Amartya Sen: „Eine Welt der Argumente“
Amartya Sens Autobiographie über die ersten 30 Jahre seines Lebens gibt spannende Einblicke in die Geistesgeschichte des indischen Subkontinents. Sie ist zugleich Fundament seines universellen Denkens.
Amartya Sen gehört zu den bedeutendsten Intellektuellen der vergangenen Jahrzehnte. Seit Albert Einstein hat kaum ein anderer Wissenschaftler international eine so hohe öffentliche Reputation genossen. Mit seinem breiten Interessenspektrum ist er eine irgendwie aus der Zeit gefallene Persönlichkeit, die an die Universalgelehrten des 19. Jahrhunderts erinnert. International wird er gleichermaßen als Spieltheoretiker, Ökonom, Sozialphilosoph und moralische Instanz gewürdigt. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist für ihn keine Attitude, sondern das philosophische Fundament seines Denkens. Das unterscheidet ihn grundlegend vom neoklassischen Mainstream der ökonomischen Lehre, der sozialen Fortschritt auf statistische Größen wie das Pareto-Kriterium reduziert.
Amartya Sen, der demnächst 90 Jahre alt wird, hat jetzt ein Buch über die ersten 30 Jahre seines Lebens veröffentlicht. In Deutschland ist die Autobiographie Zu Hause in der Welt – Erinnerungen im Beck Verlag erschienen. Diese persönlichen Erinnerungen bieten zugleich eine Einführung in die Geistesgeschichte des indischen Subkontinents als dem Fundament seines universellen Denkens. Er wuchs in der indischen, oder besser gesagt bengalischen Gelehrtenszene auf. Sein Vater war Professor für Chemie, erst an der Universität von Dhaka, der heutigen Hauptstadt von Bangladesch, dann in Mandaley, dem geistigen und politischen Zentrum des früheren Königreichs Burma.
Seine Erinnerungen enthalten ausführliche Schilderungen der Gesellschaft und Kultur Indiens und Burmas. So lernt man am Beispiel der Nanny, die ihn und seine Schwester in Mandaley betreute, wie stark die burmesische Gesellschaft im Alltag von Frauen geprägt war und ist. Mit Aung San Suu Kyi ist er befreundet, was ihn nicht davon abhält, ihre passive Haltung zur Verfolgung der bengalisch-muslimischen Rohingya und anderer Minderheiten in Myanmar als „rätselhaft“ und nicht entschuldbar zu bezeichnen.
In Sens Elternhaus verkehrten führende indische Intellektuelle, die in seinen Erinnerungen gewürdigt werden. In Europa sind die meisten von ihnen unbekannt. Man sollte bei der Lektüre von Sens Erinnerungen Google im Standby-Modus parat haben, um eine Ahnung davon zu bekommen, in welch hochgebildetem Milieu Amartya Sen aufwuchs. Sein Großvater war ein Philosoph, der im westbengalischen Santinikan an einer Sanskrit-Schule lehrte, die von Rabindanath Tagore gegründet worden war. Dieser auch in der westlichen Welt zu Ruhm und dem Literatur-Nobelpreis gekommene Dichter und Philosoph war Amartya Sens väterlicher Freund und Förderer.
Von seiner Zeit in Santinikan berichtet Sen begeistert als „einer Welt der Argumente“. Sanskrit war zwar im alten Indien wie das Latein im europäischen Mittelalter die Sprache der Priesterschaft, brachte aber auch die rationalistischen und agnostischen Gedanken Gautama Buddhas hervor, die Sen tief beeindruckten. Sie führten ihn zu der seine spätere wissenschaftliche Arbeit begründenden Erkenntnis, dass „jede ethische Wertvorstellung durch logisches Denken begründet werden muss, wenn auch manchmal mehr Implizit als explizit.“ In der Schule von Santinikan liegen die spirituellen Wurzeln seiner Arbeiten über Public Choice und soziale Wohlfahrt.
Sens Haltung zu Gandhi und Marx ist zwiespältig
Die Auseinandersetzungen der indischen Elite mit der britischen Kolonialmacht prägten die Jugend von Amartya Sen. Mahatma Gandhi, der in seiner familiären Entourage verkehrte, war keineswegs der unumstrittene Führer der indischen Freiheitsbewegung, als der er in Europa gilt. In Sens Familie gab es Anhänger von Gandhis Rivalen, dem laizistischen Nationalisten Subhas Chandra Bose. Der stellte die Indian National Army auf, die an der Seite der Japaner gegen die Briten kämpfte.[1] Etliche Verwandte von Sen wurden von der kolonialen Verwaltung wegen ihres Kampfes für die Unabhängigkeit Indiens in „Sicherheitsverwahrung“ gebracht. Amartya Sens Haltung zu Gandhi ist zwiespältig. Er bewundert seine Philosophie der Gewaltlosigkeit, kritisiert aber heftig seine Indifferenz gegenüber dem Kastensystem. Seine Schilderungen über die Trennung Indiens in einen muslimischen und einen hinduistischen Teil sind von Trauer über den Niedergang einer einst multikulturellen Gesellschaft geprägt.
Nach seiner Schulzeit in Santinikan ging Sen zum Studium nach Kalkutta, dem kulturellen und politischen Zentrum Bengalens. Dort gab es zahlreiche Colleges mit naturwissenschaftlichen Fächern, deren Niveau, so Sen, „schwer zu überbieten“ war. Sen schildert Kalkutta als „Pflaster für angenehm dahinplätschernde Plaudereien“ unter Wissenschaftlern, ein Milieu, das Sens weltläufigem Interesse an neuen Ideen sehr entgegenkam. Dort war, wie Sen ausführlich beschreibt, die „Stimme der Linken“ sehr stark geworden. Er lernte nicht nur die marxistische Ökonomie kennen, sondern auch die Filme des italienischen Neorealismus von Visconti, de Sica und Rossellini, die damals das Kino in Indien stark beeinflussten.
In Kalkutta vollzog sich ein Wandel in den Interessen von Amartya Sen von den Naturwissenschaften hin zur Ökonomie. Er interessierte sich seit seiner Teenagerzeit für Karl Marx, dessen auf der Arbeitswerttheorie basierenden Kapitalismusanalyse er aber kritisch gegenübersteht. Marx hätte diese von Smith und Ricardo übernommene Theorie „eher verwerfen sollen, als sie ernsthaft zu verfolgen“. Sen widmet sich in einem ganzen Kapitel der Frage „Und was ist mit Marx?“, über die er später in Cambridge (UK) lange Debatten mit seinem Freund Maurice Dobb führte, einem bedeutenden marxistischen Ökonomen. Er hält die Marxsche Arbeitswerttheorie für keine adäquate Preistheorie, was Marx allerdings auch nie behauptet hat. Sens Interpretationen der Marxschen Ökonomie beruhen auf Missverständnissen, die sich nur auflösen lassen, wenn man Marx‘ auf Hegels Logik beruhendes Wissenschaftsverständnis kennt, wie Roman Rosdolsky in den 1960er Jahren anhand der erst Anfang der 1950er Jahre veröffentlichten Vorarbeiten von Marx zu seinem Hauptwerk Das Kapital zeigte.[2]
Intellektuelle Offenheit und Toleranz in Cambridge
Seine Hinwendung zur Ökonomie brachte Amartya Sen auf den Gedanken, sein Studium in England mit einer Promotion abzuschließen. Man empfahl ihm, nach Cambridge zu gehen, das in den 1950er Jahren als die beste Adresse für Ökonomen galt. Dort lehrten am Trinity College nicht nur enge Mitarbeiter des 1946 gestorbenen John Maynard Keynes wie Joan Robinson, Nicholas Kaldor und Piero Sraffa, sondern auch Keynes‘ neoklassischer Kontrahent Arthur Pigou, den Sen als mürrischen Misanthropen beschreibt. Für viele MAKROSKOP-Leser, vor allem, wenn sie Ökonomen sind, werden die Erzählungen aus seiner Cambridge-Zeit der spannendste Abschnitt von Amartya Sens Erinnerungen sein.
Ich gestehe, dass ich diese Schilderungen der Debatten am Trinity College mit einem gewissen Neid gelesen habe. Dort traf Sen auf eine akademische Elite, zu der nicht nur die oben genannten Ökonomen, sondern auch Ludwig Wittgenstein gehörte, einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Den Begegnungen mit ihm widmet Sen mehrere Seiten.
Amartya Sen erlebte in Cambridge Mitte der 1950er Jahre eine intellektuelle Offenheit und Toleranz, die sich gut mit einer von ihm erzählte Anekdote beschreiben lässt. Der marxistische Ökonom Maurice Dobb, mit dem Sen eng befreundet war, sollte eine feste Dozentenstelle am Trinity College erhalten. Er teilte dem Dekan des Colleges mit, dass er Mitglied der Kommunistischen Partei sei, und er es ihm nicht persönlich verübeln würde, wenn er ihm angesichts der antikommunistischen Stimmung im Land die Stelle nicht geben würde. Der politisch eher konservative Dekan antwortete ihm, seine KP-Mitgliedschaft interessiere ihn nicht. Er bitte aber darum, ihn zwei Wochen vorher zu informieren, wenn er beabsichtige, den Turm des Trinity Colleges zu sprengen. Man muss dabei wissen, dass die KP Großbritanniens eher eine Sammlung linker, zum Teil sehr dogmatischer Intellektueller war als eine Kaderpartei der Arbeiterklasse. Doris Lessing beschreibt diese Szene in Ihrem Roman Das goldene Notizbuch ebenso wie der Historiker Eric Hobsbawm in seinen Erinnerungen.
Amartya Sen pflegte besonders engen Kontakt zu Maurice Dobb und Piero Sraffa, den er als genialen Faulpelz und Bonvivant beschreibt. Sraffa sei ein fantastischer akademischer Lehrer gewesen, ausgestattet mit einem stupenden Wissen über die Ökonomie und deren Geschichte. Seine Lehrveranstaltungen müssen ein ganz besonderer intellektueller Genuss gewesen sein. Allerdings hat er sein enormes Wissen nach Sens Meinung in viel zu wenige Publikationen umgesetzt. Dazu hatte er keine Lust. Kann sein, dass Sraffa auch deshalb keine große akademische Karriere machte und heute nur unter wenigen Experten als Schöpfer eines Wachstumsmodells bekannt ist, das auf der von Karl Marx entwickelten Theorie der Reproduktion aufbaut. Eine akademische Karriere und die dazu gehörenden Publikationsrituale interessierten Sraffa nicht. Er unterstützte seinen besten, von den Faschisten ins Gefängnis geworfenen Freund Antonio Gramsci mit umfangreichen Buchlieferungen. Der hätte ohne die Unterstützung Sraffas seine in den berühmten Gefängnisheften verfasste Philosophie der Praxis kaum schreiben können. Außerdem war Sraffa ein engagierter Sammler von Kunst und Erstausgaben großer Werke, was er mir Erfolgen an der Börse finanzierte.
Weniger eng waren Sens Kontakte zu Joan Robinson, der Gralshüterin des Keynesianismus. Er entdeckte in seiner Zeit am Trinity College, angeregt durch den Ökonomen Dennis Robertson, die von Kenneth Arrow begründete Social Choice-Lehre, einer mathematisch geprägten Modernisierung der Wohlfahrtsökonomie von John Stuart Mil. Damit konnte Joan Robinson nichts anfangen. Sie verstand nicht, weshalb sich ein so begabter Ökonom wie Amartya Sen damit ernsthaft beschäftigen konnte. Sein Interesse an den Social Choice-Modellen und der Spieltheorie entfremdete Sen von den Cambridge-Ökonomen und ihren makroökonomischen Gebäuden der Geld- und Wachstumstheorie. Auch widersprach der zwischen Keynesianern und Neoklassikern erbittert geführte Streit seinem in der indischen Philosophie gründenden Harmoniebedürfnis.
Daher war sein Ende der 1950er Jahre vollzogener Wechsel zur Delhi School of Economics konsequent. Dort konnte er als Professor seinen Neigungen zur Wohlfahrtsökonomik und der Logik der rationalen Auswahl nachgehen, die er später in Harvard fortsetzte und ihm zu Weltruhm verhalfen. Aber darüber erfährt man in seinem aktuellen Buch leider außer kleinen Anmerkungen zu Gesprächen mit Kenneth Arrow, Paul Samuelson oder John Rawls kaum etwas. Man kann nur hoffen, dass Amartya Sen Zeit für eine Fortsetzung seiner Erinnerungen findet.
Amartya Sen: Zu Hause in der Welt – Erinnerungen. München 2022 (C. H. Beck), 479 Seiten.
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