten zu ambulanten Behandlungen, zu Krankenhausbehandlungen, Röntgenbilder usw. – alles elektronisch verfügbar. Auf europäischer Ebene soll der European Health Data Space (EHDS) den Rahmen für den Zugang zu den Gesundheitsdaten für die ganze EU setzen. Die Daten sollen – natürlich – den Patienten alles leichter machen, aber sie sollen auch für die Forschung zugänglich sein, und wer am Wort „Forschung“ an der richtigen Stelle kratzt, wird sehen, dass sich darunter nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene die Industrie verbirgt. Die Frage, wem die Gesundheitsdaten nutzen, wer die Kontrolle über diese Daten hat, wer den Zugang, und wer die technischen Tools besitzt, ist nur zu berechtigt.
Mit der fortschreitenden Digitalisierung des Gesundheitswesens wird möglicherweise zugleich der Boden für das Funktionieren des Digitalen Kapitalismus auch im Gesundheitsbereich bereitet. Ende 2024 – die zweite Präsidentschaft Trumps ante portas – sagte Lauterbach bei der Digital Health Conference des Bitcom:
„Daher interessieren sich auch die Hersteller aller großen KI-Systeme für diesen Datensatz. Wir sind im Gespräch mit Meta, mit OpenAI, mit Google, alle sind daran interessiert, ihre Sprachmodelle für diesen Datensatz zu nutzen, beziehungsweise an diesem Datensatz zu arbeiten.“
Meta und Google sind bisher nicht als Arzneimittelhersteller in Erscheinung getreten. Sie sind vielmehr Säulen des digitalen Kapitalismus. Man muss keiner Verschwörungstheorie anhängen, um zu vermuten, dass die digitale Aneignung der Gesundheitsmärkte auf ihrer Agenda steht. Auch wenn die Daten des EDHS angeblich nicht in ihre Clouds fließen, werden sie daran arbeiten, den Zugang zu diesen Daten und den damit verbundenen Leistungen im Gesundheitswesen technisch zu kontrollieren. Es lohnt sich. Allein in Deutschland betrugen 2022 die Gesundheitsausgaben knapp 500 Milliarden Euro. Das Gesundheitswesen ist aufgrund der Besonderheiten von Nachfrage, Angebot und Finanzierungswegen vermutlich nicht ohne Weiteres von den Tech-Konzernen nach dem Muster des Digitalen Kapitalismus zu übernehmen, zumal nicht in Europa mit seinen staatlichen und parafiskalischen Akteuren, aber womöglich gelingt ihnen die Kontrolle von Teilbereichen, bei denen Angebot und Nachfrage den normalen Märkten ähnlicher sind.
Es mag eine Dystopie bleiben, dass die Tech-Konzerne in einigen Jahren nicht nur personalisierte Gesundheitstipps liefern, sondern auch die Arzttermine verwalten, den Krankenhäusern Lieferanten vermitteln und der Politik eine KI-optimierte Gesundheitspolitik andienen. Aber nur, wenn es gemeinwohlverpflichtete Instanzen gibt, die mit Fachkompetenz und Durchsetzungsmacht die weitere Entwicklung begleiten. Der Kapitalismus als „Allesfresser“ (Nancy Fraser) musste immer eingehegt werden, durch Arbeitsschutzregeln, Umweltschutzregeln, Mitbestimmungsrechte.
Das wird im digitalen Kapitalismus nicht anders sein, er braucht ebenfalls Regulation, auch wenn die Trump-Administration mit Musk & Co. auf dem Rücksitz genau das nicht will, weil es die Macht der amerikanischen Digitalkonzerne beschneiden würde. Diese Macht ist, wie man gerade in den USA sehen kann, unmittelbar politische und demokratiegefährdende Macht.
Ob das gelingt, hängt auch davon ab, inwiefern die ideologische Rechtfertigung des digitalen Kapitalismus in ihrer Widersprüchlichkeit sichtbar und politisch handlungsleitend gemacht werden kann. Nachtwey/Seidl haben 2017 in einem Arbeitspapier mit dem Titel „Die Ethik der Solution und der Geist des digitalen Kapitalismus“ einige Veränderungen der Rechtfertigungsstrukturen des digitalen Kapitalismus gegenüber seinen Vorgängern herausgearbeitet. Das Konzept des „Geistes des Kapitalismus“ schließt an Arbeiten von Sombart, Weber und Boltanski/Chiapello an.
Dieser Geist ist ein historisch recht wandelbarer Geist, in gewisser Weise ein Zeitgeist. Der Anspruch auf „Wahrung von Anstand und Sitte der ehrbaren Kaufleute, einschließlich deren sozialer und gesellschaftlicher Verantwortung“ aus § 1 des IHK-Gesetzes von 1956 oder die fast schon sozialistisch anmutenden Nachkriegsnormen für die Wirtschaftsordnung in manchen Länderverfassungen haben mit der Verhaltensökonomie eines Gary Becker nicht mehr viel zu tun, ebenso wenig mit den libertären Ansichten von Plattform-Eigentümern wie Peter Thiel oder Elon Musk. Mit der Art und Weise, wie sich der Kapitalismus verändert hat, hat sich auch sein Geist verändert, in welcher Wechselwirkung sich beides auch immer vollziehen mag.
Kennzeichnend für den Geist des digitalen Kapitalismus sehen Nachtwey/Seidl einen „Solutionismus“: das Versprechen einer technischen Lösung der Menschheitsprobleme zum Vorteil aller, damit verbunden ein Misstrauen gegenüber der abwägenden Politik und ihren Institutionen und ein radikales Überschreiten des menschlichen Maßes. Damit sollen die im Neoliberalismus offenkundig gewordenen Widersprüche zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern und den ungelösten sozialen und ökologischen Problemen überschrieben werden:
„So wie im Calvinismus der geschäftliche Erfolg zum untrüglichen Zeichen der Erwähltheit wurde, so wird er im Solutionismus zum untrüglichen Zeichen des Weltverbesserungspotentials der unternehmerischen Ziele.“ (Nachtwey/Seidl, S. 24)
Man muss nicht allen Argumenten der Autoren folgen, aber die Überlegung, dass mit Veränderungen der kapitalistischen Produktion und Akkumulation auch Veränderungen der ideologischen Rechtfertigungsstrukturen einhergehen, ist überzeugend. Ökonomische Bedingungen werden erst übersetzt in subjektive Gründe handlungsleitend, ermächtigend genauso wie entmächtigend.
Auch dieser Ansatz lässt sich unschwer auf das Gesundheitswesen übertragen – man kann es sogar ChatGPT tun lassen. ChatGPT spricht dabei Aspekte wie Selbstverantwortung und Selbstoptimierung, Digitalisierung als Fortschrittsversprechen, neue plattformökonomische Strukturen im Gesundheitswesen oder die moralische Aufladung des Ökonomischen an und fasst dies wie folgt zusammen (Abruf 22.4.2025):
„Der digitale Kapitalismus im Gesundheitswesen trägt eindeutig den „neuen Geist“, den Boltanski & Chiapello beschrieben haben: Er ist netzwerkförmig, kreativ, moralisch aufgeladen, technikgläubig – und dabei hochgradig ökonomisch motiviert.
Diese Mischung macht ihn schwerer kritisierbar, weil er sich als Teil der Lösung präsentiert – während er möglicherweise neue Ungleichheiten, Intransparenz und Kontrollverluste erzeugt.“
Die Politische Ökonomie des Gesundheitswesens hat beim Thema Digitalisierung offenkundig noch Hausaufgaben zu machen.
Der Artikel beruht auf zwei Blogbeiträgen des Autors
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