Papst Franziskus und die katholische Soziallehre
Der verstorbene Papst Franziskus wird in den Nachrufen als Freund der Armen gewürdigt. Aber seine Frömmigkeit ist kein Leitstern einer modernen Gesellschaftspolitik, sondern ein in Lateinamerika verwurzelter „Herz-Jesu-Sozialismus“, so Rainer Hank in der FAZ. Die katholische Soziallehre hat in Deutschland eine andere Tradition.
Über Papst Franziskus ist nach seinem Tod in den Medien mit erschöpfender Ausführlichkeit berichtet worden. Sein Einsatz für die Mühseligen und Beladenen dieser Welt wurde ebenso hervorgehoben wie sein asketischer Lebensstil. Wenn etwas an ihm kritisiert wurde, dann seine Versäumnisse in der Reform der Ordnungsstrukturen der katholischen Kirche, die nach wie vor vom Zölibat und einer Missachtung von Frauen geprägt sind.
Der Publizist Rainer Hank, ein Hardcore-Ordoliberaler, setzt in seinem Nachruf auf Papst Franziskus in der Frankfurter Allgemeinen (FAZ, 26. April 2025) einen anderen Akzent und beschreibt Franziskus als naiven „Herz-Jesu-Sozialisten“, der Ökonomie und Moral begriffslos vermengt. Er weist auch darauf hin, dass die in Deutschland verwurzelte katholische Soziallehre eine andere Sicht auf die Marktwirtschaft hat als Franziskus. Aber er übergeht den Einfluss, den sie auf unser von ihm an anderer Stelle als „Teufelsmühle“ denunziertes Sozialversicherungssystem von Beginn an gehabt hat.[1]
Sakralisierung der Armut
Rainer Hank präsentiert etliche Zitate von Papst Franziskus, die ihn als einen radikalen Anti-Kapitalisten erscheinen lassen. In einer Sozialenzyklika beschreibt er den Kapitalismus als „strukturell perverses System von kommerziellen Beziehungen und Eigentumsverhältnissen.“ Bereits in seinem ersten apostolischen Schreiben nach seiner Wahl zum Papst stellte er fest: „Diese Wirtschaft tötet!“ Sie sorge mit ihrer Profiorientierung „für eine ungerechte Verteilung des Reichtums“, und man solle „den Armen das zurückgeben, was ihnen zusteht.“ Die Wohlhabenden müssten im Interesse einer sozial gerechten Güterverteilung ihren Reichtum mit den Armen teilen.
War Papst Franziskus demnach ein Sozialrevolutionär und Anhänger der in Lateinamerika verbreiteten Befreiungstheologie? Keineswegs, meint Rainer Hank. Die Marktwirtschaft gelte ihm zwar als „Teufelswerk, durchseucht von Egoismus, Antrieb zu ruinösem Wettbewerb und asozialem Lob des Privateigentums“ (Hank). Aber das sei eher ein aus der Bergpredigt abgeleiteter moralisierender „Herz-Jesu-Sozialismus“, wonach ein Kamel leichter durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in den Himmel kommt.
Hank zitiert den Schweizer Theologen Arthur Fridolin Utz, der in dem Eintreten von Papst Franziskus für die Armen dieser Welt nur eine „prophetische Gestikulation“ sieht, aber keine sozialrevolutionäre Programmatik. Es sei ein „Jesuitenpopulismus“, als den der italienische Lateinamerika-Historiker Loris Zanatta die scheinrevolutionäre Rhetorik von Papst Franziskus beschreibt. Sie sei eine theologische Variante des Peronismus in seiner Heimat Argentinien, der die Armen politisch instrumentalisiere. Es sei Papst Franziskus gar nicht um Antikapitalismus und eine Auseinandersetzung mit der Marktwirtschaft gegangen, sondern um „die Sakralisierung der Armut“. Dieser Charakterisierung kann ich nicht widersprechen, sehr wohl aber Hanks ordnungspolitischer Grundhaltung als dezidierter Feind des Sozialstaats.
Katholische Soziallehre
Rainer Hank sieht Papst Franziskus in der Tradition frühchristlicher Theologen wie Johannes Chrysostomos, der wie die Anarchisten des 19. Jahrhunderts Eigentum als Diebstahl betrachtete: „Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen, bedeutet, diese zu bestehlen.“ Auch hätten die Päpste in der Neuzeit den Liberalismus und die freie Marktwirtschaft verdammt. Allerdings habe der Katholizismus in Deutschland eine eigene Soziallehre mit einer Haltung zum Kapitalismus entwickelt, die zwischen „distanzierter Anerkennung und polemischer Verurteilung changierte“.
Als Protagonisten dieser Spannbreite sieht er den Jesuiten Oswald von Nell-Breuning und den Kölner Kardinal Joseph Höffner, der zuvor Professor für Christliche Soziallehre in Münster war. Von Nell-Breuning habe sich stets geweigert, von einer sozialen Marktwirtschaft zu sprechen, während Höffner dem Ordoliberalismus zugeneigt habe. Das ist eine etwas grob geschnitzte Unterscheidung.
Die Marktwirtschaft ist an sich nicht sozial, sondern basiert auf einem intrinsischen Egoismus, der zu einem zerstörerischen Wettbewerb führt und daher reguliert werden muss. Das sieht im Prinzip auch der Ordoliberalismus so, dem Höffner als Schüler von Walther Eucken anhing.[2]
Allerdings stand er dem Gedanken einer Sozialversicherung weit näher als Eucken, der sich über die Gestaltung der Sozialpolitik kaum konkrete Gedanken machte. Höffner sah in der Sozialpolitik eine „Politik des Gesellschaftlichen“, die man nicht auf ökonomische Fragen reduzieren könne. Nell-Breuning war keineswegs, wie Hank behauptet, ein apodiktischer Kritiker der Marktwirtschaft. Er sah die Aufgabe einer christlichen Sozialpolitik nicht in der Überwindung des Kapitalismus, sondern darin, diesem seine „Giftzähne“ zu ziehen.
Die katholische Soziallehre basiert auf dem von Papst Pius XI. in der Sozialenzyklika vom 15. Mai 1931 verkündeten Subsidiaritätsprinzip, wonach jede soziale Einheit sich erst einmal selbst helfen soll, bevor sie die Hilfe größerer Organisationen in Anspruch nimmt. Nell-Breuning betonte hingegen die Verpflichtung des Staates, dafür zu sorgen, dass kleine soziale Gruppen überhaupt in der Lage sind, Eigenverantwortung zu übernehmen.
Denn, so Nell-Breuning, „bevor der Mensch anfangen kann, seine eigenen Kräfte zu regen, muß die Gesellschaft bereits eine Menge an Vorkehrungen und Maßnahmen getroffen haben, ohne die er entweder überhaupt nicht dazu käme, seine Kräfte zu regen, oder doch seine Anstrengungen zu keinerlei Erfolg führen könnten.“ Dementsprechend ist für Nell-Breuning die Solidarität ein Strukturprinzip der Sozialpolitik und keine bloß moralische Verpflichtung.
Der deutsche Sozialstaat und die katholische Soziallehre
Rainer Hank erwähnt zwar die besondere Rolle der katholische Soziallehre in Deutschland, geht aber auf deren prägenden Einfluss auf die Sozialpolitik nicht näher ein, den sie seit dem 19. Jahrhundert gehabt hat. Gemeinhin gilt Bismarck als Pate unseres Sozialversicherungssystems. Aber das ist eher eine Legende als eine historische Tatsache. Das gegliederte Sozialversicherungssystem mit einer vom Staatshaushalt getrennten Organisation und Finanzierung ist Bismarck vom Reichstag unter Führung des charismatischen Vorsitzenden der katholischen Zentrumspartei Ludwig Windhorst regelrecht aufgenötigt worden.
Bismarck schwebte eine staatliche, auf regionaler Ebene organisierte Einheitsversicherung vor, in die auch die vorhandenen kirchlichen und beruflichen Hilfswerke aufgehen sollten. Er selbst nannte sich selbstironisch einen „Staatsozialisten“. Das stieß auf den Widerstand der Zentrumspartei und der Freisinnigen, die im Reichstag gemeinsam die Mehrheit bildeten. Sie setzten durch, dass die vorhandenen Versicherungsvereine von Arbeitern und Angestellten in die Gesetzliche Unfall- und Krankenversicherung als eigenständige Organisationen aufgenommen wurden. Bismarck bezeichnete dieses gegliederte System der Selbstverwaltung später im Gespräch mit seinem Sekretär Lothar Bucher als „untergeschobenes Kind“.
In der Weimarer Republik haben weniger die SPD und die Gewerkschaften die Sozialpolitik gestaltet als die Zentrumspartei. Der ihr angehörende Finanzminister Matthias Erzberger führte 1920 die progressive Einkommenssteuer ein, die allerdings unter dem ebenfalls dem Zentrum angehörenden Reichskanzler Brüning 1929 gemeinsam mit den liberalen Parteien wieder abgeschafft wurde. Von 1920 bis 1928 war der katholische Theologe Heinrich Brauns Arbeitsminister, der 1925 die Arbeitslosenversicherung als vierte Säule der Sozialversicherung einführte.
Unser in den „goldenen Jahren des Kapitalismus“ (Eric Hobsbawm) in den 1950er und 1960er Jahren auf- und ausgebauter Sozialstaat ist das Produkt einer Sachkoalition von SPD und den Unionsparteien. Die Einführung der dynamischen Rente mit einer regelmäßigen Anpassung der Sozialrenten an die allgemeine Lohnentwicklung war ein sozialpolitischer Meilenstein. Konrad Adenauer beauftragte Wilfried Schreiber mit ihrer Konzipierung, damals Geschäftsführer des Bundes katholischer Unternehmer, später Professor an der Universität Köln. Der damalige Wirtschaftsminister Ludwig Erhard war ein entschiedener Gegner dieser Reform. Eine solidarische Sozialversicherung für alle Erwerbstätigen war für ihn ein Irrweg und „moderner Wahn“. Aber damit konnte er Konrad Adenauer nicht beeindrucken, dem als Realpolitiker die politische Mehrheit wichtiger war als ordnungspolitische Dogmen.
Diese Tradition des „Rheinischen Kapitalismus“ wird heute von der Union verleugnet, während die SPD und die Grünen mit der Agenda 2010 dem neoliberalen Zeitgeist auf den Leim gegangen sind. Der moderne Sozialstaat, wie er gemeinsam von christlichen und sozialdemokratischen Politikern nach dem Krieg durchgesetzt und aufgebaut wurde, ist keine Ressourcenverschwendung, wie Rainer Hank und andere moderne Staatsfeinde behaupten, sondern Ausdruck nicht nur sozialer, sondern auch ökonomischer Vernunft.
Die Behauptung, wir könnten uns eine umfassende Sozialversicherung nicht mehr leisten, ist nichts weiter als die verkappte Propagierung von Geschäftsmodellen der Versicherungs- und Finanzwirtschaft, die schwerwiegende soziale und ökonomische Verwerfungen zur Folge haben. Wenn es Mechanismen einer sozialpolitischen „Teufelsmühle“ (Hank) gibt, dann liegen sie in der Privatisierung der Absicherung sozialer Risiken.
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