Schlecht beraten
Wes Geistes Kind ist die deutsche Wirtschaftspolitik? Seit Jahrzenten wird in der Bundesrepublik strikt nach konservativ-neoklassischen und neoliberalen Maßgaben gehandelt. Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung zeigt, wie die Beiräte der Bundesministerien dieses Denken verstetigen.
Die Sozialwissenschaftler Dieter Plehwe, Moritz Neujeffski und Jürgen Nordmann haben für die Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall eine Studie veröffentlicht, die die inhaltliche Ausrichtung in den wirtschaftspolitischen Beiräten der Bundesregierung untersucht. Das Ergebnis lässt einen eindeutigen Schluss zu: Die Institutionen schlagen meist in dieselbe Kerbe. Erklären lassen sich so mehrere entscheidende Weichenstellungen in der Vergangenheit – und die Haltung zu aktuellen Streitpunkten. Mit den Forschern sprachen Lukas Poths und Hans-Peter Roll für MAKROSKOP.
Herr Plehwe, Herr Neujeffski, Ihre Studie hat die Otto-Brenner-Stiftung mit „Schlecht beraten - Die wirtschaftspolitischen Beratungsgremien der Bundesregierung in der Kritik“ betitelt. Allerdings sitzen in den Sachverständigenräten immerhin Wirtschaftsprofessoren. Inwiefern ist diese Beratung schlecht, die Fachleute sind doch da?
Plehwe: Was den Titel betrifft müssen Sie die Otto-Brenner-Stiftung fragen. Das ist natürlich eine normative Setzung. Gemeint ist damit wohl, dass sich bei einer solchen Untersuchung der Eindruck gewinnen lässt, dass die Beratung der Gremien einseitig ist und es dabei nicht um die Qualität der Wirtschaftswissenschaft geht, sondern um eine Selektion der fachlichen Ausrichtung. Und die Situation dieser Ausrichtung ist die, dass politische Ziele wie soziale Sicherung oder Energiewende immer hinter der Optimierung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zurückstehen. Ob das ein gutes Beratungsergebnis ist, das kann man schon getrost in Frage stellen.
Heißt, Sie sehen da eine gewisse Einseitigkeit in der Beratung?
Plehwe: Na klar. Wir haben jetzt eine Situation, in der Ökonomen aus fachlicher Sicht teilweise darunter leiden, dass über Instrumente wie die Schuldenbremse eine Art Sachzwang aufgebaut wird, der keine pragmatischen Spielräume zulässt, die eigentlich notwendig wären, um zum Beispiel Infrastruktur- oder Bildungspolitik zu machen. Dabei ist die Schuldenbremse im Grunde eine Politikverhinderungsmaschine. Man muss sich da die Frage stellen, ob die Beratung im finanz- und wirtschaftspolitischen Spektrum letzten Endes eine Beratung zur Verhinderung von Kritik ist.
Geben Sie uns einen kurzen Abriss.
Plehwe: Der Hintergrund der Studie war eigentlich der, dass wir in einer vorherigen Arbeit über Austeritäts-Thinktanks in Europa festgestellt haben, welche Überschneidungen in den mitte-rechts liegenden Netzwerken existieren, die europaweit solche Austeritätspositionen vertreten – also die um die christdemokratischen Parteistiftungen der europäischen Parteienfamilie, die weiter rechts stehenden Europäischen Konservativen und Reformer und die Neoliberalen. Bei den Ergebnissen in Bezug auf die Bundesrepublik haben wir aber festgestellt, dass viele der deutschen Thinktanks mit einer solchen Ausrichtung gar nicht in diesen europäischen Netzwerken drin waren.
„Man muss sich die Frage stellen, ob die wirtschaftspolitische Beratung letzten Endes eine Beratung zur Verhinderung von Kritik ist.“
Das hat uns animiert, einen anderen Zugriff zu suchen, um die Breite der austeritätspolitischen Organisationen in Deutschland abzudecken. So haben wir uns dann auf die Beratungsgremien der Bundesregierung – den Sachverständigenrat und die Beiräte von Wirtschafts- und Finanzministerium – konzentriert. Ursprünglich war die Untersuchung auf die Zeit von 1998 bis 2017 beschränkt. Für die Otto-Brenner-Stiftung haben wir das dann noch etwas ausgedehnt, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Gegenwart. Das Ergebnis ist, dass eine unserer Meinung nach beeindruckende Mehrheit der Ökonomen in diesen Gremien sehr dezidiert entweder eine konservativ-neoklassische oder noch expliziter neoliberale Haltung vertreten. Umgekehrt ist beeindruckend, wie schwach heterodoxe Meinungen vertreten sind. Erst in jüngerer Zeit kam beispielsweise die Verhaltensökonomik dazu.
Wie sind Sie vorgegangen?
Neujeffski: Das war ein Mixed Method Approach (Mischung aus qualitativen und quantitativen Erhebungen, Anm. d. Red.). Auf der einen Seite haben wir Fallstudien erstellt, in denen wir uns konkret die Positionen der Beiräte zu Schuldenbremse, Rentenpolitik oder Hartz IV-Reform anschauen. Auf der anderen Seite haben wir die 148 Personen in unserem Sample nach gewissen Merkmalen erhoben, zum Beispiel, um zu sehen, wie viele Frauen in den Beiräten vertreten sind und wie sich das über die Zeit verändert hat. Zudem haben wir die Meinungen zu austeritätsrelevanten Fragen recherchiert, die institutionellen Hintergründe der Personen, wie Mitgliedschaften in einschlägigen Denkfabriken und wo sie gelehrt haben, sowie die Beziehungen untereinander. So konnten wir strukturell zeigen, wie diese Beiräte zusammengestellt sind und was letztlich das Produkt ist, das sie produzieren.
Laut Selbstverständnis des Sachverständigenrats, des Sozialbeirats und auch der Beiräte am Wirtschafts- bzw. Finanzministerium sind deren Aufgaben eher deskriptiver Natur: Es geht um Gutachten und Einschätzungen zur wirtschaftlichen Lage. Man kann daraus zwar die beratende Funktion, aber noch nicht zwangsläufig eine direkte Einflussnahme im Sinne einer Lehrmeinung ableiten, sondern eher deren Diskurshoheit. Wie konkretisiert sich der Rat der Gremien?
Neujeffski: Was man erkennt, ist, dass über die Beiräte politische Projekte wie die Schuldenbremse wissenschaftlich abgesichert werden. Man merkt dann, wie schwierig es ist, wieder dagegen anzukommen. Wenn man sich die Gutachten anschaut, insbesondere vom Beirat des Finanzministeriums, dann ist schon deutlich, was darüber befördert wird. Das ist dann, wie Sie sagen, eine Diskurshoheit, die da geschaffen wird. Wenn man zum Beispiel hört, dass zwischen 1998 und 2007 ein neoliberaler Zeitgeist geherrscht hat, kann man mit unserer Untersuchung zeigen, wie dieser Zeitgeist produziert und im Staat reproduziert wird.
„Was man erkennt, ist, dass über die Beiräte politische Projekte wie die Schuldenbremse wissenschaftlich abgesichert werden.“
Plehwe: Gerade in Bezug auf die Schuldenbremse ist jetzt hier das interessante Phänomen, dass im Beirat des Wirtschaftsministeriums und im Sachverständigenrat Kräfte stärker werden, die die Schuldenbremse kritisieren. Interessant ist, dass diese Stimmen wahrscheinlich in der deutschen akademischen Ökonomie dennoch nicht unbedingt eine Mehrheitsposition darstellen. Zwar kommt immer mal etwas Kritik, man hat aber nicht den Eindruck, dass das wirklich durchkommt und eine mediale Öffentlichkeit entsteht, die starken Druck auf das Finanzministerium ausübt.
Momentan rücken aber Ökonomen und Institute, die normalerweise neoklassische oder liberale Positionen vertreten, bei der Schuldenbremse von einer rigiden Haltung ab. Sie folgen dem Vorschlag der Bundesbank, die Schuldenbremse aufzuweichen. Das geht aus einer Pressemitteilung der fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstituten von Ende März hervor – darunter auch das liberale ifo-Institut. Könnte das ein Anzeichen für eine nachhaltige Diskursverschiebung sein oder handelt es sich um eine vorübergehende Erscheinung?
Plehwe: Man kann feststellen, dass jetzt innerhalb der politiknahen Expertenkreise mehr Raum für Kritik ist. Diese Expertendiskurse sind von öffentlichen zwar zu unterscheiden, aber in diesen Expertendiskursen werden auch bestimmt Positionen entwickelt, die dann öffentliche Diskurse werden. Und weil es hier aktuell schwieriger ist, einen Elitenkonsens zu finden, schwappt das etwas in die Öffentlichkeit über. Was die Relevanz der ökonomischen Stimmen betrifft: Das Ökonomen-Ranking beispielsweise wird von der FAZ herausgegeben. Und da fließt auch die Öffentlichkeitswirkung der Ökonominnen und Ökonomen ein, die auch durch die FAZ selbst hergestellt wird.
Generell ist es eine Schwäche, dass wir bei Medienanalysen gerne auf Printmedien zurückgreifen und damit aber hinter den Stand der Debatten über die Transformation der Öffentlichkeit zurückfallen, weil wir wissen, dass die Printmedien im Vergleich zu Social Media nur noch einen eingeschränkten Charakter haben. Um den Debatten Genüge zu tun, müssten wir auch andere Instrumente zur Analyse medialer Öffentlichkeit nutzen. Aber das ist schwierig, und die Printmedien sind einfach zu untersuchen, deshalb machen es alle. Und umso mehr muss man aufpassen, dass man Schlagseiten der Öffentlichkeit nicht selbst reproduziert.
Reproduziert werden die dominanten Lehrmeinungen aber nicht nur über die Medien, sondern auch in den Beiräten selbst. Sie schreiben, dass mitunter die Akademiker in den Räten ihre Doktoranden berufen. Welche Auswirkungen hat das auf die öffentliche und beiratsinterne Meinungspluralität?
Neujeffski: Es gibt einen Unterschied zwischen dem Sachverständigenrat und den Beiräten der Ministerien. Denn dadurch, dass beim Sachverständigenrat die Mitglieder durch die Bundesregierung und durch das Gewerkschafts- und das Arbeitgeberticket berufen werden, sehen wir nicht diese Zirkel zwischen Doktorvätern und Doktoranden. In den Beiräten der Ministerien wählen die bestehenden die neuen Mitglieder. In der Vergangenheit waren auffallend häufig gleichzeitig Doktorvater und Doktorand im Gremium, gemeinsam oder konsekutiv. Beim Finanzministerium waren das 21 Prozent, beim Wirtschaftsministerium 25 Prozent. So erhöht sich die Chance, dass über Jahrzehnte hinweg zumindest ähnliche Positionen reproduziert werden. Mittels einer Vergleichsgruppe konnten wir zudem zeigen, dass Professorinnen und Professoren, die nicht in den Beiräten vertreten sind, auch deutlich seltener Doktorväter oder -mütter in den beiden Beiräten haben. Unser Sample haben wir auf die Zeit von 1982 bis 2022 ausgeweitet, weil wir so diese Beziehungen genauer analysieren konnten. Und natürlich ist es interessant, die Zusammensetzung der Gremien über Legislaturperioden hinweg anzuschauen. Auch beim Wechsel zu rot-grün hat man beispielsweise keine große Veränderung gesehen.
Sie plädieren dementsprechend dafür, dass die Gremienzusammensetzung modernisiert werden muss. Haben Sie Ideen, wie das gehen kann?
Plehwe: Der ursprüngliche Impuls beim Auswahlverfahren der Beiräte der Ministerien war ein antifaschistischer. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man verhindern, dass der Staat über die Beiräte in die Wissenschaft eingreifen kann. Die Idee war gut, wurde aber über die Praxis pervertiert, weil es so einen hegemonialen Kreis von Ökonomen gibt, der selbst bestimmt, wie beraten wird. Man muss also Mechanismen finden, um das zu modifizieren. Dabei sollten aber die Ministerien keinen größeren Einfluss gewinnen, da der Einfluss der Politik auf die wissenschaftliche Beratung ohnehin sehr groß ist.
„Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man verhindern, dass der Staat über die Beiräte in die Wissenschaft eingreifen kann. Die Idee war gut, wurde aber über die Praxis pervertiert.“
Insofern ist der unabhängige Status schon wichtig, man müsste aber ein anderes Selbstverständnis etablieren, auch in den Satzungen, nach dem ein plurales Angebot von Lehrmeinungen und auch Disziplinen vertreten sein sollte. Aktuell haben wir es in den Beiräten nur mit Wirtschaftswissenschaftlern und Juristen zu tun, alle anderen wissenschaftlichen Räte sind auch disziplinär plural zusammengesetzt, Ökonomen immer dabei. In Anbetracht einer Klima- oder Gesundheitskrise ist es nicht mehr angemessen, dass Ökonominnen und Ökonomen unter sich bleiben, höchstens noch juristischen Sachverstand konsultieren.
Nicht nur in den wirtschaftspolitischen Beiräten fehlt es an Interdisziplinarität, auch innerhalb der Ökonomik werden unterschiedliche Denkschulen kaum abgebildet.
Neujeffski: Bis auf neoklassische Ansätze wurde in den letzten Jahren die Verhaltensökonomik stärker abgebildet. Ansonsten ist das Spektrum sehr klein. Man sieht hier und da vielleicht mal einen Keynesianer, aber die Position ist sehr unterrepräsentiert – auch wenn es um Postkeynesianismus geht. Ich persönlich fände es auch mal interessant, wenn ein Vertreter der MMT mit den Leuten im Finanzministerium diskutiert. Aber grundsätzlich ist alles, was irgendwie anders angehaucht ist, außen vor.
Ist es ein Produkt der neoklassischen Hegemonialstellung, dass solche Ansätze in den Gremien marginalisiert sind?
Neujeffski: Es ist nicht so, dass heterodoxe Ökonominnen und Ökonomen keine Erklärungen für beispielsweise die Finanzkrise hätten und deshalb nicht vorkommen müssen; ich glaube schon, dass Vorurteile existieren und das Spektrum der Diskussion eingeschränkt wird von den dominanten Strömungen.
„Ich persönlich fände es auch mal interessant, wenn ein Vertreter der MMT mit den Leuten im Finanzministerium diskutiert.“
Plehwe: Man muss ja sogar die Neoklassik vor, sagen wir mal, den liberal-konservativen Neoklassikern in Schutz nehmen. Wenn man sich an die Kalkulationsdebatte mit Oskar Lange („Debatte über die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus“, Anm. d. Red.) erinnert, ist klar, dass Neoliberale wie Hayek und Mises auch als Kritiker der Neoklassik auftreten, weil sie durchaus auch Anknüpfungspunkte für marktsozialistische Überlegungen geboten hat. Aber den Marxismus oder andere Planungsansätze zum Beispiel wieder in die Debatte reinzuholen, klingt noch immer verstaubt. Wir haben aber sehr konkrete Gegenwartsproblematiken wie die Klimapolitik oder die Gesundheitspolitik, die ein breites Spektrum von Lösungsansätzen jenseits von Marktpreisen und Wettbewerb erfordern, mit denen sich alle Wissenschaften beschäftigen müssen. Wenn ich zentrale Fragen immer aus einer bestimmten engen Perspektive, zum Beispiel einer angebotspolitischen Perspektive, betrachte, die vor allem die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in den Vordergrund stellt, ist das eine ganz andere Herangehensweise als eine aus dem bereits breiteren Methodenkasten der Umweltökonomie, die aber selbst marktökonomisch verengt wird. Ursprünglich wurden heute verpönte steuerpolitische Ansätze als ökonomisches Instrument gegen striktere staatliche Vorgaben eingeführt. Um die Berechnung der so genannten externe Kosten (Umweltschäden etc.) kümmerte sich Herbert Giersch am Kieler Weltwirtschaftsinstitut. Weil aber alle umweltökonomischen Ansätze und umweltpolitischen Ziele letztendlich von staatlichen Vorgaben abhängen – der Preis für Emissionen wird durch die Fixierung der zulässigen Menge bestimmt, also durch staatliche Regeln – kann und darf die umweltökonomische Debatte nicht auf Marktfragen reduziert werden. Neoliberale Ansätze behaupten die Überlegenheit von privatwirtschaftlichen Akteuren und staatlichen Rahmenbedingungen, lehnen dann aber viele Regeln im Interesse der Wirtschaftsfreiheit ab. Die Idee, dass wir klimapolitische Probleme allein über Preissysteme lösen, ist der privilegierte Ansatz der konservativen Neoklassik und selbst einfach nicht hinreichend. Deshalb braucht man Ökonomen, die in der Lage sind, mit Vertretern anderer Disziplinen konstruktiv über eine Vielzahl von Regulierungsmöglichkeiten zu diskutieren.
Sie haben erwähnt, dass neoklassische Positionen in den Gremien sich auch unter rot-grün verstetigt haben. Außerdem lese ich in Ihrer Studie, dass unter Schröder das erste Mal Plätze im Sozialbeirat auf Druck der Regierung politisch besetzt wurden. War das eine Ausnahme?
Plehwe: Dort wurde offenbar von den Sozialdemokraten Einfluss auf die Gewerkschaften geltend gemacht, damit sie ihre ursprünglichen Vertreter, Gegner der Hartz-Reformen, zurückziehen. Und ja, das ist ein wirklich gutes Beispiel, an dem man sieht, dass die Gefahr des unmittelbaren Übergriffs von Politik auf Beiratskonstellationen real ist. Von daher ist der Mechanismus in den Beiräten der Ministerien, der sie vor Übergriffen durch die Politik schützt, unter Umständen ganz gut. Ob dieser Fall ungewöhnlich ist, wissen wir nicht, weil wir ja nur wenige Gremien untersucht haben. Wir sind nur darauf gestoßen und fanden das beachtenswert.
Wir sehen also überraschende programmatische Überschneidungen zwischen sozialdemokratisch geführten Regierungen und marktliberalen Beratungsgremien und zuletzt bisweilen Unstimmigkeiten, einmal zwischen einer christdemokratischen Regierung und einem neoliberalen wissenschaftlichen Beirat zur Frage der Mindestlöhne. Dann gab es während der Corona-Pandemie umfangreiche staatliche Stabilisierungsprogramme, was eine Abkehr von Austeritätspolitik vermuten ließ. Doch jetzt wird finanzpolitisch zurückgerudert. Wird sich eine progressivere Fiskalpolitik in Zukunft dennoch öfter durchsetzen?
Plehwe: Man kann beobachten, dass politische Reformprozesse in den Gremien mit längeren Debatten vorbereitet werden. Zum Beispiel gab es solche Diskussionen über die Rentenreformen oder die Schuldenbremse. Hegemonieverstärkend wirkt da die Zusammensetzung der Beiräte, wenn nur bestimmte Konzepte diskutiert werden, zum Beispiel zur Reform der Rente. Wenn exklusiv über Privatisierung oder Teilprivatisierung gesprochen wird, dann kommt nichts grundlegend anderes und es wird nur im Detail differenziert. Deswegen ist die Vorstellung interessant, dass Sozialökonomen in diesem Gremium sitzen, die Bedenken zu einer Privatisierung oder zu finanzmarktbasierten Komponenten äußern. Die Eliminierung von kritischeren sozialökonomisch denkenden Wissenschaftlern legt nahe, dass ein solches Gremium nicht geeignet ist, eine vernünftige Rentenreform hinzubekommen, weil gar nicht alle betroffenen Bevölkerungsteile bedacht werden, wenn selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass die Absenkung der öffentlichen Rente über Betriebsrenten und private Spartätigkeit kompensiert werden. Die Schlussfolgerung ist, dass es vermutlich ein großer Fehler ist, sich nicht öffentlich mit diesen Beiräten auseinanderzusetzen und zu fragen: Welche Perspektiven sind in den Beiräten vertreten und über welche Wirtschafts- und Sozialpolitik wird hier überhaupt beraten?
Zu welchem Fazit kommen Sie insgesamt?
Plehwe: Das eine ist: Die Zusammensetzung der Gremien sollte mit bestimmten Kriterien unterlegt werden, die einem vernünftigeren Diskursspektrum Genüge tun. Das andere richtet sich dann mehr an die gesellschaftlichen Akteure: Wir können nicht den Unternehmen und Wirtschaftsverbänden wie den Familienunternehmern vorwerfen, dass sie Think Tanks wie die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft oder die Stiftung Marktwirtschaft etc. finanzieren. Man kann aber mal den Interessenten an einer anderen, sozialen Wirtschaftspolitik empfehlen, sich das mal genauer anzuschauen und sich zu überlegen, ob man nicht in dem Bereich der politiknahen Forschung und Debatte einen gewissen Nachholbedarf hat. Wir haben in Deutschland heterodoxe Ökonomen zum Beispiel in der Memorandum-Gruppe (auch Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Anm. d. Red.), die aber nicht in den Gremien abgebildet sind. Sie kommen auch in den wirkungsmächtigen Medien nur selten vor und deshalb trifft es das folgende Bild: Man brüllt wie die Zuschauer von außen rein, aber die Schiedsrichter auf dem Feld sind andere.